KAPITEL 35
»Heute ist der erste Tag meines neuen Lebens.« Mit diesem Gedanken schlug Anna-Maria die Augen auf. Sie hatte kaum geschlafen, sich unruhig im Bett hin und her gewälzt, hellwach und erwartungsvoll. Aber das machte nichts, sie fühlte sich an diesem Tag bildschön und ausgeruht.
Heute wurde Franz entlassen.
Es kribbelte ihr in den Händen. Am liebsten hätte sie sich ihr Handy geschnappt und in allen sozialen Medien die großen Neuigkeiten verkündet. Facebook, Instagram, Twitter. Aber natürlich wäre das noch besser mit Fotos von ihnen. Sie könnte ja ein kleines Gerücht in die Welt setzen, eine Andeutung machen, dass Großes geschehen werde. Sie hatte ihm versprochen, niemandem von ihrer Beziehung zu erzählen, noch nicht einmal ihren Eltern. Das würde nur ein falsches Bild zeichnen, solange er im Gefängnis säße, hatte er gesagt. Aber jetzt gab es keine Hindernisse mehr. Was ihre Freundinnen wohl dazu sagen würden? Vielleicht, dass er gefährlich sei. Aber dann würde sie ihnen die ganze Wahrheit erzählen. Dass er zuckersüß und wunderbar sein konnte. Und das würde sie neidisch machen. Denn er war trotz allem der beste Fang von allen. Oder?
Lange stand sie unter der Dusche, sang, obwohl die Natur sie mit keiner schönen Singstimme ausgestattet hatte. Sie rubbelte sich die Haare trocken und sah in den Spiegel. Ihre Augen funkelten .
Das Handy klingelte, als sie ins Wohnzimmer kam. Die Nummer war anonym, aber sie wusste, wer es sein musste. Seine Stimme klang wie ein sanftes Flüstern.
»Ich bin’s, ich bin frei.«
Sie öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Auf diese Tatsache, die er mit so viel Gefühl ausdrückte, fand sie keine Worte.
»Annie, bist du noch dran?«
»Ja, natürlich, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist wunderbar, fantastisch.«
»Herzlichen Glückwunsch, sagt man, glaube ich.«
»Natürlich, verzeih. Herzlichen Glückwunsch! Soll ich dich abholen?«
»Nein, aber ich würde dich gern um einen anderen Gefallen bitten, wenn es dir nicht zu viel wird.«
»Alles, was du willst.«
»Ich werde im Hotel Upper House einchecken und eine Nacht dort bleiben. Will mich am Pool rekeln und was Ordentliches essen, nach zwei Jahren Knastverpflegung, du weißt ja. Ich möchte mich ein bisschen erholen, bevor ich zum Zombieclub auf ViaTerra fahre. Und da dachte ich, ach, das klingt jetzt bestimmt total albern …«
»Jetzt sag schon.«
»Ich hätte Lust, mit dem Motorrad auf die Insel zu fahren. Ich bin schon so lange nicht mehr damit gefahren, und das Wetter soll so gut bleiben. Könntest du die Maschine vielleicht für mich abholen? Wir bleiben eine Nacht zusammen im Hotel und fahren dann morgen nach Hause.«
»Meinst du die Harley? Ist das okay für dich, wenn ich damit fahre?«
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich mich hundertprozentig auf dich verlassen kann und dir traue? «
Sie war zutiefst gerührt. Den Gedanken hatte sie nämlich auch schon gehabt, dass sie sich seiner Liebe gewiss sein konnte, wenn er sie mit seiner Harley fahren ließ. Die war sein absoluter Liebling, und sein Vertrauen konnte nur das eine bedeuten.
»Ich hole sie gern für dich ab. Wann soll ich bei dir sein?«
»So schnell wie möglich. Ich möchte dich sehen. Meinst du, du schaffst die Morgenfähre? Dann könntest du die Fünfuhrfähre am Nachmittag zurück nehmen.«
»Kein Problem. Dann bin ich heute Abend bei dir.«
»Danke, Annie. Und eins noch, ich habe eine Überraschung für dich.«
»Echt? Was denn? Oh, komm, verrat es mir, bitte.«
»Das kann ich nicht mit Worten beschreiben, das musst du erleben.«
Als sie das Telefonat beendet hatten, war sie für einen Augenblick handlungsunfähig. Denn das sexy Outfit, für das sie sich entschieden hatte, konnte sie jetzt nicht tragen. Aber hatte er nicht sogar angedeutet, dass sie Sex haben würden? Dann müsste sie sich nicht zwingend verführerisch anziehen. Die Wahl ihrer Unterwäsche fiel auf die schönste Kombination, aber sie brauchte noch eine Hülle zwischen ihrer Haut und der Lederkombi. Sie entschied sich für ein hautenges, tief ausgeschnittenes Kleid, das knapp über den Po ging. Dann rannte sie wie aufgescheucht durch die Wohnung und warf alles, was sie brauchte, in ihre Handtasche. Sie musste sich beeilen, hatte nur noch gut eine Stunde Zeit, um die Morgenfähre zu bekommen.
