KAPITEL 34
Sofia hatte sich eine Woche freigenommen und Mattias eine Nachricht geschickt, dass sie ein paar Tage nicht zur Verfügung stehe. Als sie im Flughafen darauf wartete, dass Simon durch die Absperrung kam, meldete sich die Befürchtung, dass die Reise unter Umständen doch zu viel für ihn war. Zum ersten Mal im Flugzeug. So viele Menschen auf engstem Raum, eine große Stadt, jede Menge Autos, eine fremde Sprache.
Aber Simon sah überhaupt nicht überwältigt aus, als er mit seiner kleinen Reisetasche über der Schulter auf sie zukam. Auf dem Weg zum Taxi redete er pausenlos von dem Flugzeug, den PS, der Spannweite der Tragflächen, alles Einzelheiten, auf die Sofia auf ihrem ersten Flug garantiert nicht geachtet hatte.
Sie hatten sich gegenseitig das Versprechen abgenommen, nicht über ViaTerra zu reden, sondern den gemeinsamen Urlaub zu genießen, aber kaum saßen sie im Taxi, da fragte Sofia ihn schon über Anna und Jacob aus.
»Lass uns das auf der Autofahrt klären«, sagte sie. »Danach verwandeln wir uns für eine Woche in Touristen, und ViaTerra kann uns den Buckel runterrutschen. Was passiert jetzt, nach Annas Heimkehr?«
»Ich bin für den nächsten Aussteiger bereit.«
»Meinst du das ernst?«
»Warum nicht? Ich finde, das hat was, dass sie direkt vor Oswalds Nase verschwinden. Mir gefällt es, ihn zum Narren zu halten, und außerdem fühlt es sich gut an zu helfen. Anna geht es schon viel besser. Zuerst hat sie sich alles im Netz durchgelesen, dann meine Bücher über Sekten verschlungen und danach hat sie alles aufgeschrieben. Sie hat auch was auf deinen Blog hochgeladen.«
»Wahnsinn! Ich habe den Blog schon eine Weile nicht mehr gepflegt. Aber Oswald wird es trotzdem eines Tages herausbekommen, Simon!«
»Ich habe keine Angst vor ihm.«
»Wer steht als Nächstes auf der Liste?«
»Das werde ich sehen, wenn ich zurückkomme.«
»Weißt du was, manchmal vermisse ich die Insel sehr. Das klingt bestimmt total verrückt, aber es ist so schön dort. Ein magischer Ort. Das Meer und die Felsen, der Leuchtturm, dessen Nebelhorn man hört, wenn etwas Schlimmes bevorsteht. Und man hört es wirklich, ich schwöre es. Wenn die Fenster beim Sturm klappern oder man im Nebel seine Hand vor Augen nicht sehen kann. Ich habe mich auf der Insel lebendig gefühlt. Wenn ich tun dürfte, was ich will, dann würde ich das Herrenhaus dem Erdboden gleichmachen und dort eine Einrichtung für Sektenaussteiger bauen. Und du würdest dich um die Landwirtschaft kümmern und Jacob sich um die Tiere, und …«
»Und das Foto von Oswald würde an jeder Wand hängen, verziert mit Hörnern und Schnurrbart, und wenn man daran vorbeigeht, muss man buhen.«
Wie vereinbart sprachen sie über ViaTerra, bis sie Sofias Wohnung erreicht hatten.
»So, und ab jetzt sind wir Touristen«, sagte sie.
»Ich will nur noch eine Sache sagen.«
»Raus damit. «
»Anna hat da etwas angedeutet. Vielleicht hat es auch nichts zu bedeuten, aber Oswald hat Privatdetektive und andere Typen angeheuert, um dich aufzuspüren und zu beschatten. Das hört sich nicht so an, als hätte er dich aufgegeben.«
»Doch, das glaube ich schon. Anna hat wahrscheinlich nur alte Informationen. Ich habe nichts mehr von irgendjemandem gehört, seit du Benny das mit Italien gesagt hast. Ich bin überzeugt, dass er das Interesse an mir verloren hat.«
»Wenn du meinst.«
Auf dem Spaziergang durch den Golden Gate Park am nächsten Tag bemerkte Sofia die Blicke zweier Frauen, die Simon hinterhersahen. Eine Stunde später drehte sich die nächste Frau nach ihm um. Simon passte auch optisch perfekt in diesen Teil der Welt. Er hatte einen kräftigen Körperbau, seine Jeans hing ihm auf den Hüften, er trug karierte Hemden, und außerdem war sein blondes Haar zerzaust.
»Hey, dir glotzen die ganze Zeit die Frauen hinterher.«
»Als würde mich das interessieren.«
Sofia erzählte Simon erst von Mattias, als sie am Geländer der Golden Gate Bridge standen und nach unten aufs Wasser sahen. Sie hatte ihn gefragt, ob ihm dabei schwindelig werde, aber Simon hatte den Kopf geschüttelt und gelacht. Ihr hingegen wurde etwas mulmig. Die Häuser waren auf einmal so winzig und sahen aus wie Spielzeug, und die Menschen waren noch kleiner als Ameisen. Das Wasser hatte eine magische Anziehungskraft, als würde es einen auffordern zu springen.
