KAPITEL 33
Sie flohen durch den Wald. Anna versuchte, mit Simon Schritt zu halten, stolperte immer wieder, rappelte sich aber sofort auf und schnaubte nur, als er fragte, ob er langsamer laufen sollte.
In Simons Apartment angekommen warf sich Anna keuchend aufs Sofa. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte, er kannte Anna doch kaum. Damals in der Sekte hatte er fast keinen Kontakt zu ihr gehabt, sie war eine wunderschöne junge Frau mit hohen Wangenknochen, Stupsnase, dunklen Augen und langen, schwarzen Wimpern in einem Gesicht, das gerahmt war von einem Wasserfall aus dunkelblonden Haaren, die sie sich immer strähnchenweise um den Finger wickelte. Für ihn war sie unerreichbar und unzugänglich gewesen, hatte fast unterkühlt gewirkt. Aber kaum war sie wieder zu Atem gekommen, entdeckte er eine andere Seite an ihr, die ihm gefiel. Sie begann zu erzählen und hörte nicht mehr auf.
»Madde hat vollkommen den Verstand verloren. Ich sag es dir, die ist wirklich verrückt geworden. Obwohl wir alle wissen, dass er
ihr die Befehle gibt. Sie hat ihn im Gefängnis besucht. Und Oswalds Anwältin, diese Callini, ist bei uns vorbeigekommen und hat herumgepoltert, als würde ihr das alles gehören. Das ist voll der Nazistil. Überall hängen Fotos von Oswald, und wir müssen uns davor aufstellen und ihm zujubeln, bevor wir schlafen gehen. Irgendein unmusikalischer
Idiot hat ein Kampflied mit dem Titel ViaTerra wird siegen
geschrieben, das wir bei der Morgenversammlung unisono krächzen. Klingt schrecklich.
Und seine Biographie mussten wir ungefähr hundert Mal durchlesen, und dann kam Madde und hat überprüft, ob wir alles verstanden haben, und wer es nicht kapiert hat, der musste vom Felsen springen. Obwohl es so kalt ist. Der Tagesablauf ist auch geändert worden, wir dürfen jetzt nur noch fünf Stunden pro Nacht schlafen. Und wenn man verschläft, gibt es eine Woche lang Reis und Bohnen.«
Simon legte eine Hand auf ihre Schultern, versuchte sie zu beruhigen. Aber sie konnte nicht aufhören.
»Außerdem hat Franz angeordnet, dass wir das Marschieren lernen, als eine Art disziplinarische Maßnahme. Deshalb mussten wir mehrmals am Tag über den Hof gehen – also marschieren. Das musste alles im Takt passieren, als geschlossenes Team. Wir Frauen mussten dabei hochhackige Schuhe tragen, das sieht total gestört aus.«
Simon versuchte es noch einmal, aber sie ließ sich nicht beirren.
»Sobald er zurückkommt, wird es neue Regeln geben. Wenn wir ihm dann über den Weg laufen, müssen wir salutieren. In seinen Augen ist es unsere Schuld, dass die Medien negative Dinge über ihn schreiben. Wir haben deshalb alle Schulden bei ihm, nämlich in Höhe von fünfzig Stunden, du kennst ja seine Wiedergutmachungsprojekte. Und zwar jeder von uns. Wir müssen seine Hemden bügeln, seine Zimmer putzen und ihm außerdem von unserem knappen Lohn, den wir sowieso nur selten ausgezahlt bekommen haben, ein Willkommensgeschenk kaufen. Eine wahnsinnig teure Kamera mit Objektiv und allem Drum und Dran. Nicht zu vergessen, dass wir Tag und Nacht schuften, um das Herrenhaus
und das Anwesen auf Vordermann zu bringen. Wir haben sogar die Türklinken poliert.«
»Ja, das hat Jacob mir schon erzählt«, sagte Simon. »Du musst hungrig sein. Jetzt essen wir was, und danach kannst du weitererzählen.«
Anna verstummte für eine Weile, nachdem Simon aus der Pensionsküche Essen geholt hatte. Sie schien schon lange nichts mehr bekommen zu haben, denn sie verschlang ihre Portion und Simons halbe noch hinterher.
»Aber das Schlimmste werden seine neuen Richtlinien sein«, sagte sie, als sie alles aufgegessen und hinter vorgehaltener Hand aufgestoßen hatte. »Die hat er im Gefängnis verfasst. Und darin geht es darum, wie man die Feinde von ViaTerra bekämpfen kann. Er hat geschrieben, dass jede Methode erlaubt ist, um die Gegner zum Schweigen zu bringen, denn sie seien der Abschaum der Erde.«
»Aber sag mir, Anna, wie lange geht es dir schon so? Wie lange weißt du schon, dass seine Lehre nicht richtig ist?«
Da fing sie an zu weinen und zu schluchzen, während er ratlos danebenstand. Er fühlte sich immer so unbeholfen und ohnmächtig, wenn Frauen weinten. Er wusste nicht, wie man sie tröstete.
