KAPITEL 55
Jacob lag mit fünf anderen Männern in einem Schlafsaal. Der Raum war höchstens zwanzig Quadratmeter groß, es gab nur sehr wenig Platz zwischen den einzelnen Betten. Am Anfang hatte Jacob die Idee gefallen, sich mit anderen ein Zimmer zu teilen – einer Gemeinschaft. Nach einem langen Arbeitstag hatte man jemanden zum Reden. Aber das war, bevor sich alles änderte, noch vor den Bestrafungen, der Zwietracht und der unfreiwilligen Schlaflosigkeit. Jetzt sah der Raum für ihn eher wie ein Zimmer in einem Ghetto aus, in dem der Geruch von ungewaschenen Körpern manchmal unerträglich war.
Jon, der im Bett neben ihm schlief, lag so nah bei ihm, dass Jacob nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Das Bett knarrte bei jeder Bewegung unbarmherzig. Deshalb musste Jacob absolut still liegen.
Er hielt das Handy krampfhaft umklammert. Lauschte den tiefen Atemzügen und den vereinzelten Schnarchern. Es war Mitternacht. Noch drei Stunden musste er durchhalten. Um drei Uhr morgens gingen die Wachen in die Küche und aßen etwas. In der Zeit sollte er die Kameras einfrieren und Sofia Bescheid sagen. Hoffentlich war sie noch im Keller.
Er hatte Angst, dass Simon plötzlich anriefe. Er hatte nicht gewagt, das Handy auszuschalten, weil er nicht wusste, wie er es wieder einschaltete.
Jon drehte sich auf den Bauch und seufzte. Sein Atem roch nach Grünkohl und Bohnen. Jacob drehte den Kopf weg. Er spürte die Schwere seiner Augenlider, sein ganzer Körper schrie nach Schlaf.
Da hörte er die Schritte auf dem Flur. Schnelle, knallende, zielsichere. Nachts schlurften oft Mitglieder des Personals in die Schlafsäle. Jacob kannte ihre Schritte. Aber diese hier klangen anders. Trotzdem zuckte er zusammen, als gegen die Tür geklopft wurde, bevor jemand sie aufstieß. Benny stand da und teilte laut brüllend mit, dass sich alle augenblicklich für eine Sonderversammlung im Speisesaal einzufinden hätten.
Schlaftrunkene Gesichter blinzelten ins Licht. Aber sie hatten Übung darin, wie Feuerwehrleute oder Soldaten im Einsatz. Beherrschten die Abläufe perfekt. Sie waren in der Lage, innerhalb weniger Minuten aus dem Bett aufzuspringen, sich anzuziehen und die Lebensgeister zu wecken. Niemand fragte, wer diese Versammlung einberufen hatte. Es gab nur einen Einzigen, der so etwas mitten in der Nacht tun würde. Stattdessen überprüfte jeder sein Gewissen nach Verfehlungen. Jacob hoffte, niemand möge bemerken, dass er vollbekleidet unter der Bettdecke gelegen hatte. Aber die anderen waren zum Glück ganz und gar damit beschäftigt, ihre Sachen zusammenzusammeln und nach ihren Schuhen zu suchen.
Er ging als Letzter aus dem Saal, gab vor, seine Schnürsenkel binden zu müssen. Seine Wangen glühten. Sein Herz schlug wild in seiner Brust. Das Handy brannte in seiner Tasche. Er konnte es nicht weglegen, aber sein Schicksal wäre besiegelt, wenn eine Leibesvisitation vorgenommen werden würde. Er kannte den Anlass natürlich nicht, hatte aber das ungute Gefühl, dass es etwas mit ihrem Plan zu tun hatte. Hoffentlich dauerte die Versammlung nicht so lang. Wenn alles gut ging, hätten sie auch noch reichlich Zeit. Wenn alles schiefging, musste er versuchen, sich in den Stall zu schleichen, um Simon zu warnen. Solang die Versammlung nicht damit endete, dass er mit Erik zusammen unter Aufsicht der Wachen den Graben ausheben musste.
Oswald stand nicht hinter seinem Pult, sondern mitten im Speisesaal, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Gesicht glich einer Maske – undurchdringlich. Als Jacob an ihm vorbeiging, spürte er Oswalds Blick, der sich in seinen Rücken bohrte. Ihn fröstelte. Er versuchte, möglichst ungerührt und vor allem unschuldig auszusehen.
Die Gefolgschaft war verunsichert, wusste nicht, was von ihr erwartet wurde, alle standen in kleinen Grüppchen und warteten auf Anweisungen.