»Ich möchte, dass du mir ehrlich antwortest«, sagte sie, als sie mit ihrem Bericht über Mattias fertig war. »Was soll ich machen? «
»Hat sich Benjamin noch mal gemeldet, nachdem du ihm das auf so feinsinnige Art mitgeteilt hattest?«
»Es gibt keinen Grund, jetzt sarkastisch zu werden.«
Simon schnitt eine Grimasse.
»Und nein, er hat sich nicht gemeldet. Ich habe ihn bestimmt hundert Mal angerufen, ihm gemailt und SMS geschickt. Er ist so unfassbar stur. Genau genommen habe ich ja noch gar nichts getan.«
Simon legte seine Hand auf ihre.
»Es ist doch so, Sofia. Es scheint mir vollkommen egal, was ich dazu sage, du wirst sowieso das tun, was du willst und für das Richtige hältst, stimmt’s? Das renkt sich am Ende doch immer wieder ein.«
»Das Problem ist, dass ein kleiner Teufel in mir lebt, der freigelassen werden will. Ich war nie sexuell gehemmt, und die erzwungene Keuschheit auf ViaTerra hat mir zu schaffen gemacht. Es gab so viel, was man nicht tun durfte. Die Bluse musste bis zum obersten Knopf geschlossen sein. Der Rock musste die Knie bedecken. Parfum war verboten. Roter Lippenstift sowieso. Aber Oswald hatte die ganze Zeit seine Hände an mir. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass ich platze.«
»Das war ja alles so gewollt, Sofia.«
»Ich weiß doch. Oh, das erinnert mich an die Geschichte mit Mira, die mit dem Promi rumgemacht hat, den Oswald mit auf die Insel geschleppt hat. Da warst du, glaube ich, gerade in dem Büßerprogramm.«
»Du meinst Alvin Johle?«
»Genau den. Oswald wurde stinksauer, weil Alvin im Fernsehen geschwärmt hat, wie scharf die Mädchen von ViaTerra seien. Erst da kam raus, dass Mira mit ihm rumgeknutscht hatte. Die Wachen haben ein Geständnis aus ihr herausgepresst, mit allen schlüpfrigen Details. Alles wurde akribisch notiert, und eines Tages hat Oswald das Personal zusammengetrommelt. Mira musste in der Ecke stehen, wie ein Schulmädchen, mit dem Gesicht zur Wand. ›Ich will euch vorlesen, was Mira so getrieben hat‹, sagte er und las Miras Geständnis vor, wobei er die sexuellen Ausdrücke wie ›geil‹ und ›Muschi‹ besonders betonte. Immer wieder hob er den Kopf und sah uns bedeutsam an. Die Frauen mussten alle vorn in der ersten Reihe sitzen. Es war schrecklich und peinlich, und trotzdem befürchte ich, waren sie alle danach furchtbar erregt. Wahrscheinlich war das auch seine Absicht.«
»Ganz bestimmt.«
»Psychologen nennen das das ›Stockholm-Syndrom‹. Ich glaube aber nicht, dass es ein Syndrom war. Nur die Fantasien eines perversen Mistkerls, der sich einen Spaß daraus macht, Menschen zu quälen.«
»Aber was ist sein Beweggrund?«
Simon sah aufrichtig interessiert aus.
»Gute Frage. Solche Menschen haben Macht über andere und sind Experten darin, diese zu missbrauchen. Aber das bedeutet ja nicht, dass alle, die sich in ihrer Nähe aufhalten, gleich eine Diagnose bekommen müssen.«
»Ganz genau.«
Sie fing ganz plötzlich an zu weinen, die Tränen liefen ihr nur so übers Gesicht. Sie lehnte sich weit über das Brückengeländer.
