KAPITEL 56
Obwohl es schon längst dunkel war, zwitscherte eine Amsel vor dem Kellerfenster. Dann klopfte etwas gegen die Fensterscheibe. Sofia setzte sich auf. Jetzt hörte sie ein Kratzen, als würde ein Zweig das Glas streifen.
Sie schaltete das Licht ein. Da sah sie den Schatten dort draußen. Sie rannte in die Kammer und schleppte die Leiter bis unters Fenster, klappte sie auf und kletterte hoch. Zuerst sah sie nur ein Gesicht, das sich gegen die Scheibe drückte, dann erkannte sie Jacob – den, der sich um die Tiere kümmerte. Ihr wurde schwindelig vor Freude, fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, hielt sich am Fensterrahmen fest. Sie drückte das Fenster auf, bis das Hängeschloss es arretierte. Jacob legte einen Finger auf seine Lippen.
»Ich habe nicht viel Zeit«, flüsterte er. »Simon weiß, dass du hier bist. Wir kommen morgen und holen dich, wenn das Personal in den Wald gegangen ist.«
»Oh, Jacob, das kommt wirklich in allerletzter Sekunde, sonst schlägt er mich das nächste Mal tot.«
»Wir kommen, versprochen. Passt du durch das Fenster, wenn wir dich rausziehen?«
»Ja, ganz bestimmt. Kannst du mich nicht jetzt mitnehmen?«
»Nein, wir müssen das Hängeschloss abschlagen, außerdem sind die Wachen unterwegs.«
Jacob zuckte zusammen und sah sich um .
»Ich glaube, die gehen gerade von der Küche zurück ins Wachhäuschen. Am frühen Morgen ist es so weit. Sei bereit.«
Und weg war er. Sie hätte am liebsten die Scheibe eingeschlagen, sich an ihm festgeklammert und ihn gezwungen, sie jetzt mitzunehmen. Aber er war schon davongelaufen.
Sie kletterte nach unten und klappte die Leiter zusammen. Trug sie zurück in die Kammer. Für den Fall, dass Oswald noch einmal unangekündigt vorbeikommen sollte.
Dann setzte sie sich aufs Bett, in ihrem Kopf drehte sich alles, wie in Wellen kam die Erleichterung und wechselte sich mit der Angst ab, dass etwas schiefgehen könnte.
Sie versuchte zu schlafen, aber es war nicht möglich. Ihr Herz flatterte, als würde ein verängstigter Vogel aus ihrem Brustkorb entkommen wollen.
Um die wachsende Nervosität in den Griff zu bekommen, lief sie im Zimmer auf und ab. Raus, ich muss hier unbedingt raus. Wie spät es wohl war? Draußen war es noch dunkel. Wann würde das Personal den Hof verlassen?
Schließlich legte sie sich doch wieder aufs Bett. Ließ den Gedanken zu, was sie tun würde, wenn sie wieder frei war. Falls sie freikommen sollte. Die Sache mit Mattias ärgerte sie so sehr, dass es wehtat. Diese unfassbare Fehleinschätzung erdrückte sie förmlich. Warum hatte sie seine schmierigen Angebote nicht durchschaut? Den ganzen Weg nach San Francisco war er ihr gefolgt und hatte ihr dann drei Monate lang andauernd schöne Augen gemacht. Nur um sie zurück nach Dimö zu locken. Oswald würde sie niemals gehen lassen. Wenn ihr die Flucht dieses Mal nicht gelang, würde sie in diesem Kellerloch sterben. Auf einmal überwältigte sie eine unfassbare Erschöpfung.
Und so schnell, wie man eine Kerze ausbläst, schlief sie ein .
Weil ihr Körper heftig hin und her geschüttelt wurde, wurde sie wach. Sie war benommen, der Körper bleischwer vom Schlaf. Ihr Schlaf musste so tief gewesen sein, dass es schmerzte, die Augen zu öffnen. Das Licht an der Decke blendete sie, aber sie konnte seine Augen sehen. Dunkel vor Wut.
»Setz dich hin!«
Endlich ließ er sie los. Vor dem Bett lief er auf und ab, während sie sich mühsam aufrappelte. Es war noch stockdunkel, sie hatte das Gefühl, nicht länger als eine Stunde geschlafen zu haben. Was war passiert? Er stellte sich vors Bett, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie. Äußerlich ganz ruhig, aber mit einem irren Blick und leichten Zuckungen im Gesicht. Seine Hose und das Hemd waren zerknittert, er war noch gar nicht im Bett gewesen.
»Wer war hier?«, fragte er.
Sie sah ihn fragend an.
»Hier ist niemand gewesen.«
»Du sollst nicht lügen, Sofia. Ich weiß, dass Anders nachts über den Hof geschlichen ist. Ich will wissen, ob er mit dir gesprochen hat.« Er war außer sich. Er schrie fast, so laut war seine Stimme. Und seine Gesichtsfarbe war gefährlich rot. Sofia überlegte, ob er Anders und Jacob verwechselte, denn er nahm es nicht so genau mit den Namen seines Personals.
