KAPITEL 38
Jacob sah, wie der schwarze Mercedes auf den Hof rollte. Er hatte den ganzen Tag die Pforte im Auge behalten. Er konnte nicht anders. Denn er wusste, dass sich alles ändern würde, sobald Oswald seinen Fuß auf ViaTerra setzte. Vor seiner Anreise war es schon unheimlich still geworden. Die Luft flirrte förmlich vor Scham und Angst. Das Personal hatte aufgehört, über den Hof zu hetzen und Aufgaben zu erledigen wie fleißige Ameisen. Jetzt war es zu spät, um den Schein zu erwecken, dass in Abwesenheit des Oberhaupts alles reibungslos gelaufen war. Und niemand wollte ihm als Erster begegnen. Darum blieb nur das Warten. Und Hoffen.
Jacob fragte sich, wie es in Zukunft ablaufen würde. Schlimmer als mit Madde als Chefin konnte es nicht werden. War das physisch überhaupt möglich? Das hatte was mit Maddes nervöser Ausstrahlung zu tun. Es klang nie richtig überzeugend, wenn sie ihre Sätze aufsagte: »Franz hat gesagt« oder »Franz will dies oder das«. Einige ihrer Anweisungen klangen nicht nach Franz, so etwas würde er nie sagen. Aber die beiden, Madde und Bosse, waren ja praktisch die Einzigen, die mit ihm Kontakt gehabt hatten. Also konnte man nie sicher sein.
Der Wagen hielt vor dem Haupteingang des Herrenhauses. Die zwei Wachen Benny und Bosse kamen angerannt und rissen beide Autotüren auf. Was für Idioten! Oswald stieg auf der Fahrerseite aus, Jacob konnte ihn nur von der
Seite sehen. Er trug einen Blazer und die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Die Autoschlüssel warf er Bosse zu. Benny rannte zur Eingangstür und hielt sie ihm auf. Oswald hob den Kopf und las die Banderole, die sie gesprayt und aufgehängt hatten. »Willkommen zu Hause, Sir!«, stand dort. Alles musste perfekt sein. Kein einziger Farbtropfen durfte danebengehen. Aber Oswald schüttelte nur abfällig den Kopf und ging wortlos ins Haus. Sogar von seinem Versteck aus, das über fünfzig Meter entfernt lag, konnte Jacob die unterdrückte Wut in Oswalds Gesicht erkennen.
Warum war er nur so wütend? Er war doch gerade aus dem Gefängnis entlassen worden und endlich wieder zu Hause? Nur ein paar Sekunden, und schon hatten sie ihn gegen sich aufgebracht.
Oswald knallte die Tür hinter sich zu. Wieder senkte sich eine Stille über das Anwesen. Aber es war eine unnatürliche Stille, als stünde das Jüngste Gericht bevor. Jacob hatte das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Als wäre er in einem bösen Traum gefangen, aus dem er aber bald aufwachen würde.
Er fühlte sich verloren. Schon seit Jahren. Er war nicht wie Simon auf einem Bauernhof groß geworden, hatte sich aber, seit er denken konnte, für Tiere interessiert. Nach seiner Ausbildung und der Landwirtschaftsschule war es naheliegend, auf einem Hof zu arbeiten. Aber das hatte sich vom ersten Tag an falsch angefühlt. Er nahm den Kontakt zu den Tieren viel zu persönlich. Er litt wie ein Hund, wenn die Schweine zum Schlachthaus gebracht wurden, war nicht in der Lage, kranke Tiere zu töten, und fand ohnehin, dass die Tiere viel zu wenig Bewegungsfreiraum hatten. Und dann hatte er etwas festgestellt, was er niemandem je erzählt hatte. Er hatte den Eindruck, dass er mit Tieren telepathisch kommunizieren konnte. Vor allem mit den Kühen. Und obwohl
er wusste, dass es physikalisch nicht möglich war, konnte er ihre wortlosen Botschaften nicht verdrängen.
Deshalb war ViaTerra der geeignete Ort für ihn gewesen. Zumindest am Anfang. Eine Organisation, die an das Übernatürliche glaubte und Tiere bei sich hielt. Wenn er es nur gewusst hätte. Und jetzt saß er hier fest. Er hatte ein persönliches Verhältnis zu jeder einzelnen Kuh, zum Eber und zum Schafbock. Es war undenkbar, sie dieser vollkommen chaotischen und unberechenbaren Umgebung hilflos auszusetzen. Jacob konnte nicht einmal sicher sein, dass sie gefüttert werden würden, wenn er nicht mehr da war.
