KAPITEL 32
Sie spürte ihn. Seinen Blick. Wie ein Magnet zog er sie an, vom anderen Ende des Raumes. Sofia musste nicht einmal den Kopf heben, sie wusste, dass er sie ansah. Seit drei Tagen kam er in die Bibliothek, setzte sich mit einer Zeitung in die Leseecke und tat so, als läse er. In Wirklichkeit aber ließ er sie nicht aus den Augen und folgte jeder ihrer Bewegungen.
Unter normalen Umständen wäre sie zu ihm gegangen und hätte ihn gebeten, mit dem Starren aufzuhören. Aber sein Verhalten hatte nichts Bedrohliches, und er sah ausgesprochen gut aus. Halb langes, leicht zerzaustes Haar. Augen, die ziemlich sicher blau waren. Elegante Gesichtszüge, die Nase war etwas lang, aber seine Lippen waren voll und sinnlich. Seine Ausstrahlung wirkte lässig und träge. Er schien selbstbewusst und zufrieden zu sein. Außerdem hatte Sofia das Gefühl, dass sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen durfte.
Der Winter in Kalifornien hatte ihre Erwartungen übertroffen. Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand, sie hatte Freunde gefunden, und die Sonne schien fast immer von einem blauen Himmel. Nur der Morgennebel hüllte Palo Alto täglich ein, löste sich aber in der Sonne langsam auf. Der Niederschlag kam erst Ende Januar, in Form eines hartnäckigen Starkregens, der ein paar Wochen anhielt.
Dann aber kam die Sonne zurück. Sofia war in einem Glücksrausch, den sie seit der Zeit in der Sekte so nicht mehr erlebt hatte. Die Tage waren lang und warm, die Nächte kurz und mild. Ihre Alpträume waren verschwunden. Jetzt brauchte sie nur noch das berühmte i-Tüpfelchen. Sie wollte etwas Besonderes erleben, bevor sie wieder nach Schweden zurückkehrte. Etwas Aufregendes, Unanständiges.
Und ausgerechnet da tauchte dieser gut aussehende Typ in ihrem Leben auf, setzte sich in die Leseecke und warf ein Auge auf sie.
Sie versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie musste die Neuzugänge einarbeiten. Da hörte sie ein Räuspern und sah auf. Er stand direkt vor ihr. Seine Augen waren definitiv blau. Als sie sein freches Grinsen sah, schoss ihr die Röte ins Gesicht.
»Du bist Schwedin, stimmt’s?«, sagte er auf Schwedisch.
Ihr Herz sank ihr in den Magen.
Sie nickte. Versuchte, sich professionell zu verhalten, als hätte er nach einem Buch gefragt.
»Womit kann ich helfen?«
»Ich habe ein massives Problem. Ich kann nicht aufhören, dich anzusehen.«
Sie lachte. Was für ein Klischee. Es war ihr ein bisschen peinlich, mit so einem hollywoodreifen Satz angemacht zu werden.
»Dann würde ich lieber zu einem Optiker gehen. Ich habe grad zu tun.«
Er streckte ihr seine Hand hin, automatisch griff sie danach.
»Mattias Wilander, Göteborg.«
Sie wollte ihre Hand wegziehen, aber er hielt sie fest. Seine Dreistigkeit befremdete sie, sie ging einen Flirt lieber langsam an. Verstohlene Blicke, zufällige Berührungen, so was eben. Aber er kam gleich zur Sache .
Trotzdem war es aufregend, dass sie sich begegnet waren. Ihr erster Schwede, den sie hier in Kalifornien traf.
Sie versuchte ihn mit Blicken zum Gehen zu bewegen. Aber er blieb unverwandt vor ihr stehen. Sie hatte das ungute Gefühl, dass er gefährlich war. Genau der Typ, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Wie Oswald und Ellis. Männer, die ihr Leben am Ende immer als Trümmerhaufen zurückließen.
