KAPITEL 41
Sie sahen sich mehrmals in der Woche, aber er blieb nie über Nacht. Verschwand, während sie schlief, und morgens wachte sie mit einem fast schmerzhaften Verlangen auf. Benjamin war im Bett wie ein Hundewelpe, der mit seiner Zunge und den Pfoten überall herumtapste. Mattias war viel berechnender und methodischer. Erst im allerletzten Moment gab er sich hin, und das Fiebern auf diesen Augenblick hin trieb sie fast in den Wahnsinn. Er löste eine Qual und auch eine Art Genuss in ihr aus. Zog sie langsam aus, fesselte sie, entfesselte, war nie gewalttätig, aber immer dominant.
Obwohl sie auch andere Dinge miteinander unternahmen, hatten sie doch in erster Linie eine sexuelle Beziehung. Sie fing an, süchtig nach ihm zu werden, wie nach einer Droge. Dazu kam das erregende Gefühl, ein Geheimnis zu haben, was ein wunderbares, erotisches Schuldgefühl auslöste.
Als er eines Tages vorschlug, dass sie zusammen nach Schweden zurückfliegen könnten, war sie ziemlich überrascht.
»Warum? Dann ist man doch nicht so allein im Flieger. Außerdem werde ich dich ganz schön vermissen, das kann ich dir sagen.«
»Aber du weißt doch, dass ich die Sache mit Benjamin zuerst klären muss, bevor …«
»Ja, ich weiß, mit dieser Spaßbremse.«
Schließlich entschied sie sich aber doch dafür, mit Mattias die Rückreise anzutreten. Ihr Visum würde ohnehin in ein paar Monaten ablaufen, außerdem hatte sie Heimweh. Sie schrieb allen, wann sie nach Hause käme. Sie hatte ihre Wohnung in Lund vermietet, also würde sie vorerst bei ihren Eltern wohnen, damit der Untermieter sich in Ruhe was Neues suchen konnte.
Eine Woche vor ihrer Abreise rief Mattias an.
»Sofia, ich habe Flugtickets für den halben Preis gefunden, da müssten wir aber einen Tag früher losfliegen. Kannst du das?«
Ihre Gedanken waren sofort bei ihrem bereits geplünderten Konto.
»Klar, dann muss ich aber zu Hause allen Bescheid sagen, dass ich früher komme.«
»Tu das nicht. Ich möchte noch einen Tag mit dir in Göteborg verbringen, nur wir beide in meiner Wohnung.«
»Das kann ich nicht, du weißt doch genau, dass ich …«
»Mit Benjamin reden muss, bla bla bla … Ach komm, ein letzter Tag. Bei mir zu Hause. Danach fährst du mit dem Zug weiter und kannst selbst entscheiden, ob wir uns wiedersehen oder nicht.«
Schon bei der Erwähnung seiner Wohnung war sie erregt gewesen. Es klang, als hätte er etwas Bestimmtes vor.
»Ich bezahl das neue Ticket und kümmere mich um die Umbuchungen, einverstanden? Was sagst du?«
»Okay, meinetwegen.«
»Super, aber bitte erzähl niemandem, dass wir früher ankommen. Ich möchte dich ganz für mich allein haben. Versprichst du es mir?«
»Wir werden doch den Hammer-Jetlag kriegen.«
»Ich mag es, wenn du schläfrig und gefügsam bist.«
Das war einfach alles zu gut, um wahr zu sein. Sie würde noch ein letztes Mal mit ihm schlafen können und mit zehntausend Kronen extra auf dem Konto nach Hause kommen. Am nächsten Tag würde sie dann mit dem Zug nach Lund fahren, zu ihren Eltern. Das Gespräch mit Benjamin gleich nach ihrer Ankunft in Göteborg zu führen ergab unter diesen Umständen sowieso keinen Sinn.
An ihrem letzten Abend in Palo Alto saß sie lange auf ihrem Balkon und hing ihren Gedanken nach. Sie hatte alle Möbel verkauft und den Rest einem Secondhandladen geschenkt. Sie hatte nur ihr Bett behalten, das der Käufer am nächsten Morgen abholen würde, und ihre beiden Koffer.
