KAPITEL 36
Simon hätte den Fernsehbeitrag verpasst, wenn ihn Wilma nicht angerufen hätte. Den Fernseher hatte ihm Inga aufgedrängt, damit er sich abends nicht allein fühlte. Aber er schaltete ihn nie ein. Stattdessen las er die Zeitung, surfte im Netz oder las ein Buch. Inga ging ihm manchmal auf die Nerven mit ihrer Sorge, dass er nicht unter Leute ging. Sie wollte nicht verstehen, dass es ihm gefiel, und schleppte manchmal sogar Modezeitschriften für Männer an. Als würde er sich dann schicke Klamotten anziehen und auf der Insel Bräute aufreißen.
Sofias Freundin musste irgendwie an seine Nummer gekommen sein. Zwar war er Wilma noch nie begegnet, aber Sofia hatte oft von ihr erzählt. Wilma stellte sich kurz vor. Im Hintergrund hörte er Stimmen und Musik aus einer Bar oder einem Restaurant.
»Ich bin in einer Sportbar und habe eben die Nachrichten gesehen, das wollte ich dir schnell weitergeben. Euer Guru ist gerade aus dem Knast entlassen worden, und schon geht der Wahnsinn wieder von vorne los. Gleich kommt die nächste Sendung, da kannst du es sehen. Ich muss jetzt auflegen. Kannst du Sofia bitte den Link zur SVT-Mediathek schicken? Du entscheidest, ob sie es schafft, den Scheiß zu sehen. Obwohl, genau genommen ist es unvermeidbar: Sie muss.«
Simon kam nicht mehr dazu, etwas darauf zu erwidern, sie
hatte das Telefonat schon beendet. Er wusste nicht einmal, ob der Koloss von Fernseher überhaupt funktionierte, aber tatsächlich musste er nur den Schalter bedienen, und schon kam ein Bild. Die nächste Nachrichtensendung würde in fünf Minuten gesendet werden. Simon war jetzt ziemlich neugierig. Was hatte Oswald wieder angestellt? Als wäre seine Entlassung nicht schon Meldung genug. Und dazu die Tatsache, dass er auf die schöne Insel zurückkehren durfte und dort leben würde. Simon musste an Jacob denken, und dabei wurde er ganz schwermütig. Vielleicht war es jetzt zu spät, um noch zu fliehen.
Die lokalen Nachrichten hatten einen Motorradunfall außerhalb von Göteborg als Aufmacher. Man sah eine Straße, die von blühenden Feldern und Birken gesäumt war, und dort standen Polizei, der Notarztwagen und die Feuerwehr. Simon konnte nichts damit anfangen, aber dann sagte die Reporterin, dass die Anwältin Anna-Maria Callini, der juristische Beistand des geistigen Oberhaupts von ViaTerra, Franz Oswald, bei einem Motorradunfall tödlich verunglückt sei. Ihr Fahrzeug war von der Fahrbahn abgekommen, sie war gestürzt und sofort tot gewesen. Simon hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne rufen. Verdammt, verdammt, verdammt noch mal!
, schrie er und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn.
Aber er war sofort wieder hellwach und ganz bei sich, als er Oswald mit Bügelfalte und Blazer sah, der in einer Hotellobby von einer Schar von Reportern auf dem Weg nach draußen aufgehalten wurde.
»Können Sie erklären, warum Anna-Maria Callini ausgerechnet mit Ihrem Motorrad tödlich verunglückt ist?«, fragte einer der Reporter und hielt ihm ein Mikrofon unter die Nase
.
»Sie sollte es für mich von Dimö abholen. Das ist alles. Ein Gefallen war das, sonst nichts.«
»Was hatten Sie für ein Verhältnis zueinander?«
»Ein rein geschäftsmäßiges«, sagte Oswald, während sich eine kleine Falte auf seiner Stirn bildete. »Jetzt hört mir mal zu, ihr Lieben«, sagte er. »Anna-Maria war eine der besten Anwältinnen des Landes, ihr Tod ist ein großer Verlust, nicht nur für mich, sondern für das gesamte Rechtswesen von Schweden. Ich werde jetzt nach ViaTerra zurückkehren. Wir werden alle Arbeiten eine Woche lang ruhen lassen. Und ich möchte Sie bitten, unsere Privatsphäre in dieser Zeit der Trauer zu respektieren.«
Ihm gelang es sogar, sich eine Träne herauszudrücken, stellte Simon angewidert fest.
Von hinten meldete sich ein zweiter Reporter zu Wort.
»Wie geht es Ihnen damit, dass Ihr Motorrad praktisch unversehrt geblieben ist, Ihre Anwältin den Unfall aber mit einem Genickbruch bezahlt hat? Soweit ich verstanden habe, ist Ihre Maschine ein Vermögen wert?«
Oswalds Gesichtsfarbe veränderte sich in Sekundenschnelle, von ziemlich blass zu erstaunlich rot.
»Verdammt noch mal, dass Sie es überhaupt wagen!«, schnaubte er. »Haben Sie keinen Funken Anstand im Leib?«
Ja, er fluchte, aber das klang sogar gut und richtig. Simon wurde eiskalt, als ihm klar wurde, dass dieser Nachrichtenbeitrag Oswald helfen würde, sein Image aufzupolieren. Dass er sich auch dieses Mal einer unangenehmen, schwierigen Situation elegant entziehen konnte. Simons Puls galoppierte, er bemerkte es erst, als ihm der Schweiß in den Handflächen ausbrach. Er musste sofort Sofia anrufen, und es war völlig egal, dass es in Kalifornien erst vier Uhr
morgens war. Aber sie ging nicht ans Handy, vermutlich schlief sie tief und fest.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, versuchte er noch einmal, sie zu erreichen. Auch dieses Mal blieb sein Anruf unbeantwortet. Aber noch machte er sich keine Sorgen, wahrscheinlich war sie mit Freunden unterwegs. Da erinnerte er sich daran, dass Wilma ihn gebeten hatte, Sofia den Link zur Nachrichtensendung zu mailen. Das tat er und bat sie darum, sich möglichst schnell bei ihm zu melden.
Als Simon an diesem Abend nach Hause kam, hatte er noch immer keine Antwort von ihr. Da stimmte etwas nicht. Er konnte nicht den Finger darauflegen, aber es fühlte sich an, als wäre diese magische Verbindung zwischen ihnen gekappt worden.
In dieser Nacht schlief Simon mit einem Gefühl der Bedrückung ein.