KAPITEL 43
Beim Anblick von Franz Oswald vor seiner Zimmertür wurde Simon ganz weich in den Knien. Er hatte zwar keine Angst vor ihm, aber der Mann erinnerte ihn doch an das klaustrophobische Gefühl in seiner Zeit bei der Sekte. Außerdem wirkte Oswald vor dem Hintergrund der Gewächshäuser und Felder in seiner teuren Kleidung fehl am Platz. Wie ein Modeshooting in falscher Kulisse. Außerdem war er braun gebrannt, was Simon unmöglich fand, denn das bedeutete doch, dass er sein Solarium offenbar schon wieder benutzte.
»Ich grüße dich, Simon. Es ist schon eine Weile her.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Du, ich möchte auch nicht weiter stören. Ich will nur fragen, ob du Bosse gesehen hast? Er treibt sich draußen herum, und wir machen uns allmählich Sorgen um ihn.«
»Bosse? Nein, den hab ich nicht gesehen.«
Oswald bohrte seinen Blick geradezu in Simon hinein, aber der starrte unverwandt zurück. Er fühlte sich nicht im Geringsten schuldig. Im Gegenteil gefiel es ihm, Oswald anzulügen.
»Wenn du das sagst.«
Oswald sah über Simons Schulter in das Zimmer hinter ihm.
»Schön hast du es hier. Aber du weißt, die Dinge können sich jederzeit ändern.
«
»Inwiefern?«
»Wer weiß. Vielleicht kaufe ich die Pension. Ich habe darüber nachgedacht, in Landwirtschaft zu investieren. Jetzt, nachdem ihr Preise gewinnt und so. Dann würdest du wieder für mich arbeiten. So wie in den guten alten Zeiten.«
Wagte es dieser Mistkerl tatsächlich, ihm zu drohen?
»Ich glaube nicht, dass Inga daran interessiert ist zu verkaufen.«
»Und wenn sie gar keine Wahl hätte? Ach komm, war doch nur Spaß, Simon. Du siehst ja ganz verzweifelt aus. Dann kannst du dir in etwa vorstellen, wie große Sorgen ich mir wegen Bosse mache. Er war in letzter Zeit ein bisschen durch den Wind. Wenn er sich meldet, kannst du ihm sagen, dass er sich keine Gedanken machen muss. Er soll mich einfach bloß anrufen, wir finden für alles eine Lösung.«
Oswald streckte Simon seine Visitenkarte hin. Automatisch griff er danach.
»Sonst noch was?«
»Nein, jetzt kannst du wieder das machen, was du hier so zu tun hast«, sagte er und zeigte auf die Felder und Gewächshäuser. Dann nickte er.
Simon hatte begriffen, dass sich Oswald nicht nur wegen Bosse bei ihm gemeldet hatte, er brauchte auch dringend einen Gärtner. Deshalb war er für ihn wieder interessant geworden. Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit.
Er sah dem Mann hinterher, wie er in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Sein Blick fiel auf die Visitenkarte in seiner Hand. Jetzt habe ich wenigstens seine Handynummer, dachte er. Vielleicht brauche ich die eines Tages noch mal.
Er rief Bosse, der mit entgeistertem Gesichtsausdruck aus dem Badezimmer kam. Wenige Minuten später saßen sie im Auto und waren auf dem Weg zur Fähre, die sie zum
Festland brachte, von wo aus er den Zug nach Småland nehmen würde.
Bosse war sehr schweigsam, antwortete kaum und war ziemlich blass geworden.
»Hier auf der Fähre ist niemand von ViaTerra«, beruhigte ihn Simon. »Ich habe eine Runde gedreht und alles überprüft. Und wenn wir angelegt haben, fahren wir direkt weiter zum Bahnhof.«
»Darum geht es gar nicht«, sagte Bosse. »Ich habe seine Stimme gehört, er klang vollkommen ruhig, und ich fühle mich wie ein Feigling, der einfach abhaut. Wie ein Verräter.«
»Ganz ehrlich, Bosse, der macht sich keine Sekunde Sorgen um dich, er hatte tierisch Angst, dass du nicht den Mund halten könntest und Geheimnisse von ViaTerra verrätst. Verstehst du?«
»Ja, du hast bestimmt recht. Es ist sicher schwer für andere, das zu verstehen, aber er hat mir geholfen, als sich niemand um mich gekümmert hat. Das ist kompliziert.«
Simon seufzte.