»Verzeih, dass ich so dreist bin«, sagte er. »Du bist mir sofort aufgefallen, als ich dich vor ein paar Tagen das erste Mal gesehen habe. Ich habe sofort eine große Anziehung gespürt. Als wären wir uns schon einmal begegnet. Sind wir das vielleicht wirklich? Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Das glaube ich nicht.«
»Wie lange lebst du schon hier?«
»Fast acht Monate.«
»Ich bin ganz neu hier. Bin erst vor ein paar Wochen gekommen und fühle mich noch ein bisschen verloren und könnte ein paar Tipps gebrauchen. Clubs, in denen sie gute Musik spielen. So was. Können wir später nicht was zusammen essen gehen?«
Du hast dir ein Versprechen abgenommen.
Du hast Benjamin ein Versprechen gegeben.
Keine Affäre, kein Seitensprung in der Zeit, in der du hier bist!
Aber essen gehen war doch nicht verboten. Es war schließlich kein Vergehen, Leute kennenzulernen.
Er wartete, bis sie Feierabend machte. Dann gingen sie in ein Café ganz in der Nähe. Es machte Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Er hatte vor Kurzem erst sein Examen in Psychologie gemacht, ein Sabbatjahr eingelegt und wollte nun ein paar Monate in Palo Alto verbringen. Allerdings hatte er keine einzige Kontaktadresse, wollte auf eigenen Beinen stehen.
»Eigentlich bin ich ein ziemlicher Langweiler. Ein richtiger Bücherwurm. Ich hatte das ewige Saufen und Vögeln satt. Entschuldige meine Wortwahl.«
Ein Schauer lief durch ihren Körper.
»Ich bin entweder an oder aus«, fuhr er fort. »Entweder will ich es ganz entspannt und easy oder ich gehe bis ans Äußerste, suche meine Grenze. So will ich leben.«
Sie gab ihm wie gewünscht ein paar Tipps für Palo Alto und San Francisco, aber er wollte am liebsten nur über sie sprechen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Mann kennengelernt zu haben, der so an ihrem Leben interessiert war. Nicht einmal Benjamin.
Und als sie sich verabschiedeten, bedankte er sich für den Abend und ging. Er fragte weder nach ihrer Nummer noch nach einem nächsten Date, was ein schales Gefühl in ihr hinterließ.
An diesem Abend konnte sie nicht einschlafen, wollte aber auch nicht bei Benjamin anrufen. Am Ende entschied sie sich, sich bei Ellis über Skype zu melden, weil sie mit ihm schon länger nicht mehr gesprochen hatte. Ellis freute sich über den Anruf und redete wie ein Wasserfall. Er hatte eine neue Datingplattform ins Leben gerufen, die »FeelYou« hieß. Die Idee dahinter war, sich ohne viele Worte und Fotos kennenzulernen. Man richtete ein Konto ein und gab lediglich Geschlecht und Alter an. Dann suchte man sich ein Wort, das einen charakterisierte. Wer anbiss, antwortete ebenfalls mit nur einem Wort, und dann warf man sich gegenseitig den Ball zu, bis gute oder schlechte Vibes entstanden. Verblüffenderweise waren mithilfe dieses Portals viele glückliche Beziehungen entstanden, und Ellis hatte damit schon ein kleines Vermögen verdient. Sofia sollte sich unbedingt die aktuelle Ausgabe der Computerzeitschrift Wired kaufen, weil da ein Artikel über ihn drinstünde.
Das klang so großartig, da wollte Sofia auch was erzählen und schilderte ihm deshalb die Geschichte mit Mattias.
»Ach, komm, mach dich locker, da ist doch nichts dabei«, war Ellis’ Reaktion. »Du bist erst dreiundzwanzig, hab ein bisschen Spaß, Sofia. Du bist verdammt noch mal sexy. Du willst doch keine alte Schachtel werden, die Benjamin ewige Treue schwört? Diese Sekte hat dir in den Kopf gesetzt, dass du leben musst wie eine Nonne.«
Obwohl dieser Ratschlag von jemandem kam, der eine etwas problematische sexuelle Vergangenheit hatte, war die Wirkung tröstlich.
