KAPITEL 42
Jacob hatte ein gutes Gespür dafür entwickelt, wie die Stimmung auf ViaTerra war. An diesem Tag merkte er sofort, dass etwas im Gange war. Er stand an der Stalltür, sah auf den Hof und wusste: Es würde etwas passieren.
Oswald hatte das gesamte Personal zum Teich geschickt, der im nördlichen Teil des Anwesens lag. Sie hatten den Auftrag bekommen, das Areal aufzuräumen, weil »es dort furchtbar aussah«. Alle mussten daran teilnehmen, mit Ausnahme der Wachen. Außerdem sei es gut für die Gesundheit, einen Tag an der frischen Luft zu verbringen, hatte Oswald gesagt. Aber Jacob konnte er damit nicht täuschen. Oswald interessierte sich ebenso wenig für den Wald und den Teich wie für die Gesundheit seines Personals. Nämlich gar nicht.
Oswalds Interesse an seinen Anhängern war in den Wochen seit seiner Rückkehr massiv zurückgegangen. Er schrie sie immer wieder an, wie nutzlos und überflüssig sie waren. Sie sollten ruhig tun, was sie wollten, er habe keine Lust mehr, seine Zeit mit ihnen zu verschwenden. Auf die Betroffenen hatte dieses Desinteresse immer die stärkste Wirkung. Damit nahm er ihnen die Orientierung, und sie rannten herum wie Zombies, mutlos und verzweifelt.
Oswalds Wutanfall war durch eine Bagatelle ausgelöst worden. Erik aus der Ethikabteilung hatte bei einer Versammlung vergessen, Oswald mit »Sir« zu titulieren. Oswald
hatte ihn daraufhin gefragt: »Was meinst du, wer ist dein Boss hier?« Woraufhin Erik geantwortet hatte: »Bosse.« Dies hatte eine Tirade an wüstesten Beschimpfungen ausgelöst. Oswald war im Herrenhaus verschwunden, hatte die Tür hinter sich zugeknallt und das Personal ratlos zurückgelassen. Aber nur, um kurz darauf wieder auf dem Hof zu erscheinen.
»Wenn ihr noch immer nicht begriffen habt, wer hier das Sagen hat, könnt ihr alle genauso gut nach Hause zu Mama und Papa zurückkriechen und bei McDonald’s arbeiten.«
»Sir, bitte verzeihen Sie. Ich meinte meinen direkten Chef«, versuchte Erik sich zu entschuldigen. Aber das verstärkte Oswalds Wut nur noch, er warf die Hände in die Luft und stürmte wieder davon. Dieses Mal kam er nicht zurück.
Kurz darauf stand Erik an der Mauer und war damit beschäftigt, einen tiefen Graben auszuheben. Als Bosse verschwand, wurde die Situation noch schlimmer. Denn das wurde ihnen allen angelastet. Jacob aber fühlte sich nicht im Entferntesten schuldig. Seine Unentschlossenheit hatte sich aufgelöst, seit er mit Simon in Kontakt stand. Er wusste, dass er auch die Option hatte, jederzeit fliehen zu können. Hoffentlich würde es ihm bis dahin gelingen, Oswalds durchbohrendem Blick aus dem Weg zu gehen. Bloß keinen Ärger machen oder zu viel Aufmerksamkeit erregen und am Ende permanent überwacht werden.
Elvira befand sich an diesem Tag nicht auf dem Anwesen. Sie war mit den Kindern aufs Festland zu ihrer Tante geschickt worden. Elvira schien es doch ganz gut getroffen zu haben. Kindermädchen kümmerten sich den ganzen Tag um die Zwillinge, und sie bekam dasselbe Essen wie Oswald, also nur vom Feinsten. Jacob war auch zu Ohren gekommen,
dass ihr jeden Monat eine stattliche Summe ausgezahlt wurde. Gerüchte hatten in dieser kleinen Gemeinschaft schnelle Beine, und es gab einige, die neidisch auf sie waren. Jacob gehörte nicht dazu. Er bekam mit, dass Oswald sie ab und zu in ihrer kleinen Hütte besuchte, und da wollte er nicht in Elviras Haut stecken. Auf gar keinen Fall.
