KAPITEL 29
Das Telefonat mit Wilma hatte Sofia ziemlich erschüttert. Sie rief sofort ihre Eltern, Benjamin, Alma und sogar ihre ehemalige Chefin Edith Bergman an. Aber bei ihnen hatte sich niemand gemeldet. Da kam ihr der Gedanke, dass die Sekte ihre Anrufe vielleicht als neue Anhaltspunkte nutzen konnte, und sie beschloss, den Ball lieber flach zu halten. Hoffentlich suchten sie irgendwo in Italien nach ihr.
Das Leben in Palo Alto bekam langsam Routine. Morgens fuhr sie mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie fragte einen Kollegen, ob die Sonne dort immer schien und wie unter diesen Umständen überhaupt etwas wachsen konnte – und erfuhr, dass es vor allem in den Monaten Dezember bis März regnete. Und auf ihre Frage, ob es immer so heiß war, bekam sie die Antwort, dass die Hitze manchmal bis spät in den Oktober hineinreichte.
Die Abende verbrachte sie meistens am Pool, las Bücher im Liegestuhl und sprang immer wieder ins Wasser. Zwischendurch war es nachts so warm in ihrer Wohnung, dass sie ihre Matratze auf den Balkon legte, um dort zu schlafen. Dann wachte sie morgens vom Vogelgezwitscher auf. Die Vögel sangen offenbar nur in der Morgendämmerung, tagsüber verstummten auch sie in der Hitze.
Ihr neuer Arbeitsplatz war eine moderne, erst kürzlich errichtete Bibliothek, und sie hatte freundliche Kollegen, die ihr die Eingewöhnung erleichterten. Melissa Arbor bemühte sich mit großem Enthusiasmus auch um ihre sozialen Kontakte, lud sie auf Dinnerpartys ein und ging mit ihr zu Konzerten und in Musikclubs.
Das Fahrrad eignete sich hervorragend, um Palo Alto zu erobern. Manchmal fuhr sie den ganzen Tag durch die Stadt und entdeckte neue Viertel. Sie kam durch Villengegenden mit protzigen Häusern, die im Schatten riesiger Eichen, Ulmen und Ahornbäume standen und an deren Wänden sich blühende Kletterpflanzen rankten. Fast alle dieser Häuser waren von hohen Mauern umgeben, wie kleine Oasen.
Sie streifte durch Parkanlagen, umarmte die gewaltigen Stämme der Mammutbäume und legte den Kopf in den Nacken, um die Wipfel weit oben in dem immer blau wirkenden Himmel zu sehen. Sie liebte den Geruch von Pinien und Eukalyptus, der alles einhüllte. Oft schlenderte sie die University Avenue im Zentrum von Palo Alto hinunter, die eigentlich nur aus einer langen Reihe von Geschäften, Cafés und Restaurants bestand. Es überraschte sie, wie freundlich und zugewandt alle wirkten und wie häufig sie angelächelt wurde. Die Männer waren wesentlich direkter als in Schweden, und sie ließ sich auch das eine oder andere Mal von Studenten der Stanford University ausführen, genoss die Aufmerksamkeit, lehnte aber die eindeutigen Angebote immer dankend ab.
Hier fühle ich mich wohl, hier passe ich gut hin, hier könnte ich mir vorstellen zu leben, dachte sie.
Oft saß sie im Starbucks oder in Peet’s Coffee mit einem Becher Kaffee und surfte im Internet. Unterhielt sich mit anderen Gästen. Es war so leicht, ins Gespräch zu kommen. Du stammst aus Schweden? Oh, wow! Wie ist es da? Schneit es die ganze Zeit ?
Während ihrer Pausen im Café kümmerte sie sich um den Blog, aus Angst, dass man die Herkunft der Texte zurückverfolgen könnte. Und dann kam der Tag, an dem sie Oswalds E-Book kaufte und herunterlud. Dafür Geld zu bezahlen tat zwar weh, aber Simon hatte ihr doch kein Exemplar geschickt, und sie war einfach zu neugierig. Was sie am meisten überraschte, war, dass der Text sie nicht berührte. Die Lügen über seine Kindheit und Familie, sein Gefasel, wie er die Thesen entwickelte. Als sie das Kapitel las, in dem er von den bahnbrechenden Erkenntnissen erzählte, die er im Gefängnis gehabt und aus denen er neue Thesen entwickelt habe, musste sie sogar lachen, weil das alles so lächerlich und durchschaubar war.