»Warum sollte ausgerechnet Anders mit mir reden? Ich verstehe gar nicht, worum es geht.«
»Nee, aber das wirst du gleich verstehen. Darf ich dich daran erinnern, dass Anders Elviras Vater ist, ihr beide seid euch doch mal ganz nah gewesen. Mit ihr habe ich schon gesprochen, aber sie streitet alles ab. Und du kennst ja Elvira, sie verwandelt sich sofort in eine schluchzende Märtyrerin, wenn man sie zu hart rannimmt. Also werden wir beide das hier klären.«
»Es gibt nichts zu klären. Ich habe nicht mit ihnen geredet.«
»Das werden wir gleich herausfinden. Es geht um Vertrauen und Gehorsam. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, musst du hundertprozentig loyal sein. Ich dachte, wir hätten Fortschritte gemacht, und dann das hier.«
»Aber du bist der Einzige, mit dem ich hier gesprochen habe, ich schwöre es.«
»Das Gespräch ist beendet. Steh auf, wir machen einen kleinen Spaziergang.«
Sie schnappte nach Luft. Zwei Erkenntnisse schlugen ihr ins Gesicht. Er würde sie woanders unterbringen, und sie würde nicht hier sein, wenn Simon und Jacob kamen, um sie zu befreien. Alles war vorbei.
Mit zitternden Beinen stand sie auf. Sie musste sich unendlich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie trug nur das T-Shirt und die Unterhose, in der sie hergekommen war. Sie hatte es ausgewaschen und zum Trocknen ins Badezimmer gehängt. Es war noch feucht. Sie fühlte sich schäbig und albern, wie sie da barfuß vor ihm auf dem kalten Betonboden stand und eindringlich von ihm gemustert wurde. Sie wäre am liebsten ihrem Impuls gefolgt und hätte ihn mit dem Schraubenzieher angegriffen, aber sie wusste, wie stark er war. Es war klüger, sein Spiel mitzumachen, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Er stellte sich hinter sie, packte ihre Arme und fesselte ihre Handgelenke mit einem Seil. Dann stieß er sie vor die Tür. In all dem Elend genoss sie es für einen kurzen Moment, dem Kellerloch zu entkommen.
Die Treppe, die nach oben führte, war nicht beleuchtet. Hier war es vollkommen dunkel, sie hörte nur seinen Atem, während er sie nach oben führte.
Das grelle Licht der großen Eingangshalle blendete sie. Sie war darauf gefasst, dass er sie auf den Dachboden bringen würde, aber stattdessen schob er sie aus der Eingangstür nach draußen.
»Mach keine Dummheiten«, sagte er. »Benny ist auf dem Posten heute Nacht, und er weiß, dass du hier bist. Der Rest der Meute pennt, also wird dich niemand hören oder sehen.«
Als er die Tür öffnete, schlug ihr eiskalte Luft entgegen. Das Wetter war umgeschlagen, der Himmel hatte seine Farbe in ein sattes Indigo geändert, der Tag würde bald anbrechen. Sie zögerte, aber er packte sie am Arm und schob sie die Treppe hinunter.
»Los, geh rüber zu der kleinen Pforte. Schnell, beeil dich!«
Sie bewegte sich wie in Trance. Die harten Kieselsteine unter ihren Füßen waren das Einzige, was wirklich schien. Auch die Kälte konnte ihr nichts anhaben, nur die Angst beschäftigte sie, die Frage, wo er sie hinbringen würde. Wie ein Gespenst lief sie weiter, seine Finger bohrten sich wie Klauen in ihren Arm.
»Wo gehen wir hin?«, fragte sie.
»Wir prüfen deine Loyalität«, sagte er und lachte heiser.
Da wusste sie, welches Ziel sie hatten.
Der Wind nahm zu, als sie die Pforte hinter sich gelassen hatten. Das Heidekraut stach ihr in die Fußsohlen. Ihr Körper zitterte wegen der Kälte, und die Tränen brannten in ihren Augen. Es war fast Vollmond, und das Licht tauchte die Heide in ein tiefes Lila. Das dunkle, schwarze, donnernde Meer rief nach ihr, als sie näher kamen, weißer Schaum tanzte auf den Wellen, die in dichten Reihen an die Küste rollten. Am Horizont hing ein schmaler Lichtstreifen, aber sonst war der Himmel gerade jetzt dunkel. Der Teufelsfelsen streckte sich weit ins Wasser hinaus, mächtig, kalt und unbarmherzig. Er schob sie vor sich her, zerrte an ihrem Arm, mahnte sie sich zu beeilen.
Ich bin so gut wie tot, wusste sie, ich muss bald etwas tun, irgendwie reagieren. Sie versuchte sich loszureißen, stolperte, rappelte sich auf und wollte wegrennen, aber das war nicht leicht mit Händen, die auf dem Rücken gefesselt waren. Er packte sie und hielt sie fest.