»Du entscheidest. Wir können auch wieder umdrehen.«
»Nein, bloß nicht. Es ist nur so … Ich kann nicht zurück zu ihm, ich mag aber auch nicht gehen. Das ist wie eine Sackgasse. Und egal, was ich tue, alles geht immer kaputt.«
Bosse schüttelte sich, als würde er etwas loswerden wollen. Dann drehte er sich zu Simon und lachte ein heiseres Lachen, das sofort von dem Nebel verschluckt wurde, durch den sie fuhren.
»Natürlich fahre ich zu deinen Eltern auf den Hof, Simon. In mir kommen nur ab und zu diese traurigen, dunklen Gedanken hoch. Vielen Dank, dass du mir so hilfst.«
Aber seine Sätze klangen nicht, als kämen sie aus dem Herzen. Schon Oswalds Nähe hatte Bosse vollkommen
durcheinandergebracht. Simon wurde unruhig, redete sich aber ein, dass bestimmt alles besser werden würde, wenn er erst einmal mit der Arbeit angefangen hatte.
Das Schweigen im Auto war fast unerträglich. Simon schaltete das Radio ein. Konzentrierte sich auf die Straße und die Nachrichten, aber ausgerechnet jetzt kam etwas über Anna-Maria Callinis Tod. Offenbar gab es neue Erkenntnisse über die Todesursache, die mit Genickbruch angegeben wurde. Bosse stöhnte auf.
»Hat euch Franz nichts von ihrem Tod erzählt?«, fragte Simon.
Bosse schüttelte ungläubig den Kopf.
»Nein? Also es geht um Franz’ Anwältin, die mit seinem Motorrad tödlich verunglückt ist.«
Sie unterhielten sich eine Weile darüber, dann verfiel Bosse wieder ins Grübeln.
Der Bahnhof war voller Menschen. Simon hoffte, dass Bosse das mochte, die Wärme der Mitmenschen spüren zu können. Aber tatsächlich wirkte es eher so, als würde er aus der Menge hervorstechen, nicht dazugehören. Er sah sich immer wieder nervös über die Schulter, kaute auf der Unterlippe.
Der Zug hatte eine halbe Stunde Verspätung.
»Ich warte mit dir, kein Problem«, sagte Simon.
»Nein, das tust du nicht. Ich komme schon allein zurecht. Ich setz mich auf eine Bank und denke nach. Vielen Dank, Simon, für alles, was du für mich getan hast. Ich werde es hoffentlich eines Tages wiedergutmachen können.«
»Kein Wort darüber. Aber tu mir einen Gefallen: Lass nicht zu, dass meine Mutter dich bekehrt.«
Bosse lachte.
»Wer weiß. Ich finde, ›Gottes Weg‹ klingt eigentlich ganz gut.
«
»Oh, bloß nicht, aber meine Mutter hat mir auch versprochen, dich in Ruhe zu lassen. Mein Vater ist zwar etwas seltsam, aber er wird dich sicher beschützen. Wenn euch einer von den Oswald-Klonen zu nahe kommt, wird er garantiert seine Schrotflinte rausholen.«
Sie umarmten sich unbeholfen. Bosse war so mager, dass Simon seine Rippen unter der Jacke spürte. Er roch nach Simons Shampoo und der neuen Jacke aus Synthetik, als hätte er seinen ganz eigenen Geruch noch nicht gefunden. Bosse zeigte auf das Handy, das ihm Simon gegeben hatte.