Aber das änderte sich schlagartig, als sie den Absatz über sich selbst gelesen hatte. Mehrmals sogar, während sich eine lähmende Nervosität in ihr ausbreitete. Vor allem der letzte Satz: dass wir uns eines Tages unter anderen, besseren Umständen wiedersehen . Wie konnte er nur? Sie versuchte, einen bösen Beitrag für den Blog zu schreiben, aber es misslang ihr. Erst dann kam die dunkle, alles verschlingende Wut, dass er auch noch nach einer so langen Zeit diesen Einfluss auf sie hatte.
Sie lief unruhig in ihrer Wohnung hin und her und verpasste deshalb den betörenden Sonnenuntergang. Dann rief sie trotz der späten Uhrzeit Melissa an und fragte sie, ob sie ihr ein paar Tipps für Sehenswürdigkeiten in San Francisco geben könnte. Melissa bot sich sofort an, Sofia bei dem Ausflug zu begleiten und ihr alles zu zeigen.
Am nächsten Tag fuhren sie mit dem Zug in die Stadt und waren in weniger als einer Stunde in San Francisco. Sie besichtigten alle üblichen Touristenziele, liefen über die Golden Gate Bridge und schoben sich mit den anderen Besuchern durch das Hafenviertel Fisherman’s Wharf. Sie setzten sich ans Ende einer der Piers, beobachteten Robben, aßen eine sämige Muschelsuppe in Schalen aus Brot und blieben bei den Straßenmusikern stehen. Sie gingen auch shoppen und beendeten den Tagesausflug mit einem Abendessen in Chinatown.
Sofia war von den vielen neuen Eindrücken so erschöpft, dass sie dankend ablehnte, als Melissa sie einlud, sie am nächsten Tag zu einem Baseballmatch zu begleiten.
Ihren nächsten Ausflug nach San Francisco meisterte sie allein. Sie nahm ihr Fahrrad mit und fuhr ziellos durch die Stadt. Schob das Rad so oft die steilen Hügel hoch und rollte auf der anderen Seite mit schwindelerregender Geschwindigkeit wieder hinunter, bis sie schließlich am Wasser war. Das Meer war auf dieser Seite tiefer und gewaltiger. Sie setzte sich an den Strand und genoss die frische Brise. Dann rollte sie sich ihre Hose hoch und steckte die Füße ins Wasser. Es war eiskalt, und die Wellen zogen ihr fast den Boden unter den Füßen weg. Enttäuscht setzte sie sich wieder in den Sand, zog die Beine hoch, legte die Arme um sie und sah einem Hund zu, wie der sich immer wieder in die Wellen warf, um einen Stock zu apportieren. Man konnte den Horizont nicht scharf erkennen, er verschwand in einem Nebelstreifen, der immer blasser wurde und in den weißen Himmel überging.
Da setzte sich ein Mann neben sie in den Sand. Um die vierzig, schulterlanges, sonnengebleichtes Haar, braun gebrannt mit tiefen Falten um Augen und Mund.
»Ist das nicht unglaublich, da haben wir diese Schönheit direkt vor der Tür und können nicht darin baden! Ich habe es auch versucht, aber es ist schweinekalt.«
»Ist das Wasser immer so eisig? «
»Ja, meistens schon. Obwohl es jetzt im Herbst wärmer ist als im Sommer.«
»Und warum das?«
»Im Sommer bildet sich abends dichter Nebel, der die ganze Stadt einhüllt und die Temperaturen deutlich senkt. Dann wird es hier an der Küste etwa fünf bis zehn Grad kälter als im Landesinneren. Kommen Sie aus Schweden?«
»Kann man das so deutlich hören?«
»Ja, ich mag den Akzent. Wie kann das sein, dass ihr Schweden so gut Englisch sprecht?«
»Fernsehen und Musik, wir surfen viel auf amerikanischen Seiten rum und so.«
Sie kamen ins Plaudern, Orson King war ein angenehmer Gesprächspartner, und ehe sie es sich versah, hatte sie ihre Geschichte erzählt.