Die Stille hielt mehrere Stunden lang an – so lange, bis Corinne aus der Hauswirtschaftsabteilung in den Stall gerannt kam.
»Das gesamte Personal soll sich im Speisesaal versammeln!«
»Warum kommst du
mit der Nachricht und nicht Madde?«
»Ich bin Franz’ neue Sekretärin, los, komm schon, Jacob, beeil dich.«
»Hoppala, das ging aber schnell. Was ist mit Madde?«
Jacob hoffte inständig, dass Oswald sie nicht in den Stall versetzte, denn dann würde er sich auch um sie kümmern müssen.
»Ich habe keine Ahnung, Franz wird es uns schon noch mitteilen.«
Gemeinsam rannten sie in den Speisesaal, er schielte zu ihr rüber. Sie wirkte recht nervös, ahnte wahrscheinlich schon, was da auf sie zukam. Aber sie war eindeutig Oswalds Typ. Dünn, fast anorektisch. Und erst siebzehn. Das richtige Alter, um von Oswald gepflückt zu werden. Schön, aber
nicht so taff wie Sofia. Jacob fragte sich ernsthaft, wie lange Corinne den Druck aushalten würde.
Als sie in den Speisesaal kamen, war es totenstill. Ein paar angestrengte Gesichter sahen hoch. Fast jeder Stuhl war besetzt, sie mussten die beiden freien in der ersten Reihe nehmen. Oswald war schon da. Er lehnte an seinem Pult, das er für seine Reden benutzte. Er würdigte sie keines Blickes, als sie auf ihre Plätze schlichen. Jacob war sich nicht einmal sicher, ob Oswald wusste, wer er war. Sie hatten noch nie ein Gespräch unter vier Augen geführt. Und gerade das verstärkte Jacobs Angst vor ihm noch. Denn er würde seine Gedanken lesen können, wenn er ihm in die Augen sah.
»Sind alle da?« Oswald sah Corinne an, und sie nickte.
Er fing sofort an zu brüllen. So laut, dass einige aus dem Personal wie Soldaten von ihren Stühlen aufsprangen. Das war ungewöhnlich, Oswald leitete seine Reden in der Regel mit milder Stimme ein. Dann folgten ein paar sarkastische Bemerkungen, bevor er richtig loslegte.
»Ihr seid wie eine Schar verirrter, dämlicher Gänse. Unter euch ist keine einzige Nase, auf die ich mich verlassen kann. Ihr habt nicht kapiert, was ich eigentlich will!«
Er machte eine Pause und holte tief Luft.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich mit euch anfangen soll. Ihr seid eine einzige Last, wie ein riesiger Blutegel, der mich aussaugt.«
Jacob hörte Corinnes hektisches Atmen neben sich. Sie krallte sich mit solcher Kraft an der Stuhllehne fest, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden. Die Arme. Jacob fühlte sich von alldem nicht mehr betroffen, weil er mit Simon gesprochen hatte und von einem Leben außerhalb der Mauern wusste.
Oswald verstummte. Musterte einen nach dem anderen. Schüttelte den Kopf. Es roch nach Scham. Dann holte er ein
zweites Mal aus, aber jetzt sprach er so schnell, dass ihn Jacob zuerst nicht verstand. Seine Stimme erklang nun eine halbe Oktave tiefer. Er brüllte zwar nicht mehr, aber die Stimme war jetzt schneidend und unzufrieden. Für ihn sei es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass die Wohnhäuser für die Gäste fertig sind, wenn er zurückkommt. Ob sie eigentlich wüssten, wie viele Briefe er im Gefängnis bekommen habe? Hunderte. Jeden Tag. Aus der ganzen Welt. Und alle waren an einer Sache interessiert. Sie wollten mehr über die Philosophie von ViaTerra erfahren. Ob sie überhaupt das Ausmaß begriffen, wie groß das Interesse für ViaTerra weltweit sei? Ob sie wüssten, wie viele Exemplare von seinem Buch verkauft worden seien? Nein, offensichtlich nicht. Im Übrigen wären ihm polierte Türklinken vollkommen egal – scheißegal. Und dann die Tatsache, dass ihnen Anna direkt vor der Nase weggelaufen sei. Wahrscheinlich hatten die Wachen wieder gepennt. Wie immer. Zwei Dinge hatten in seiner Auszeit erledigt werden sollen: die Wohnhäuser in einen guten Zustand versetzen und Sofia Bauman zum Schweigen bringen. Einen einzigen Menschen. Obwohl sie mehr Mumm hatte als alle zusammen, das musste er ihr lassen. Noch nicht einmal das hatten sie geschafft. Das bedeutete: Er würde es jetzt selbst in die Hand nehmen müssen. So wie immer. Und Madde, die würde ab heute vom Teufelsfelsen springen dürfen, morgens, mittags und abends, bis endlich ein einziges kluges Wort aus ihrem Mund käme. Für alle anderen hieße es jetzt: Ärmel hochkrempeln. Sie müssten sich beeilen, die ersten Gäste kämen bald. In zwei Wochen schon würde er die Pforte für sie öffnen. Darum wäre es in der Tat besser. Für sie alle. Wenn alles gut aussähe. Außerdem würde er diesen lächerlichen Hund abknallen, den sie da angeschleppt hätten
.
