KAPITEL 4
7
Als das Personal vom Arbeitseinsatz am Teich zurückkam, rief Oswald sie zu einer außerordentlichen Versammlung zusammen. Zitternd standen sie an diesem kalten Frühlingsabend auf dem Hof und warteten darauf, in den Saal gelassen zu werden. Hungrig und müde. Aber die Mitteilung konnte nicht warten. Jacob schob sich leise in den Saal und setzte sich in die hinterste Reihe. Sein Kopf quoll über vor Fragen. Wer hatte geschrien? Was war die geheimnisvolle Lieferung? Vielleicht würde ihnen das Oswald jetzt erzählen. Und hoffentlich hatte er gute Laune. Jacob konnte die anfallenden Arbeiten im Stall bewältigen, aber er hatte keine Kapazitäten für weitere Katastrophen.
Aber Oswalds Rede hatte keinen zuversichtlich stimmenden Auftakt. Er hielt sich am Pult fest und stand so eine Weile schweigend vor ihnen, was meistens ein Vorbote für einen nachfolgenden Wutausbruch war. Es war vollkommen still im Saal, nur ein paar vereinzelte Huster. Man hörte den Unmut in seiner Stimme, als er endlich das Wort ergriff.
»Eigentlich ist es unverzeihlich, was ihr in meiner Abwesenheit auf dem Anwesen angerichtet habt. Heute hatte ich schon den Impuls, euch einfach alle rauszuschmeißen, euch zurück aufs Festland zu bringen und mir neue Mitarbeiter zu suchen. Ehrlich gesagt, ich bin sprachlos.«
Das Personal rutschte nervös auf den Stühlen hin und her. Das Schamgefühl der Anwesenden war beinahe greifbar.
Jacob musste innerlich prusten, denn bisher hatte noch niemand ViaTerra verlassen dürfen. Aber genau davor hatten die meisten eine furchtbare Angst. Allerdings fragte sich Jacob, wie viele von ihnen sich insgeheim wünschten, dass er es tatsächlich umsetzte – ihrem Leiden endlich ein Ende machte.
»Während ihr unterwegs wart, hatte ich einen Gutachter hier vor Ort«, fuhr Oswald fort. »Ich fand nämlich, dass es im Keller seltsam riecht. Und richtig, da unten hat sich der Schimmel ausgebreitet. Ihr habt es letzten Herbst reinregnen lassen, das hat aber wie immer niemanden interessiert, und deshalb ist das alles voller Schimmel. Schön, oder?«
Jacob sah schon das gesamte Personal auf Knien den Boden schrubben. Dann war das Ding unter dem Tuch vielleicht ein Gerät, um den Schimmel loszuwerden.
»Jetzt ist es leider zu spät, etwas dagegen zu unternehmen. Außerdem traue ich euch nicht über den Weg. Eine Firma wird kommen, die sich professionell darum kümmert. Bis das alles beseitigt ist, wird der Zutritt zum Keller verboten sein. Verstanden? Niemand von euch hat da etwas verloren. Nicht einmal in der Nähe des Kellers will ich euch sehen.«
Jacob spürte, wie die Spannung von ihm abfiel. Sie würden also doch nicht in den Keller müssen. Das bedeutete nämlich, dass er mehr Zeit für seine Tiere hatte. Und auch mehr Zeit zum Schlafen. Vielleicht auch nur ein paar Nächte, bis sich die nächste Katastrophe anbahnte. Aber immerhin. Auf ViaTerra war Zeit so wertvoll wie Gold.
Oswald schüttelte den Kopf. Zuckte fassungslos mit den Schultern.
»Und wisst ihr, was ich am schlimmsten finde? Wie ihr mich anglotzt. Wie vollkommen hohle Zombies.«
Er wandte sich zu der Tafel um, die hinter ihm hing, und
nahm sich ein Stück Kreide. Dann zeichnete er einen Smiley, allerdings ohne das Lächeln. Nur einen Kreis mit zwei Punkten und einem Strich als Mund.
»So seht ihr aus. Wie Pfannkuchen. Mit dem heutigen Tag fügen wir dem ViaTerra-Vokabular ein neues Wort hinzu. Pfannkuchengesicht. Und ab heute wird es als ein Regelverstoß betrachtet, wenn einer von euch mich mit einem solchen Pfannkuchengesicht ansieht. Und ich sage nur eins: Es ist ziemlich kalt da draußen am Teufelsfelsen.«
Jacob versuchte fieberhaft, Bewegung in sein Gesicht zu bekommen, aber das ging nach hinten los. Denn er spürte, dass er lächelte, und das war bestimmt auch nicht richtig. Stattdessen versuchte er, ein bisschen Feuer in seinen Blick zu zaubern, war sich aber sicher, dass er vollkommen geisteskrank aussah. Glücklicherweise sah Oswald nicht in seine Richtung, er schüttelte nur traurig den Kopf und seufzte.
»Wir lassen das Abendessen heute mal ausfallen. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, euch hier herumsitzen und kichern zu lassen. Wenn ich ehrlich bin, halte ich es kaum aus, dass ihr euch hier auf meinem Eigentum aufhaltet.«
So wurden sie wie ungezogene Kinder ohne Essen ins Bett geschickt.
Zum Glück hatte sich Jacob noch ein Ersatzbrot geschmiert. Und frische Milch bekam er von seinen Kühen.
Er blieb sitzen, während die anderen langsam aus dem Saal schlurften. Normalerweise blieben alle sitzen, wenn Oswald einen seiner Wutanfälle gehabt hatte, aber seit Bosses Flucht war das Personal führerlos. Außerdem waren alle müde und froren, und niemand hatte Lust, diese Aufgabe zu übernehmen.
Jacob ging als Letzter, schlenderte langsam über den Hof, sog die kalte Luft tief in die Lunge. Jetzt war auch für ihn der
Zeitpunkt gekommen, ViaTerra zu verlassen. Übermorgen würde er sich wieder mit Simon treffen, dann konnten sie das planen. Ich werde mich sofort nach meiner Flucht an den Tierschutzverband wenden, beschloss er, damit meine Tiere gerettet werden.
Er verlor sich in der Fantasie, wie sein Leben in Freiheit aussehen könnte. Als Erstes würde er seine Eltern anrufen und ihnen mitteilen, dass jetzt alles vorbei sei. Dass er kein Sektenmitglied mehr war, das nur in Form von kryptischen, seelenlosen Briefen mit ihnen kommuniziert hatte.
Er bog gerade um die Ecke, als er sah, dass im Keller Licht brannte.
Und dann sah er etwas, was ihm den Atem raubte.