»Ich habe sie schon vorher gekannt«, gestand er. »Ich habe ein bisschen geschummelt.«
Ihr Herz blieb stehen. Jetzt haben sie mich doch gefunden. Jetzt ist alles vorbei.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte King, als er ihren panischen Gesichtsausdruck sah. »Ich lese einfach alles, was ich weltweit über Sekten finde. Und über Sie und dieses Schwein Oswald stand etwas in einer amerikanischen Zeitung. Ich arbeite in einer Einrichtung für Aussteiger, die befindet sich im Landesinneren. Ich habe Sie gleich wiedererkannt.«
»O Gott, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt! Ich dachte schon, Sie sind ein Privatdetektiv, den man mir auf den Hals gehetzt hat.«
»Nein, das Gegenteil ist der Fall. Mehr Anti-Sekte als ich kann man wahrscheinlich nicht sein. Es wäre großartig, wenn Sie mal bei uns vorbeikämen und den Jugendlichen dort Ihre Geschichte erzählten. Ich glaube, das würde denen gefallen.«
»Aber vielleicht macht es ihnen auch nur noch mehr Angst, wenn sie hören, was ich erlebt habe.«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass sich ihre Probleme dann ein wenig relativieren und nicht mehr so übermächtig erscheinen. Damit sie neue Kraft bekommen, um weiterzukämpfen.«
»Aber dann möchte ich anonym bleiben, niemand darf davon erfahren, dass ich da war.«
»Das können wir einrichten.«
Und so kam es, dass Sofia eines Samstags in die Einrichtung von Orson King fuhr, um sich mit jugendlichen Sektenaussteigern zu unterhalten. Das Haus lag in einem grünen Tal mitten in der Wüste, umringt von einer unwirtlichen Landschaft aus Sand, kaktusähnlichen Gewächsen und Steppenläufern. Das Wohnhaus war so rot gestrichen wie ein schwedisches Sommerhaus und wirkte in dieser kargen Gegend irgendwie fehl am Platz. Auf einer Koppel standen Pferde und rupften an dem nicht vorhandenen Gras herum. Es war ganz still, als Orson und Sofia aus dem Wagen ausstiegen. Viel zu still.
»Einige unserer Jugendlichen haben eine schwere Zeit«, sagte King. »Sie kämpfen gegen ihre religiösen Überzeugungen, die ihnen ein Leben lang eingetrichtert wurden und die sie nie gewagt haben, infrage zu stellen.«
Er zeigte ihr den Stall und das Wohnhaus. Dort lebten fast ausschließlich Jugendliche. Sie begegneten Sofia mit Neugier, einige lächelten vorsichtig, einige sahen auch weg. Sie erkundigte sich nach den Eltern der Kinder, und King berichtete, dass sie alle in ihren Sekten geblieben sind. » Shunning« nannte man es, wenn die eigene Familie einen verstieß.
Sie versammelten sich im Speisesaal, etwa zwanzig Jugendliche, King, eine Betreuerin und Sofia, die ihre Geschichte erzählen sollte. Aber die Bilder, die dabei entstanden, schienen jemand anderem zu gehören, nicht mehr ihr. Ihre Zuhörer waren gebannt. Danach schloss sich eine Fragerunde an. Ein rothaariger, sommersprossiger Junge, der Sofia an eine jüngere Version von Benjamin erinnerte, meldete sich.
»Stimmt es, dass Elvira nicht zur Beerdigung ihrer Mutter gehen durfte?«
Sofia war von dieser Frage so überrumpelt, dass sie erst kein Wort herausbekam.
»Woher weißt du von Elvira?«
Ein dünnes Mädchen um die fünfzehn mit großen Augen und schmalen Lippen erhob sich.
»Ich bin eine halbe Schwedin oder wie man das nennt. Meine Mutter kommt aus Schweden, mein Vater aus den USA. Ich habe Teile von Elviras Blog übersetzt, damit es hier alle lesen können. Uns gefiel der so gut. Was ist aus ihr geworden?«
In Sofias Innerem fand ein unsichtbarer Kampf statt. Sollte sie die Wahrheit erzählen und damit vielleicht die letzte Hoffnung dieser jungen Menschen zerstören, oder sollte sie sich schnell eine glaubwürdige Lüge ausdenken? Aber dann musste sie diesen Kampf doch nicht selbst austragen, das übernahm der Junge mit den Sommersprossen, der heftig den Kopf schüttelte.