Der Frühlingshimmel verdunkelte sich und verwandelte sich in einen blutroten Sonnenuntergang. Die Luft schien stillzustehen. Sie dachte an Melissa, die geweint hatte, als sie sich verabschiedet hatten. Sie dachte auch an ihre Arbeitskollegen. An die Freiheit, die sie hier in Palo Alto erlebt und genossen hatte. An das schöne Licht und die immergrüne Vegetation. Trotzdem hatte sie immer gefühlt, dass es nicht ihr richtiges Leben war. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie seit Wochen nicht mehr von Oswald geträumt hatte. Dass sie in letzter Zeit nicht einmal mehr an ihn gedacht hatte. Das musste bedeuten, dass er aufgegeben hatte. Ja, so musste es sein. Und mit dieser Erkenntnis löste sich ein innerer Druck, von dessen Existenz sie bis dahin nichts gewusst hatte.
Absurderweise meldete sich noch ein anderes Gefühl, eine diffuse Sehnsucht. Sie fand das so unlogisch, dass sie darüber nicht weiter nachdenken wollte. Er war der einzige Mensch gewesen, den sie jemals kennengelernt hatte, dem ein Selbstzweifel vollkommen fremd war. Er hatte immer einen Plan, von dem er nie auch nur einen Millimeter abwich. Sie hingegen hatte sich in den vergangenen zwei Jahren wie ein Insekt gefühlt, das sein Gleichgewicht verloren hatte und nur im Kreis geflogen war. Aber dieser Höllenritt war jetzt vorbei. Sie würde nach Schweden zurückkehren und wieder ein normales Leben führen.
Sie flogen direkt von San Francisco nach Kopenhagen und von dort weiter nach Göteborg. Mattias war auf dem Flug ungewöhnlich still gewesen. Er hatte sich Kopfhörer aufgesetzt, Musik gehört und aus dem Fenster gesehen. Er aß auch kaum etwas. Dafür schlief er ein paar Stunden mit offenem Mund, den Kopf an ihre Schulter gelehnt. Der sexuellen Anziehung zwischen ihnen hatte sich noch etwas anderes hinzugesellt. Eine Spannung. Er wirkte nervös, trommelte immer mit den Fingern auf der Armlehne herum. Wippte mit den Beinen.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Wie?« Er nahm die Kopfhörer ab.
»Was ist mit dir los? Du wirkst so angespannt.«
»Nein, alles in Ordnung. Ich bin mir bloß unsicher, ob ich Lust habe, wieder in Schweden zu sein. Was ist denn, wenn ich nicht mehr ohne dich leben kann?«
»Ach, jetzt hör auf! Wir wohnen doch gar nicht so weit entfernt voneinander.«
Sie machte kein Auge zu, ihr Nacken wurde steif, sie fror und musste von der trockenen Luft niesen.
Vom Flughafen nahmen sie ein Taxi in die Stadt zu Mattias’ Wohnung, die mitten im Zentrum lag. Als Sofia die Wohnung betrat, fühlte sie sich, als wäre sie in eine Zeitfalte geraten: den einen Ort hatte sie noch nicht verlassen, den anderen noch nicht erreicht. Die Wohnung war so außergewöhnlich, dass sie schon fast surreal wirkte. An die vier Meter Deckenhöhe, alles war in Weiß und Grau eingerichtet und sah frisch renoviert aus, hier war skandinavischer minimalistischer Luxus auf die äußerste Spitze getrieben worden, kein Schnickschnack, und jedes Möbelstück kostete ein Vermögen.
Im Wohnzimmer stand ein antiker Kachelofen, flankiert von zwei großen Bronzeskulpturen, einem Phallussymbol und einem Vogel mit ausgebreiteten Flügeln. Der Raum war sparsam möbliert, nur eine Sitzgruppe und eine Musik- und Fernsehanlage. An den Wänden hingen drei gerahmte Fotografien mit erotischen Motiven, die sich an der Grenze zum Pornographischen bewegten. Auf der ersten saß eine nackte Frau in der Hocke und hielt ihre gefesselten Hände hoch. Nur ihre Augen waren scharf zu sehen. Auf dem zweiten Foto sah man den Rücken eines Mannes und eine geknebelte Frau, die unter ihm lag. Die dritte Aufnahme war das Porträt eines weiblichen Gesichts. Die Frau trug ein ledernes Halsband mit Nieten, ihre Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet.
»Die sind von einem berühmten Fotografen. Dieter Rysch heißt der. Kennst du ihn?«
Sofia war noch nicht richtig zu sich gekommen, die Fotos hatten ihr auch ein bisschen den Atem geraubt. Sie erkannte, dass Mattias’ dominante sexuelle Neigung ein Lebensstil war und nicht etwa ein Abenteuer, das sie zusammen ausgelebt hatten. Sie musste schlucken.
»Nein, den kenn ich nicht«, antwortete sie. Fühlte sich plötzlich gar nicht mehr wohl.