»Sofia, was ist denn?«
»Ich weiß nicht, ich kann ihn nicht aus meinem System bekommen. Da ist dieser Widerspruch. Er konnte manchmal so nett sein, Simon. Wirklich. Hat mich mit den Worten davon zurückgehalten, eine Wespe zu töten, dass auch sie ein wichtiger Bestandteil der Natur ist. Wenn ich gefroren hab, legte er mir seine Jacke über die Schultern. So was eben. Und wenn er nett war, dann gleich so, dass man geschmolzen ist. Ich kann das noch immer nicht verstehen.«
»Diese Freundlichkeit oder Zärtlichkeit ist doch nur Teil eines Spiels, Sofia. Und das verwirrt, das ist das Ziel. Denn verwirrte Menschen können leichter getäuscht und betrogen werden.«
»Mensch, Simon, du bist immer so souverän«, lachte sie durch die Tränen. »Wollen wir beide nicht einfach auf Sex verzichten und eine glückliche platonische Beziehung führen?«
»Ich lebe doch schon im Zölibat.«
»Ja, hast recht. Ach, es tut so gut, dich an meiner Seite zu wissen. Ich glaube wirklich, dass er seine Jagd auf mich aufgegeben hat.«
»Aber das tu ich nicht.«
»Warum?«
»Ich hatte einen jüngeren Bruder, Daniel. Unsere Eltern sind Anhänger einer religiösen Gemeinschaft, die sich Gottes Weg nennt. Er wusste schon früh, dass er schwul ist, als er das aber unseren Eltern erzählt hat, weigerten sie sich, es zu akzeptieren. Sie waren davon überzeugt, dass man ihm den Teufel austreiben musste. Das hat ihn gebrochen.«
»Das hast du mir noch nie erzählt!«
»Nein, aber das tu ich ja jetzt. Daniel hat beschlossen, den Hof zu verlassen und nach Stockholm zu gehen, und ich habe ihn zum Bahnhof gebracht. Ein paar Stunden später rief er mich an und bat mich darum, ihn nicht zu verurteilen. Leider habe ich das total missverstanden, bezog es auf sein Schwulsein. Die Polizei klingelte am selben Abend bei uns. Daniel war vor den Zug gesprungen. «
»Oh Gott, wie schrecklich! Warum hast du mir das nie erzählt? Das ist furchtbar traurig.«
»Aber deshalb erzähle ich dir das gar nicht. Ich erinnere mich genau an seinen Blick, als ich ihn am Bahnhof abgesetzt habe. Ich werde diesen Blick niemals vergessen. Wie ein Tier, das in die Enge getrieben wurde und auf seinen Gnadenschuss wartet. Aber ich habe es mir schöngeredet, obwohl ich dieses merkwürdige Gefühl hatte. Das Gefühl, dass etwas passieren wird. Und dieses Gefühl habe ich auch, wenn ich an dich und Oswald denke. Mann, Sofia, ich will dir keine Angst einjagen! Aber ich will, dass du vorsichtig bist.«
Sofia stand schweigend am Geländer und starrte auf das blaugrüne Wasser. San Francisco schwebte wie eine Fata Morgana im Nebeldunst auf der anderen Seite des Sundes. Eine schwache Brise streichelte ihr übers Haar. Sie versuchte, dieses Gefühl in sich wachzurufen, holte Bilder von Oswald aus ihrem Gedächtnis. Aber es fühlte sich überhaupt nicht mehr bedrohlich an, als hätte das Gespräch mit Simon auch die letzte Verbindung gekappt.
»Das ist ganz normal«, sagte sie. »Wenn man so etwas mitgemacht hat, wird man damit bis ans Ende seines Lebens zurechtkommen müssen. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass Oswald aufgegeben hat.«
»Dann ist das beschlossene Sache. Komm, lass uns auf die andere Seite der Brücke laufen, dann kann ich wenigstens sagen, dass ich das auch einmal gemacht habe.«
Schweigend liefen sie nebeneinanderher, und als sie auf der anderen Seite angekommen waren, räusperte sich Simon verlegen.
»Ich muss was gestehen, ich habe ein paar Pläne für diese Woche gemacht. «
»Was denn für Pläne?«
»In Palo Alto gibt es eine Organisation, die heißt ›Common Ground‹, die bieten da Kurse in ökologischer Landwirtschaft an, und ich möchte mir das Center mal ansehen. Das scheint ganz in der Nähe von deiner Wohnung zu sein. Außerdem will ich ins Napa Valley fahren und zusehen, wie die dort die Weinranken schneiden und für den Frühling vorbereiten. Und dann möchte ich mir die Orangenplantagen auf dem Weg nach Los Angeles ansehen. Ich weiß, da fährt man ein paar Stunden hin, aber dort stehen Tausende von Bäumen, und die tragen jetzt gerade alle Früchte. Wir mieten einen Wagen, und ich fahre die ganze Strecke, versprochen.«
»Simon, ich dachte, du bist gekommen, um mich zu sehen.«
»Das stimmt ja auch. Aber das bedeutet doch nicht, dass wir nicht ein paar interessante Sachen einbauen können, oder?«
Sie verbrachten sieben herrliche Tage zusammen. Sie schafften es zwar nicht, alle Touristenattraktionen abzuklappern, aber als Sofia Simon in den kilometerlangen Reihen der Orangenhaine fotografierte, sah er aus, als hätte er den Mount Everest bestiegen. Am letzten Abend waren sie bei Melissa Arbor zum Essen eingeladen. Sie war begeistert von Simon, denn sie interessierte sich auch sehr für die ökologische Landwirtschaft. Die beiden redeten ununterbrochen. Sofia beobachtete ihren Freund, er hatte sich verändert, sprach mit Händen und Füßen und wirkte jetzt gelöst. Ob er das auch so empfand?
Nachdem sie ihn am nächsten Tag zum Flughafen gebracht hatte, fühlte sie sich leer und melancholisch. In drei Monaten lief ihr Visum aus.
Und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie das Gefühl, dass es Zeit war, nach Schweden zurückzukehren.