Lina stellte sich neben Jacob und berührte ihn am Ärmel. Er lächelte sie an, wagte aber nicht, etwas zu sagen.
»Stellt euch in einer Reihe vor der Wand auf!«, sagte Oswald. »Mit dem Gesicht zu mir. Meint ihr, ihr schafft das?«
Einen Moment lang entstand regelrecht Chaos. Alle schubsten sich, prallten gegeneinander, und einer stolperte über die Füße des anderen, bis sich endlich eine saubere Reihe an der Wand gebildet hatte.
Oswald sah sie kopfschüttelnd an.
»Was für ein Team«, sagte er nüchtern. »Ich bin wirklich beeindruckt.«
Diese permanenten Wechsel zwischen Sarkasmus und unterdrückter Wut waren das Schlimmste. Man wusste nie, wann die nächste Explosion erfolgte oder wen sie traf. In dieser Situation war es lebensgefährlich, ihn wütend zu machen .
Und Jacob war in der Hierarchie sehr tief gerutscht, unter ihm gab es nur noch sehr wenige.
»Also«, seufzte Oswald. »Das muss fürs Erste genügen. Es ist Folgendes. Einer von euch Idioten in diesem Raum glaubt, dass er mich hintergehen kann. Die Wachen haben gesehen, wie jemand mitten in der Nacht über den Hof geschlichen ist. Und zwar in der Nähe des Kellers. Wie ihr vielleicht verstehen könnt, bin ich es leid, dass man mir nicht gehorcht. Vielleicht möchte sich die Person zu erkennen geben?«
Schweigen. Vollkommenes Schweigen. Kein einziges Geräusch war zu hören. Die meisten senkten den Blick. Innerlich verließ Jacob den Raum, er war in einer Art Schockzustand, aber das laute Schlagen seines Herzens holte ihn wieder zurück. Jetzt ist alles vorbei, war sein erster Gedanke. Aber dann spürte er die Angst der anderen neben ihm. Die Panik breitete sich wie eine Welle im Saal aus, und da wurde ihm klar, dass er bei Weitem nicht der Einzige mit einem Geheimnis war.
»Meinetwegen. Dann werden wir das so machen, dass ihr mir alle der Reihe nach in die Augen seht«, sagte Oswald. »Das geht ganz schnell, ihr werdet sehen. Ich kann nämlich bei einem Menschen die Schuld mit einem einzigen Blick erkennen. Und wer schuldig ist, stinkt. Hier riecht es gerade ziemlich … und zwar verbrannt, finde ich.«
Er baute sich vor der ersten Person in der Reihe auf, starrte sie an. Dann ging er weiter. Langsam, aber zielsicher. Die Art, wie er sich bewegte, so anmutig und entschlossen, er verfügte über eine undurchdringliche Aura, die einem die eigene Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit vorhielt. Vielleicht war diese unantastbare Aura auch nur seine Hülle, sein Panzer, um seine wahren Dämonen in Schach zu halten? Dieser Gedanke entspannte Jacob ein wenig. Er lockerte seinen verkrampften Griff um das Handy. Er könnte auch so eine Fassade aufsetzen. Denn er durfte auf keinen Fall schuldig aussehen, wenn Oswald vor ihm stand.
Anders, der neben ihm wartete, atmete schnell und nervös.
Oswald hatte die Mitte der Reihe erreicht und blieb stehen. Schüttelte den Kopf.
»Das hier nenne ich einen veritablen Aufmarsch von Pfannkuchengesichtern. Ich frage mich, wie ich das mit euch aushalten soll.«
Er ging weiter. War schon sehr nah. Jacob schossen mehrere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Wenn sie jetzt das Handy bei mir finden. Und es zu Simon zurückverfolgen können. Was passiert dann mit Sofia? Oh Gott, was soll ich tun?
Die ungewöhnlich piepsige Stimme von Anders neben ihm riss ihn aus seinen Gedanken.
»Ich war das, Sir!«
Oswald blieb abrupt stehen.
»Verzeihen Sie mir, Sir! Ich hatte bis spät gearbeitet und dachte, ich hätte Elvira über den Hof laufen sehen, nur im Nachthemd. Deshalb bin ich dort lang gelaufen. Aber ich wollte nicht zum Keller, ich schwöre es, ich bin da nur vorbeigelaufen, weil ich …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Oswald hatte sich bereits vor Anders in Position gebracht. Lehnte sich vor. Vor Wut war sein Gesicht verzerrt. Seine Augen funkelten, als würde sich eine elektrische Strahlung entladen. Anders starrte ihn angsterfüllt an, er war vollkommen gelähmt.