»Bist du dir ganz sicher, dass du mir das überlassen willst?«
»Selbstverständlich, damit du mich anrufen kannst. Aber das ist ein Prepaidhandy, das musst du wieder aufladen.«
»Und du? Das ist doch deine Nummer.«
»Ich besorge mir ein neues. Mein Freundeskreis ist überschaubar.«
Bosse lächelte zaghaft. Konnte sich nicht recht von Simons Anblick lösen.
»Also, mach’s gut. Wir sehen uns.«
Bevor Simon das Gleis verließ, drehte er sich noch einmal um. Bosse war aufgestanden und den Bahnsteig hinuntergelaufen. Er wurde immer kleiner und kleiner, bis er ganz verschwamm.
Das sonderbare Gefühl meldete sich erst, als er hinter dem Steuer saß. Trotzdem startete er den Wagen und fuhr vom Parkplatz. Als er auf der Straße war, war aus dem Gefühl Beklemmung geworden, seine Hand zitterte. Er war sogar kurz davor, die Kontrolle über das Auto zu verlieren, und sah sich gezwungen, rechts ranzufahren und anzuhalten. Er begriff nicht ganz, warum ihn eine solche Panik erfasst hatte, sein ganzer Körper zitterte. So hatte er sich noch nie gefühlt. Oder doch? Ein Bild flimmerte vorbei. Bosses Augen. Da
wusste Simon, was Bosse hinter dem gezwungenen Lächeln versteckt hatte. Sein Blick warf Simon um vier Jahre zurück, sein Magen rebellierte, und alles um ihn herum drehte sich. Daniel und Bosse. Derselbe Blick – und er kannte ihn.
Er musste sich wahnsinnig zusammenreißen, um den Motor wieder zu starten, einen U-Turn zu machen und zurück zum Bahnhof zu fahren. Er nahm die anderen Autofahrer kaum wahr, fuhr auch viel zu schnell. Er hatte jedes Gefühl verloren. Er hatte es nur eilig. Furchtbar eilig.
Als er nicht auf Anhieb einen Parkplatz fand, stellte er sich kurzerhand auf den Behindertenparkplatz. Er riss die Tür auf, ließ den Schlüssel stecken und rannte los. Rempelte auf seinem Weg Passanten an, ihm wurden wütende Beschimpfungen hinterhergerufen, aber Simon hörte das alles nicht. Er stürmte nur weiter. Hielt erst auf dem Bahnsteig an, von dem Bosses Zug fahren sollte. Aber er konnte Bosse nirgendwo sehen. Da rannte er los, den Bahnsteig hinunter, wusste es jetzt ganz sicher. Er stolperte über Koffer, musste sich an den Wartenden vorbeidrängen, und da endlich sah er ihn, einen Schatten … ganz hinten, am Ende des Bahnsteigs. Die Stimme im Lautsprecher kündigte den einfahrenden Zug auf diesem Gleis an. Bosses Zug.
»Nein!«, schrie Simon. Aber der Schatten reagierte nicht. Simon rannte nicht mehr, er flog wie ein Pfeil, während das Surren der Gleise lauter wurde. Der Schatten war zu einem Körper geworden, der viel zu nah am Rand stand. Gerader Rücken, starr und steif wie ein Stock. Simon schrie wieder. Noch lauter. Das letzte Stück hechtete er, warf sich nach vorn und packte Bosses Unterschenkel, riss ihn zur Seite. Simon knallte mit dem Kopf auf den Bahnsteig, und Zehntelsekunden später fiel Bosse auf ihn.
Sie spürten den Windzug des einfahrenden Zuges. Das
Zischen und Knirschen der Bremsen auf den Schienen war so laut, dass es Bosses Schreie übertönte. Sie blieben eine Weile so liegen, umschlungen, Simon keuchte, Bosse heulte wie ein kleines Kind.
Einige der wartenden Fahrgäste reagierten sofort, kamen angerannt. Der Zug fauchte und quietschte, als er langsam zum Stehen kam. Simon schob Bosse von sich runter und setzte sich auf. Bevor Simon etwas sagen konnte, hörte er Bosses wimmernde Stimme.
»Er hat mich angerufen. Der miese Kerl hat mich angerufen.«