Er legte seine Hände auf ihre Schultern. Schob sie ins Schlafzimmer, das genau genommen nur aus einem riesigen Bett und Tausenden von Spiegelbildern von ihr bestand – denn Wände und Decke waren komplett mit Spiegeln ausgekleidet .
Er drückte sich von hinten gegen sie und legte seine Hände auf ihre Brüste.
»Ich hoffe, dir gefällt unsere kleine Höhle.«
»Unsere? Wohnst du hier mit jemandem zusammen?«
»Nein, die Wohnung gehört einem Freund von mir. Aber er ist nur selten hier, ist meist auf Geschäftsreise. Wir teilen sie uns.«
»Die Miete ist doch bestimmt unfassbar teuer?«
»Ich bezahle überhaupt keine Miete. Dafür helfe ich ihm manchmal bei irgendwelchen Sachen, wir sind richtig gute Kumpel.«
»Das hast du ja geschickt eingefädelt. Wer ist der Typ? Kennt man den?«
»Nee, Geschäftsmann halt. Ziemlich erfolgreich.«
»Und was macht ihr hier?«
»Na, das liegt doch auf der Hand. Wir haben hier mit Mädels Spaß. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
»Wohl kaum. Ich wollte nur sichergehen, dass ich nicht in einem Bordell gelandet bin.«
Er kniff ihr in die Wange.
»Das ist unfair. Du musst zugeben, dass es eine ziemlich coole Location ist.«
Sie murmelte eine Antwort – und wusste nicht, ob sie schockiert oder beeindruckt sein sollte. War zu müde, um sich zu entscheiden.
»Weißt du was, ich möchte jetzt schlafen. Ich bin so was von müde.«
»Klar, aber nimm ein Bad, um den Dreck von der Reise loszuwerden.«
»Warum das denn?«
»Komm, ich zeig dir das Badezimmer.«
Es lag direkt hinter dem Schlafzimmer, war ganz in Marmor gekleidet, und die Badewanne stand auf einem Podest, sodass man über zwei Stufen einsteigen musste. Über der Badewanne war ein Dachfenster angebracht. Er ließ ihr Wasser ein, während sie sich auszog und ihre Sachen ordentlich gefaltet auf eine kleine Bank legte. Als sie ins Wasser tauchte, befürchtete sie, sofort einzuschlafen, aber dann sah sie durch das Dachfenster in den Himmel. Von dort konnte man die Sterne erkennen. Als würde man im Weltall baden.
Der Genuss wurde nur getrübt, als Mattias plötzlich anfing laut zu fluchen. Er kam ins Badezimmer.
»Mein Computer hat gerade die Grätsche gemacht, und ich habe mein Ladekabel im Flieger liegen lassen. Darf ich deinen kurz benutzen?«
»Klar, liegt neben dem Sofa im Wohnzimmer.«
Eine Weile hörte man nur das Klappern der Tastatur. Sie hatte das Gefühl, Sand in den Augen zu haben. Ihr Kinn kippte immer wieder auf die Brust. Das Wasser war kalt geworden, sie hievte sich aus der Wanne und wickelte sich in ein Handtuch. Sie schickte ein kurzes Stoßgebet in den Himmel, dass er jetzt keinen Sex mehr haben wollte, weil sie viel zu müde war. Er war in der Küche, wo er gerade zwei Gläser mit Wein füllte.
»Komm, trink das Glas aus, dann wirst du schlafen wie ein Stein. Ich muss auch schlafen. Muss nur noch ein paar Dinge erledigen. Und morgen haben wir den ganzen Tag nur für uns.«
Der Wein schmeckte würzig und stark. Sie trank ein halbes Glas, aber dann wurde ihr übel, und sie krabbelte ins Bett, ihr war ein bisschen schwindelig. Kurz bevor sie einschlief, kam ihr der komische Gedanke, dass sie nicht zum ersten Mal in dieser Wohnung war .
Sie wachte in Etappen auf. Ihr Kopf war schwer, und sie hatte Schwierigkeiten, die Augen zu öffnen.
Heute Abend fahr ich nach Hause, dachte sie, aber ihre Vorfreude wurde von einer Welle aus Übelkeit getrübt. Ihre Arme und Beine gehorchten ihr nicht, das Gehirn sendete Impulse, die ihre Muskeln nicht umsetzen konnten. Sie war wie gelähmt, konnte sich vom Hals abwärts nicht bewegen.
Da hörte sie Mattias’ Stimme. Gedämpft, flüsternd. Und dann hörte sie eine zweite, tiefere Stimme.
Da war noch jemand in der Wohnung.