»Ich weiß nicht«, schniefte sie. »Ich weiß auch jetzt nicht, was richtig ist und was falsch. Ich weiß bloß, dass ich das nicht länger aushalte.«
»Eins nach dem anderen, okay?«, beruhigte Simon sie und setzte sich dann neben sie. »Jetzt gehst du duschen, und dann schläfst du dich aus. Du siehst müde aus. Morgen gebe ich dir was zum Lesen. Ein paar Artikel und Seiten im Internet, damit du dir ein eigenes Bild von alldem machen kannst.
«
Als Anna in Simons Morgenmantel aus dem Badezimmer kam, stürmte Inga Hermansson herein. Normalerweise klopfte sie immer an, aber jetzt hatte sie etwas Wichtiges zu verkünden und es darum vergessen.
»Simon, ich habe gerade eine Mail mit Fragen geschickt bekommen. Wir sind eindeutig in der engeren Wahl.«
Sie zuckte zusammen, als sie Anna sah.
»Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast. Oh Simon, du hast eine Freundin, wie schön!«
»Sie ist nicht meine Freundin. Sie ist eine Aussteigerin. Von ViaTerra.«
Diese Information löste etwas ganz anderes in Inga Hermansson aus. Sie umarmte Anna warm und innig. Das hätte er vielleicht auch machen sollen, ging Simon durch den Kopf. Inga stürmte wieder aus dem Zimmer und kam wenige Minuten später mit einer heißen Suppe, einem Nachthemd, Anziehsachen und einer Zahnbürste zurück.
Anna schlief auf Simons Sofa und wachte erst auf, als er am nächsten Vormittag nach dem Rechten sah. Die Suche nach ihr lief auf Hochtouren, er hörte Hundegebell und Schreie aus dem Wald und Motorräder, die durch den Ort patrouillierten.
Inga Hermansson kam ins Gewächshaus und erzählte, dass sich ein Mann in Wachuniform nach Anna erkundigt habe. Aber niemand fragte Simon, was er etwas befremdlich fand. Er wusste, warum sie Anna unbedingt finden wollten. Sie hatte für Oswald gearbeitet und kannte einige seiner Geheimnisse. Außerdem war sie eine schöne Frau, und die Medien würden sich auf ihre Geschichte stürzen. Oswald hatte bestimmt keine Lust auf eine zweite Sofia Bauman. Und ausgerechnet er hielt sie bei sich versteckt und konnte noch nicht einordnen, ob ihm das gefiel. Am liebsten hatte er
seine Ruhe. Er musste versuchen, Anna zu beschäftigen und sie an einem Ort unterzubringen, an dem sie sich sicher fühlte. Als er sich aber nach ihren Eltern erkundigte, winkte sie ab. Sie schämte sich zu sehr, um jetzt schon Kontakt mit ihnen aufzunehmen.
»Wofür schämst du dich denn?«
»Für mein Versagen. Sie haben mich so oft gewarnt, aber ich habe ihnen nicht zugehört. Habe ihnen Hunderte von Briefen geschrieben und davon geschwärmt, wie toll es auf ViaTerra ist. Wenn ich jetzt nach Hause gehen würde, wäre ich wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz.«
»Anna, das ist denen doch egal. Die freuen sich nur darüber, dass du ausgestiegen bist.«
»Ja, vielleicht hast du recht – darf ich trotzdem noch ein paar Tage hier bei dir bleiben?«
Simon konnte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen. Er gab ihr seinen Rechner, als er zur Arbeit ging, damit sie im Netz und in Sofias Blog alles über ViaTerra lesen konnte. Er gab ihr auch die Zeitungsartikel, die er gesammelt hatte. Nach der Lektüre wirkte Anna verändert, lebhafter. Aber sie verbrachte auch die nächsten Tage in Inga Hermanssons Nachthemd und schlief zwölf Stunden am Stück.
»Ich weiß etwas, was dir vielleicht helfen könnte«, sagte er. »Sofia hat es zumindest geholfen. Schreib deine Geschichte auf, von Anfang bis Ende. Von deiner ersten Berührung mit ViaTerra bis zum Tag deiner Flucht.«
Als er nach der Arbeit nach Hause kam, saß Anna noch immer am Rechner. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte übers ganze Gesicht.
»Das hier ist doch verrückt!«
»Allerdings! Wenn du fertig bist, können wir deinen Text hochladen. Anonym, wenn du willst. Wir können ihn auch
als Kommentar auf Sofias Blog posten. Du kannst ihn ja in mehrere Teile splitten und einen pro Tag veröffentlichen.«
Mit großem Interesse las Simon Annas Bericht. Besonders den Abschnitt über das Sofia-Bauman-Projekt. Sie erzählte, dass Franz Oswald das Projekt im Gefängnis formuliert hatte. Niemand außer den Wachen des Sicherheitspersonals und der Ethikchef durften das Dokument lesen. Als das Projekt nicht so lief wie gewünscht, hatte er seine Anwältin Callini angewiesen, die Wachen rauszuwerfen, und das Projekt selbst in die Hand genommen. Es ging das Gerücht, dass er Privatdetektive und andere Mittelsmänner für die Aufgabe angeheuert hätte. Simon fragte sich ernsthaft, wie man so etwas organisieren konnte, wenn man im Gefängnis saß.
