KAPITEL 50
Die Tür wurde mit Schwung geöffnet und knallte gegen die Wand. Sofia zuckte zusammen, hätte fast das Tagebuch fallen lassen. Oswald trug Sportsachen, der Schweiß lief ihm die Stirn hinunter, in der Hand hatte er einen Stapel Papiere. Er sah ungewöhnlich zufrieden aus, seine Augen leuchteten.
»Die neuen Thesen!«, rief er triumphierend und wedelte mit dem Stapel. Nichts an seinem Verhalten erinnerte an die Ereignisse des gestrigen Tages. Dort stand er, ihr Vergewaltiger, und redete mit ihr, als wären sie die besten Freunde. Vielleicht war er so aufgedreht, dass sie ihn überreden konnte, sie gehen zu lassen.
Da sah sie seine Erregung, die trotz Sporthose deutlich zu erkennen war. Hatte ihn sein religiöses Geschwafel so erregt, oder wollte er sich wieder an ihr vergehen?
Während er die Tür zuzog und von innen abschloss, legte sie die Familienchronik neben sich aufs Bett.
»Hast du sie schon durchgelesen?«, fragte er.
»Nein, ich wollte gerade damit anfangen«, log sie. Sie wollte nicht mit ihm über den Inhalt sprechen, bevor sie alles durchgelesen hatte.
Er legte seinen Stapel fast liebevoll auf den kleinen Tisch und setzte sich zu ihr aufs Bett.
»Ich hatte gerade mit meiner Spinning-Einheit angefangen, als mir der Gedanke kam, dass du unbedingt meine
neuen Thesen lesen musst. Erst dann nämlich begreifst du das Ausmaß deines Verrats.«
»Lass mich bitte gehen!«, flüsterte sie. »Du hast mich doch jetzt genug gestraft. Bitte lass mich gehen.«
»Mein Herzchen, was du als Strafe bezeichnest, war für mich kein One-Night-Stand. Das bedeutet mir viel mehr, das musst du doch verstehen?«
»Du bist widerlich. Du kannst mich hier doch nicht gefangen halten.«
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er packte sie an den Haaren und zog sie zu sich, ihr Gesicht berührte fast das seine. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber er zog noch fester, bis sie schrie.
»Hingabe. In meinen neuen Thesen geht es um Hingabe. Der schmale Grat zwischen Leben und Tod. Es geht darum, die Rolle anzunehmen, die einem das Leben zugewiesen hat. In deinem Fall sieht deine Rolle vor, dass du dein Leben in meine Hände legst. Erinnerst du dich noch an Lily?«
»An wen?«
»Sie war meine Freundin, als ich jung war. Wir haben mit Peitschen und Seilen und so gespielt. Und dann hat sie sich plötzlich geweigert mitzumachen. Da ist es schiefgegangen. Für sie. Mach nicht denselben Fehler wie Lily.«
»Bäh, du bist so ein Widerling! Das macht mir keine Angst.«
»Und ob es das tut, Sofia. Vielleicht jetzt noch nicht, aber spätestens, wenn ich meinen Lederriemen um deinen Hals gewickelt habe. Das verspreche ich dir.«
Er zog sie noch näher zu sich heran. Berührte ihre Stirn mit seinen kalten Lippen.
»Mein Herzchen. Du bist so voller Leben. Das ist fast zu viel des Guten.
«
Er stand auf und holte seinen Thesenstapel. Setzte sich wieder neben sie und legte ihn vor sie aufs Bett.
»Das sind meine Aufzeichnungen, die ich im Gefängnis gemacht habe. Meine neuen Thesen. Ich habe mich damit eingehend beschäftigt und habe dadurch den Kern des Lebens gefunden. Danach habe ich ein paar der Übungen an den anderen Insassen in Skogome überprüft. Die waren vielleicht angestachelt danach, das kann ich dir sagen. Aber ich möchte, dass du zuerst die Zusammenfassung liest.«
Sie sah auf den Stapel vor sich, der bestimmt zehn Zentimeter stark war, und hoffte inständig, dass er sie nicht zwang, es laut vorzulesen. Auf der ersten Seite stand am Rand in großen, roten, krakeligen Buchstaben Verdammte Analphabetin
. Sie sah ihn überrascht an.
»Ach, darüber musst du dir nicht den Kopf zerbrechen«, sagte er. »Meine neue Sekretärin sollte meine Aufzeichnungen abtippen und ist leider nicht so effektiv, wie du es warst. Wie du sehen wirst. Aber das kannst du später alles in Ruhe lesen. Das hier wollte ich dir zuerst zeigen.«
Er blätterte durch den Stapel und zog ein Blatt von ganz unten heraus. Glättete es und legte es ihr auf den Schoß. Leise las sie die Zeilen.
Alle großen Denker haben bisher diese eine Tatsache übersehen.
Den schmalen Grat zwischen Leben und Tod.
Denn nur auf diesem Grat gibt es wahre Stärke und Macht.
Jesus und seine Schafsköpfe predigten Liebe und Verständnis.
Die Buddhisten wollen das Verlangen abschaffen.
Die Existentialisten sagen: Der Tod ist endgültig, die Flamme kann nie wieder entfacht werden.
Die religiösen Egozentriker rufen: Wiederauferstehung!
Reinkarnation!
Leben ODER Tod.
Schwarz ODER Weiß.
Die Menschheit tappt im Dunkeln.
Nur ich kann diesen Grat sehen.
Die Grenze zwischen den beiden Seiten.
DORT ist die Kraft, alle Kraft.
Dazwischen.
Dort und nirgendwo sonst.
Sie sah zu ihm hoch. Versuchte fieberhaft, ihre Lachmuskeln unter Kontrolle zu behalten und ernst auszusehen. Er sah sie erwartungsvoll an, während sie krampfhaft nach einer guten, vor allem tiefgründigen Antwort suchte. Um sich Zeit zu kaufen. Zeit, um ihre Flucht zu planen. Sie hatte Übung darin bekommen, seine Fangfragen und kleinen Tests zu bestehen. Wichtig war, etwas zu sagen, woran er selbst nicht gedacht hatte.
»Diese Grenze gibt es nicht. Man kann sie weder sehen noch fühlen. Deshalb hat sie bisher keiner gefunden«, presste sie hervor.
Sein Blick war in sich gekehrt. Langsam fing er an zu nicken. Strich sich über seinen Dreitagebart. Dann lächelte er.
»Ganz genau, Sofia! Ganz genau. Du hast es verstanden. Verdammt. Du hast es tatsächlich beim ersten Mal kapiert. Nicht schlecht. Jetzt verstehst du vielleicht auch, warum du hier bist und nicht bei irgendeinem Durchschnittstypen. Gut gemacht!«
Er sprang auf und strich ihr über den Kopf.
»Ich muss jetzt duschen gehen. Wenn du die Familienchronik gelesen hast, unterhalten wir uns darüber. Und danach kannst du meine Thesen lesen. Ich lasse sie dir hier.
«
Er legte den Stapel zurück auf den Tisch. Blieb wie verträumt einen Moment lang an der Tür stehen. Dann hob er beide Hände und machte das Victory-Zeichen, bevor er sie wieder allein ließ.