Mattias kam am nächsten Tag nicht in die Bibliothek, was Sofia sehr enttäuschte. Unaufhörlich starrte sie in die Leseecke und wurde richtig wütend, als sich ein übergewichtiger Mann auf den Sessel setzte, auf dem Mattias immer gesessen hatte. Als sie nach der Arbeit das Gebäude verließ, stand er draußen und wartete auf sie. Mit einem frechen Grinsen im Gesicht lehnte er sich gegen einen Baum. Er trug Jeans und Lederjacke. Seine Augen waren so blau, dass sie sich fragte, ob er vielleicht gefärbte Kontaktlinsen benutzte. Er nahm ihre Hände in die seinen. Was hatte er für ein unwiderstehliches Lächeln.
Das ist jetzt der Moment, wo ich dankend ablehnen muss, dachte sie. Wenn ich es nämlich nicht tue, geht alles den Bach runter. Am liebsten hätte sie zwei parallele Leben geführt. Das eine hätte sie mit Benjamin verbracht, und in dem anderen hätte sie sich auf diesen Fremden eingelassen und ihre wildesten sexuellen Fantasien ausgelebt. Aber man konnte nur ein einziges Leben führen. Und Benjamin war so weit weg.
»Ich habe ein Auto gemietet«, verkündete Mattias. »Komm mit, wir fahren an die Half Moon Bay und gehen dort am Meer spazieren.«
»Ich muss morgen arbeiten.«
»Wir bleiben doch bloß ein paar Stunden. Ich lade dich zum Essen ein.«
Sie hatte bisher nur gehört, wie schön es in Half Moon Bay war. Das klang verführerisch.
»Verzeih, dass ich gestern so aufdringlich war«, sagte er, als sie im Auto saßen. »Wir lassen es ganz langsam angehen, okay? Bis auf Weiteres.«
Warum erzähle ich nichts von Benjamin?, fragte sie sich. Ich habe doch sonst nie Probleme, was zu sagen.
»Woran hast du erkannt, dass ich Schwedin bin?«, fragte sie stattdessen.
»Dein Akzent. Ich hab dir zugehört, wenn du mit den Besuchern gesprochen hast.«
Der Weg durchs Land ans Meer schlängelte sich in scharfen Kurven zwischen riesigen Mammutbäumen hindurch, deren würziger Geruch durch die halb geöffneten Fenster drang.
Half Moon Bay war in einen sonnigen Dunst gehüllt, der die Landschaft mit einem sanften, zarten Glanz überzog. Sie gingen an der Strandpromenade spazieren, setzten sich auf eine Bank und sahen auf das offene Meer hinaus, das in der Sonne glitzerte. Ein paar Pelikane flogen wie Segelflugzeuge vorbei und landeten draußen auf dem Wasser. Die Wellen waren groß und warfen die Surfer immer wieder von ihren Brettern.
»Ich surfe auch«, sagte er. »Deswegen bin ich auch schon ein paar Male hier gewesen. Kennst du Mavericks? Das sind enorme Wellen, die sich hier in der Nähe im Winter in etwa drei Kilometern Entfernung vom Strand bilden. Der Ort heißt Pillar Point Harbor und liegt nördlich von hier. Die Wellen dort werden bis zu sieben Meter hoch. Jedes Jahr finden dort Wettkämpfe mit den besten Surfern der Welt statt. Aber man kann da nur mitmachen, wenn man eingeladen wird. Ich habe immer davon geträumt, da einmal teilnehmen zu dürfen. Ich kann dir Surfen beibringen, wenn du magst.«
»Gerne, das wär cool.«
Welcher Teufel hatte sie da gerade geritten, sie hatte sich noch nie fürs Surfen interessiert. Aber in seiner Nähe war es ihr fast unmöglich, klar zu denken. In seiner Gegenwart fühlte sie sich anders. Schwindlig und albern. Als wären alle Grenzen aufgehoben. Surfen? Klar, warum nicht gleich Fallschirmspringen, wenn wir schon mal dabei sind?