Jacob hatte den Arbeitsauftrag am Teich umgehen können, weil er behauptet hatte, dass eine der Kühe jederzeit kalben könnte, obwohl er wusste, dass es mindestens noch eine Woche dauern würde. Und da sich Oswald nicht um eine kalbende Kuh kümmern wollte, durfte Jacob bleiben. Er hatte beschlossen, die Zeit dafür zu nutzen, um sich um die Tiere zu kümmern, was in letzter Zeit zu kurz gekommen war. Er musste ausmisten und frisches Stroh in den Boxen verteilen, aber zwischendurch warf er auch immer wieder einen Blick nach draußen auf den Hof.
Deshalb sah er den Wagen durch das Tor fahren, schwarz mit getönten Scheiben. Er kam wie schleichend auf den Hof gerollt, wie ein Raubtier auf der Jagd, und hielt vor dem Eingang des Herrenhauses an.
Zwei Männer stiegen aus dem Wagen. Benny und ein Dunkelhaariger, den Jacob noch nie zuvor gesehen hatte. Da kam Oswald aus dem Haus, gehetzt und genervt. Er schnauzte Benny an, der zurückwich und den Blick senkte.
Es war ein grauer, verhangener Tag mit Nieselregen, der wie feine Asche vom Himmel fiel. Der Frühling machte eine Pause, die Insel war in eine dicke, graue Decke gehüllt, die sich nicht heben wollte. Oswald schüttelte irritiert den Kopf, seine Haare waren mit feinen Wassertropfen bedeckt.
»Verdammt noch mal, jetzt beeilt euch doch!« Jacob konnte ihn auch drüben im Stall hören.
Die beiden Männer öffneten die hintere Tür auf der
Fahrerseite, zogen einen in ein weißes Laken gewickelten Gegenstand vom Rücksitz und hoben ihn hoch. Jacob vermutete, dass sich Oswald ein neues Gerät für seinen Fitnessraum gekauft hatte, den er sich gerade einrichtete.
Er hielt die Eingangstür auf, und Benny und sein Begleiter schleppten den Gegenstand ins Haus. Etwa zehn Minuten waren sie im Inneren verschwunden, Jacob hatte gewartet, bis sie wieder herauskamen. Der Unbekannte sprang in den Wagen, Benny öffnete ihm die Pforte, und das Auto verschwand im Nebel.
Jacob warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Viertel nach eins. Er hatte Hunger und beschloss, sich in der Küche nach etwas Essbarem umzusehen. Das Personal hatte zum Arbeitseinsatz Brote mitgenommen, und er hoffte, dass sie ihm noch etwas übrig gelassen hatten. Während er über den Hof ging, dachte er darüber nach, was sich wohl unter dem Laken befunden hatte. Normalerweise war Oswald sehr stolz auf seine neuen Errungenschaften und versäumte keine Gelegenheit zu betonen, dass nur er sie benutzen durfte. Aber dieses Mal hatte er alle weggeschickt, und das machte Jacob neugierig.
In der Küche brannte Licht, das Personal hatte den Hof offenbar in großer Eile verlassen, denn überall lagen noch Lebensmittel und Küchengeräte herum. Jacob schmierte sich ein paar Brote, die er sich in die Jackentasche steckte. Er wollte gerade das Licht ausmachen und gehen, als ihm einfiel, dass er Durst hatte. Er holte eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und steckte sie sich in die andere Jackentasche.
Es hatte aufgehört zu regnen, der Nebel löste sich allmählich auf und schien nach oben in den Himmel zu schweben. Jacob blieb am Gewächshaus stehen, das ganz verwahrlost und heruntergekommen war, seit Simon ViaTerra verlassen
hatte. Es beherbergte nur noch verwelkte, vertrocknete Pflanzen, denn sie hatten keinen Ersatz für Simon gefunden. Die Stimmung hatte sehr gelitten, als Oswald hatte erkennen müssen, dass sie in Zukunft auf das selbst angebaute ökologische Gemüse verzichten mussten.
Jacob stand an der Tür zum Gewächshaus, als er den Schrei hörte. Die dicken Mauern des Herrenhauses dämpften ihn zwar, trotzdem erstarrte Jacob vor Schreck. Ein langgezogener Schrei, ein zweiter folgte – und dann eine erdrückende Stille. Es wurde so still, dass Jacob das Zwitschern eines Vogels auf der anderen Seite der Mauer hören konnte.