»Sie ist zurück zur Sekte gegangen, stimmt’s? Sie hat aufgegeben. Was sollte sie auch tun mit den Babys. Sie hatte gar keine andere Wahl. «
»Man hat immer eine Wahl«, entgegnete Sofia. »Aber Elvira hat trotzdem einen Sieg errungen. Sie ist jetzt versorgt und muss dafür kein Sektenmitglied mehr sein. Und den Kindern geht es gut.«
»Klar, aber die werden hundertprozentig als ViaTerra-Kinder großgezogen«, sagte das Mädchen. »Und das ist überhaupt nicht gut.«
»Nein, das ist es nicht«, nickte Sofia. Am liebsten hätte sie noch gesagt, was für ein Glück die Mädchen unter ihnen hätten, nicht von einem der Sektenführer schwanger zu sein, aber dann überlegte sie es sich anders.
Eine andere junge Frau, etwas älter als die Halbschwedin, hatte still im hinteren Teil des Raumes gesessen und stand jetzt auf.
»Wir wissen, dass Sie auch einen Blog schreiben. Wir wollen den gern lesen, aber das ist mit dem Schwedischen nicht so einfach. Könnten Sie nicht Teile davon übersetzen? Es gibt doch Google Translate, es wäre wirklich toll, wenn wir Ihnen folgen könnten.«
»Das kann ich gern machen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr die Blogs … Ich hatte keine Ahnung, dass es euch … dass es so eine Einrichtung gibt.«
Plötzlich kam ihr der Gedanke, wie unvorsichtig ihr Verhalten war. Wie groß die Gefahr war, dass einer der Jugendlichen etwas ausplauderte und von ihrem Besuch erzählte.
»Ich hoffe, ihr versteht, dass niemand erfahren darf, dass ich hier gewesen bin.«
Der junge Benjamin fing an zu lachen.
»Was glauben Sie denn? Ich kann Ihnen versichern, dass es hier keinen einzigen Oswald-Fan gibt. Außerdem würde Orson uns umbringen, würden wir den kleinsten Piep von uns geben. «
Ein befreiendes Lachen füllte den Saal. Das war ein hervorragender Moment, um ihren Vortrag zu beenden.
Es war bereits dunkel, als sie aufbrachen. Zum Abschluss hatten sie auf einer Bank im Garten gesessen, den Sternenhimmel angesehen und der Serenade der Grillen gelauscht. Eine Sternschnuppe löste die nächste ab. Die Luft war trocken, kühl, und bald würde es noch kälter werden. Sie dachte an die Jugendlichen, an den Verrat der Eltern an ihren Kindern. Es berührte sie tief, dass sie Elviras Blog gefunden und ihn gelesen hatten.
»Dass so etwas passieren kann«, sagte sie. »Dass Eltern ihre eigenen Kinder verstoßen. Ich habe mich vorhin so ohnmächtig gefühlt.«
King schwieg eine Weile.
»Dieser Job hier hat mir meinen letzten Funken Respekt vor Religionen genommen«, sagte er. Sie konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht sehen. Er roch stark nach Tabak. Nicht unangenehm, aber es bildete einen starken Kontrast zu dem süßen Duft von Akazien, der vorbeizog.
»Ach, entschuldigen Sie bitte, da bin ich gerade etwas schwermütig geworden. Es war großartig, dass Sie uns hier besucht und mit den Kids gesprochen haben. Das hat denen sehr gefallen, das kann ich Ihnen versichern.«
»Es war auch für mich ein tolles Erlebnis. Obwohl es mir ein Rätsel ist, wie man einem Kind erklären soll, dass die eigenen Eltern es nicht haben wollen. Kann man ihnen denn überhaupt helfen?«
»Doch«, sagte er. »Wir können ihnen dabei helfen, den Weg ins wirkliche Leben zurückzufinden.«
Bevor Orson sie vor ihrem Haus absetzte und sich verabschiedete, gab er ihr ein paar Informationsblätter und Broschüren über die Einrichtung mit sowie eine Telefonnummer, unter der sie ihn erreichen konnte.
»Sollte Ihnen wider Erwarten etwas zustoßen oder wenn Sie Hilfe brauchen, dann rufen Sie mich an«, gab er ihr mit auf den Weg.
Sie hatte gerade die Wohnungstür hinter sich geschlossen, als Benjamin anrief.
»Ich liebe dich, Sofia«, hauchte er in den Hörer.
»Ich liebe dich auch. Zwischen uns hat sich nichts geändert.«