»Aber warum bist du eigentlich nach Palo Alto gekommen?«, fragte er. »Nur wegen des Jobs?«
Sie zögerte. Sie hatte eigentlich das sichere Gefühl, ihm vertrauen zu können. Vielleicht weil er so unkompliziert war. Ohne Vorurteile. Sie bekam schon einen roten Kopf, bevor sie den ersten Satz nur gesagt hatte.
»Das ist ein bisschen kompliziert. Das darfst du nicht auf Facebook oder Twitter oder so posten. Ich bin vor einer Sekte geflohen.«
Er lachte laut auf.
»Dafür musst du dich doch nicht schämen. Sind wir nicht alle in einer Art Sekte? Hey, wir beide könnten doch auch eine gründen. «
Lange blieben sie auf der Bank sitzen und redeten. Der Wind ließ nach, die Wellen wurden schwächer, und am Ende blieben nur kleine Schaumkronen. Die Sonne versank blutrot zwischen zarten Wolken, schickte rotgoldene Strahlen, die auf dem Wasser schimmerten. Als die Sonne im Meer versank, nahm er einen tiefen Atemzug und seufzte. Dann zog er sie an sich. Sie spürte seine Wärme, wollte ihre Hand auf seine legen. Aber in diesem Moment stand er auf und fragte, ob sie jetzt was essen gehen wollten.
Auch im Restaurant war er sehr zurückhaltend. Nur ein einziges Mal fasste er sie an, eine flüchtige Berührung mit der Hand an ihrem Oberschenkel unterm Tisch. Sie war so zart und kurz, dass es auch Einbildung hätte sein können. Und dass sie in Wirklichkeit mit dem Bein an das Tischtuch gekommen war.
Auf dem Nachhauseweg saßen sie schweigend im Auto, aber es war ein angenehmes Schweigen. Er brachte sie nach Hause, sie tauschten Nummern aus, und er strich ihr mit dem Finger über die Nase und küsste sie auf den Mund. Ein kurzer, vorsichtiger Kuss mit kühlen Lippen. Aber der zündete ein Feuerwerk in ihrem Inneren.
Der Druck auf ihrer Brust wurde immer größer, sie musste Benjamin anrufen, obwohl sie wusste, dass er bei der Arbeit war. Er klang gereizt.
»Du, ich sitz grad im Auto, Sofia. Ich kann jetzt nicht sprechen.«
»Nur eine Minute, bitte.«
»Ja, was gibt es denn?«
»Sag, könntest du dir vorstellen, eine offene Beziehung zu führen?«
»Wie bitte? «
»Ich meine, ob wir auch mit anderen zusammen sein können. Und dass wir als Paar eine kleine Pause machen?«
»Spinnst du? Hast du jemanden kennengelernt?«
»Nein, es ist noch überhaupt nichts passiert! Also, nichts Ernstes!«
»Wie kannst du anrufen und mir so was sagen?«
»Tschuldige, aber könntest du dir vorstellen, dass wir das schaffen?«
»Niemals. Du kannst mich mal«, brüllte er und legte auf. Sie fing an zu weinen, fühlte sich schlecht und schämte sich. Eine kleine Verschnaufpause wäre für ihre Beziehung bestimmt das Richtige. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und schickte ein kleines Stoßgebet zum Himmel, bat um Hilfe, die richtige Entscheidung zu treffen. Eine Antwort kam prompt, denn das Telefon klingelte.
»Wir haben gewonnen!«, rief Simon.
»Was?«
»Wir haben den Wettbewerb gewonnen.«
»Oh, herzlichen Glückwunsch, Simon!«
»Ja, danke. Ich hab so viel Geld bekommen, das ist mir richtig peinlich. Und deswegen habe ich mir gedacht, dass ich dich in San Francisco besuche.«