»Dann wurden Benny und Bosse auch bestraft und mussten in das Büßerprogramm?«
»Eine Weile schon, jetzt sind sie wieder vorn am Tor und patrouillieren das Anwesen. Ich habe gehört, dass Franz andere Leute auf Sofia angesetzt hat.«
»Anna, warum ist der so besessen von ihr?«
»Das kann man doch ganz gut verstehen, nach dem, was sie ihm angetan hat. Ihretwegen ist er ins Gefängnis gekommen.«
Aber Simon ahnte, dass es weitaus komplizierter war. Er überlegte ernsthaft, ob er die Polizei einschalten sollte, denn das klang alles ziemlich unangenehm und illegal. Aber er fand es überstürzt, Anna jetzt schon zu drängen, damit zur Polizei zu gehen.
Nach einer Woche mit Bloglektüre, Internetsurfen und Gesprächen bis tief in die Nacht sah Anna langsam wieder aus wie ein Mensch. Als Nächstes gab er ihr die Bücher aus dem Regal, die sich mit anderen Sekten beschäftigten. Die
Autoren waren Psychologen und Aussteiger. Eine weitere Woche später rief sie ihre Eltern an und bat darum, nach Hause kommen zu dürfen. So wie Simon es vorhergesagt hatte, waren sie außer sich vor Freude und Erleichterung.
Aber Anna fand immer wieder eine Begründung, noch einen Tag länger zu bleiben. Vielleicht hatte sie Angst, wie Sofia verfolgt zu werden, oder sie befürchtete, dass es mittlerweile auch ein »Anna-Hedberg-Projekt« gab. Bei Simon hatte sie einen sicheren Unterschlupf gefunden und wollte diesen nicht aufgeben.
»Anna«, sagte er eines Tages, als er von der Arbeit nach Hause kam. »Die können dir nichts tun, das wäre gegen das Gesetz. Verstehst du? Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du zu deinen Eltern fährst. Die vermissen dich.«
Sie kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn Inga Hermansson war wieder ins Zimmer gestürmt und verkündete freudestrahlend, dass sie den Wettbewerb gewonnen hatten. Sie umarmte Simon voller Leidenschaft, was ihm furchtbar peinlich war.
»Ich bleibe noch ein bisschen«, sagte er, »falls die Interviews machen wollen. Aber dann mach ich Urlaub, und du darfst es ganz allein genießen.«
Nachdem Inga wieder gegangen war, drehte sich Simon zu Anna.
»Morgen leih ich mir das Auto von Inga und bring dich zu deinen Eltern. Und danach werde ich mich auf eine kleine Reise begeben.«
Er sah, dass sie jetzt endlich zu diesem Schritt bereit war.
Zwei Tage vor seinem Flug nach San Francisco brach Simon zu einem seiner Spaziergänge auf, die ihn am Herrenhaus vorbeiführten. Er wollte sich mit Jacob treffen. Es hatte
angefangen zu schneien – dichter Schneefall versperrte die Sicht. Es dauerte länger als sonst. Simon war ganz durchnässt und fror, als er dort ankam. Als Jacob auftauchte, trug er nur seinen Overall.
»Hast du keine Jacke?«
»Das ist Teil des neuen Programms, das uns noch besser abhärten soll. Keine Jacken und Mäntel, weil wir uns dann schneller bewegen. Wir sollen auch nicht mehr gehen, sondern rennen. An uns arme Teufel, die draußen arbeiten müssen, denkt wieder niemand. Franz kommt nächste Woche. Es gibt eine Liste von über hundert nicht zu bewältigenden Aufgaben, die wir bis dahin erledigen sollen.«
»Warum haust du nicht einfach ab?«
»Für die Tiere ist es viel schlimmer in der Kälte. Ich habe mich für sie entschieden, Simon. Wenn der Frühling kommt, gehe ich auch.«
Simon fasste sich kurz, damit Jacob nicht zu lange im Schnee stehen und frieren musste. Er hatte einen Winter lang im Stall gearbeitet und wusste, wie das war. Ihn machte es wütend, dass Jacob diese Arbeit ohne wärmende Jacke erledigen musste. Das nächste Mal würde er ihn einfach mitnehmen. Jacob schien seine Gedanken lesen zu können.
»Ich verspreche es dir, Simon. Wenn es keinen Bodenfrost mehr gibt, bin ich weg.«
»Wenn du es so lange aushältst.«
»Das tue ich. Den Tieren zuliebe.«
Simon dachte an Anna, die bei ihren Eltern gut aufgehoben war. Sie hatten sich so gefreut. Er wollte, dass auch Jacob so etwas erlebte.
»Ich werde verreisen, aber nur eine knappe Woche«, sagte er. »Danach bin ich für den nächsten Aussteiger bereit.«