Jacob roch den scharfen Geruch von Urin, senkte den Kopf und sah den dunklen Fleck an Anders’ Hosenbein, der langsam größer wurde. Auch Oswald hatte ihn entdeckt und geriet kurz aus dem Konzept. Aber dann glätteten sich seine Gesichtszüge, er trat einen Schritt zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Niemand wagte, in sein Lachen einzufallen. Es hallte durch den Saal und hatte etwas Unheimliches. Jacob stellten sich die Haare an den Armen auf.
»Seht euch diesen armen Sack an! Hat sich angepisst. Wie ein Hund! Er sieht auch aus wie ein Hund. Ihm fehlt nur noch der Schwanz!«
Jetzt lachten auch alle anderen. Zögernd zuerst, dann wurde es lauter, und schließlich entluden sich im Gelächter Erlösung und Schadenfreude. Die bedrückende Stimmung hatte der Erleichterung Platz gemacht, die immer eintrat, wenn die Katastrophe andere traf, nicht einen selbst.
Anders zitterte unkontrolliert, für einen Moment befürchtete Jacob, dass er ohnmächtig werden würde, aber dann machte er einen Schritt aus der Reihe nach vorn und senkte den Kopf tief auf seine Brust – zum Zeichen größter Unterwerfung. Jacob hatte Anders noch nie so verzweifelt gesehen.
Oswald gab Corinne die Anweisungen.
»Er wird heute Nacht mit diesem Nichtsnutz von Köter in der Hundehütte schlafen. Und ab heute wird er dem Hund jedes Mal salutieren, wenn er ihm begegnet. Vielleicht lernt er so, mir wieder zu gehorchen. Denn das tut der Köter wenigstens, wenn man ihn ruft.«
Ohne Vorwarnung stellte sich Oswald vor Jacob hin und sah ihn durchdringend an. Sein Blick war ausdruckslos. Aber tief im Inneren der Pupille flackerte etwas. Entweder war es Erkennen oder Misstrauen. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, er öffnete den Mund, während Jacob alle Reserven aktivierte, um seinem Blick standzuhalten. Er schwitzte sonderbarerweise auf der Kopfhaut. Versuchte, seinen Puls zu drosseln. Es zog in seinen Leisten. Und ein beängstigender Gedanke quälte ihn: Was ist eigentlich, wenn er mir direkt in meine Gedanken hineinsehen kann? Aber Jacob war wild entschlossen, ihm keinen Zutritt zu gewähren.
Da schloss Oswald seinen Mund, sprach zu allen in der Reihe.
»Ihr könnt jetzt gehen. Sorgt dafür, dass Anders heute Nacht beim Hund schläft, ich erwarte da mehr Druck von der Gruppe.«
Oswald blieb im Saal, während ihn das Personal so schnell wie möglich verließ. Eine kleine Gruppe hatte sich schon um die Hundehütte versammelt, als Jacob auf den Hof kam. Er sah Anders’ Rücken, wie er sich bückte und auf allen vieren in die Hundehütte kroch. Ausgerechnet Anders, der Härteste von allen, der Lauteste, der immer auf anderen herumhackte, der gegen seine eigene Tochter ausgesagt hatte, er war von seinem Gebieter vollkommen vernichtet worden.
Ein kalter Wind aus Nordwest fegte über das Anwesen. Man konnte das Meer in der Bucht toben hören. In der Hundehütte war es mit Sicherheit schweinekalt. Das Bild von Elviras verzweifeltem Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf, und Jacob stellte fest, dass er kein Mitleid mit Anders hatte. Er hoffte nur, dass er dem Hund nichts antat.
Zurück im Schlafsaal kamen ihm zum ersten Mal Zweifel. Was er vorhatte, war so dreist und gefährlich, dass es die Situation vielleicht nur unnötig verschärfen würde. Und Sofia in eine viel schlimmere Situation bringen könnte.
Die anderen waren sofort eingeschlafen. Ihre Grunzlaute, Schnarcher und Gerüche in der mitleidlosen Dunkelheit aber erweckten seinen Mut zu neuem Leben. Er konnte keinen Tag länger hier bleiben, keine einzige Sekunde länger als notwendig.
Er strich mit dem Daumen über die Rückseite des Handys. Bereitete sich innerlich vor.