Mit diesem letzten, harten Schlag verließ Oswald den Saal. Corinne trippelte ihm pflichtbewusst hinterher. Jacob hatte einen Kloß im Hals und konnte sich nicht bewegen. Auch als alle nach und nach den Speiseaal verließen, blieb er reglos sitzen. Vor ihnen lagen zwei Höllenwochen, er sah sich schon auf dem Boden kniend die Böden in den Seitengebäuden schrubben. Ihm war zum Heulen zumute, er war erschöpft und enttäuscht. Im Saal war es still, aber er hörte das Geschrei auf dem Hof, antreibende Rufe in »Alle Mann an Deck«-Versionen. Sie hatten eine Aufgabe bekommen, die es so lange zu erfüllen galt, bis Oswald zufrieden war. Jacob hoffte inständig, dass die Wachen nicht überreagierten und den armen Hund sofort erschossen. Manchmal stieß Oswald nur zum Spaß Drohungen aus, man konnte sich aber nie sicher sein. Vielleicht sollte er den Hund im Stall verstecken, bis sich alles wieder beruhigt hatte?
Jacob hörte, wie die Tür zum Speisesaal geöffnet wurde, und drehte sich langsam um. Es war Bosse.
»Jacob, wir beide sind heute Nacht fürs Putzen eingeteilt.«
Statt einer Antwort schüttelte Jacob den Kopf. Bosse kam auf ihn zu.
»Warum sitzt du hier noch?«
»Ich überlege mir, wie ich das mit den Tieren schaffen soll, ich muss sie füttern, die Boxen sauber machen und so. Ich kann die nicht einfach sich selbst überlassen.«
»Dann tu das doch.«
»Wie, was denn?«
»Na, dich um die Tiere kümmern. Ich übernehme das andere für dich. Wenn jemand fragt, sage ich, dass du angeschlagen bist und dich ausruhen musst. Denn das Letzte, was wir hier jetzt gebrauchen können, ist eine Epidemie.«
Jacob traute seinen Ohren nicht. Starrte Bosse fassungslos
an. Vor ihm stand kein Mensch, sondern eher ein menschliches Wrack. Rote Augen, fettige, ungekämmte Haare und Dreitagebart auf gräulicher, blasser Haut. Bosse ging es ganz offensichtlich nicht gut. Seit Oswalds Rückkehr war auch der letzte Funken Hoffnung auf seine Zukunft auf ViaTerra erloschen. Denn Bosse war fürs Personal zuständig, und nach der Abkanzelung, die gerade stattgefunden hatte, blieb ihm wahrscheinlich nur noch der Sprung mit Madde vom Teufelsfelsen. Morgens, mittags, abends.
Trotzdem hatte Jacob den Eindruck, dass ein anderer, ein neuer Bosse vor ihm stand. Er strahlte eine fast schon unangemessene Ruhe aus, ohne jede Wut oder Hysterie.
Da begriff er.
Als würde er mit Bosse ein telepathisches Gespräch führen, wie mit seinen Kühen.
»Ich möchte dir noch eine Sache sagen, bevor ich in den Stall gehe.«
»Ja, was denn?«
»Es gibt eine Lösung. Mehr sage ich jetzt nicht dazu. Also, frag nicht weiter.«
»Daran wäre ich sehr interessiert«, erwiderte Bosse.
Dieser Wortwechsel hatte etwas Magisches, fand Jacob. Jeder wusste genau, was der andere dachte, gleichzeitig gab es nichts Verräterisches, keine Beweise, keine Worte, die man gegen sie verwenden könnte, nur ein fast gespenstisches, wunderbares Einvernehmen.
»In ein paar Wochen gibt es die Gelegenheit wieder.«
»Sag mir Bescheid.«
»Das mache ich, aber jetzt muss ich in den Stall. Vielen Dank, dass du das für mich tust.«