Während der Überfahrt dachte sie an seine Hände, die sie bald an allen Stellen ihres Körpers berühren würden. Sie konnte sich nicht länger beherrschen und textete einen Tweet auf Twitter: Heute beginnt ein neues Leben. Große Ereignisse stehen bevor. Es dauerte nur wenige Sekunden, und sie bekam neugierige Fragen gestellt, aber sie würde ihre Follower ordentlich auf die Folter spannen. Der nächste Tweet wäre ein Foto von Franz und ihr.
Das Anwesen wirkte verlassen. Wie immer. Große Streifen der Grünfläche waren welk, überall wuchs Löwenzahn. Am liebsten wollte sie mit niemandem reden. Würde Franz später weitersagen, dass sie ihre Anweisungen einfach nicht befolgt hatten. Sie bat die Wache im Pförtnerhäuschen um den Schlüssel für die Harley. Der sah sie verblüfft an, wagte aber keinen Widerspruch.
Sie hatte noch ein paar Stunden Zeit, ehe die Fähre ablegen würde, darum drehte sie eine Runde über die Insel. Franz hatte bestimmt nichts dagegen. Mittags machte sie eine Pause in einem kleinen, verschlafenen Café im Dorf, das trockene Sandwiches im Angebot hatte. Von dort erledigte sie die Mails ihrer anderen Mandanten, die in letzter Zeit etwas zu kurz gekommen waren. Ihre Ungeduld machte ihr zu schaffen, sie konnte es kaum erwarten. Fast hätte sie sich aus Nervosität einen Nagel abgebissen. Wie würde Franz das wohl finden? In dieser Sekunde klingelte ihr Handy, und sein Name stand auf dem Display. Er wollte sich nur erkundigen, ob sie die Fähre pünktlich schaffen würde. Denn er sehnte sich so sehr nach ihr. Dann beschrieb er ihr einen Schleichweg zurück in die Stadt, wo man ein bisschen aufs Gaspedal drücken konnte.
»Fahr doch da lang und denk an mich«, flüsterte er.
Obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand, war die Luft kühl, als sie im Hafen anlegten. Sie machte die Lederjacke bis obenhin zu. Auf einmal hatte sie es eilig, wollte in Göteborg sein, bevor es anfing zu dämmern .
Auf der Straße war sie ganz allein. Die frische Luft kribbelte auf dem Gesicht. Das Laub der Bäume, die an ihr vorbeisausten, war wie ein hellgrüner Schleier. Noch nie war sie so glücklich gewesen.
Was sie verwunderte, war nur, dass sich nicht wie sonst die Gedanken klärten und sie leicht wurde, sondern dass sich auch düstere Gedanken meldeten. Oswalds Analogie mit der Spinne tauchte unerwartet auf. Daran stimmte etwas nicht. Oder vielmehr daran, wie er es ausgedrückt hatte. Sie schob den Gedanken beiseite, aber er kam mit nur noch größerer Kraft zurück. Die Spinne, die niemals ihr Netz verließ, aus dem keine Fliege entkam. So hatte er es ausgedrückt. Und trotzdem war das eingetreten. Mit dem Loser und mit Bauman. Ohne es zu merken, hatte sie die Geschwindigkeit gedrosselt und gab jetzt irritiert wieder Gas. Für einen kurzen Moment verließ sie ihren Körper. Erlebte einen flüchtigen Wimpernschlag von unendlicher Freiheit, wie eine Raupe, die sich aus ihrem Kokon befreit hatte. Da klärte sich das Bild, so wie der Nebel auf Dimö, der sich verzog. Aber dieser kurze Augenblick genügte, obwohl er nicht länger dauerte als eine Millisekunde. Ihre Aufmerksamkeit galt nicht mehr der Straße. Und als sie wieder im Hier und Jetzt auftauchte und die Kontrolle über die Maschine zurückgewann, da tauchte vor ihr das gespannte Drahtseil auf. Glitzernd und glänzend schwebte es über dem Asphalt in der Sonne. Einen kurzen, magischen Moment lang schwebte auch sie, hoch oben im blauen Himmel. Blau, es war überall blau. Und ehe sie begriff, was passiert war, wurde alles um sie herum schwarz.