»Hör auf damit, sonst nimmt das kein gutes Ende«, sagte er.
»Bitte, lieber Franz, tu das nicht!«, schrie sie verzweifelt.
»Aber ich bin nicht lieb! Hast du das noch immer nicht verstanden?«
Da schrie sie um Hilfe, brüllte so laut, dass sie dachte, ihre Lunge würde gleich platzen, aber der Wind verschluckte jeden Laut.
Sie hatten den Teufelsfelsen erreicht, und er führte sie bis zur äußersten Spitze. Blieb hinter ihr stehen, hielt sie an den Schultern fest.
Unter ihnen schlugen die Wellen gegen die Felsen, ein Strudel direkt unter ihnen spritzte Wasser in alle Richtungen, sodass auch sie nass wurden. Sie konnte ihren Blick nicht von dem wilden Meer reißen. Große Flächen von Tang schwebten auf seiner Oberfläche, das Wasser quoll durch alle Ritzen, floss durch jede Spalte in den Felsen. Die Gischt auf ihrer Haut war ganz so, als würde das Wasser an ihr lecken, sie schmecken, um sie gleich in einem Schluck zu verschlingen.
Die unaufhörliche Kraft des Wassers zog sie nach unten. Sie fror, ihre Zähne schlugen aufeinander, der ganze Körper zitterte. Sie spürte ihr Herz unter dem dünnen Stoff des T-Shirts. Der Sturm hatte den Felsen rutschig gemacht, sie verlor das Gleichgewicht, aber er packte sie. Sie hatte gedacht, er wolle sie hinunterstoßen, aber er hielt sie fest.
»Das Meer ist gierig, Sofia!«, zischte er ihr ins Ohr. »Und die Strömung ist besonders stark heute Nacht. Du musst jetzt die Worte sagen. Die Worte, die man sagen muss, bevor man springt.«
Sie schrie laut auf, ein gellender Schrei. Ihr Zittern wurde unkontrollierbar.
»Niemals!«
»Wenn du es tust, mach ich vielleicht deine Hände frei, bevor du springst. Sag sie jetzt! Sag es oder gib zu, dass du mit Elvira und Anders gesprochen hast.«
»Ich habe nicht mit ihnen geredet.«
»Dann sag die Worte!«
Es war diese eine Zeile, die sich tief in ihre Erinnerung eingegraben hatte. Diese Verkündigung vor dem Sprung, mit der man das Meer um die Reinigung von seinen Sünden bat.
Ihr liefen die Tränen über die Wangen, aber die wurden sofort von der Gischt weggespült.
»Möge ich meine Treulosigkeit in der Tiefe lassen und rein und ergeben wieder aus dem Wasser steigen«, murmelte sie leise.
»Lauter. Du musst es lauter rufen. Ruf es dem Meer zu.«
Sie schrie die Worte ein zweites Mal. Sie brüllte so laut wie das alte Nebelhorn. Dann drückte sie sich gegen ihn, versuchte ihn nach hinten zu schieben, weg von der Felsenkante. Aber er legte seinen Arm um sie und schob sie zurück. Dann ließ er sie für eine Sekunde los, um sie gleichzeitig am Rücken und in den Kniekehlen hochzuheben. Er drückte sie an sich und ging bis an die Spitze, hielt sie hoch. Die Schwerelosigkeit machte sie schwindelig. Für einen Moment fühlte es sich an, als hätte er sie schon fallen gelassen und sie würde durch die Luft schweben. Aber da bewegte er sich, und sie wusste, dass sie noch von ihm getragen wurde.
»Hast du mit jemandem gesprochen?« Er musste schreien, um Wind und Meer zu übertönen.
»Nein, ich schwöre es. Nein.«
»Du bist eine Hexe, du wirst auf dem Wasser treiben.«
»Bitte, ich mache, was du willst!«
Ein Windstoß brachte ihn ins Schwanken, sie befürchtete, dass er sie fallen lassen würde, aber er fand sein Gleichgewicht wieder, drehte sich um und setzte sie an der Böschung ab. Er griff in ihre Haare und zog sie zu sich.
»Jetzt kennst du diesen schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Die Frage ist nur, wer die Macht über diesen Grat hat. In Zukunft gehorchst du mir bedingungslos. Du wirst die Beine spreizen, wenn ich das will. Du wirst mir die Füße küssen und mich mit Sir ansprechen, so wie alle anderen auch. Versprichst du das?«
Sie nickte stürmisch.
»Sehr gut. Dann gehen wir jetzt nach Hause, und du machst dir heute Nacht ein paar Gedanken über diese Lektion, die du gerade gelernt hast.«
Auf dem Weg schwieg er. Schubste sie, wenn er sie zu langsam fand. Sie weinte aus Angst, dass er seine Meinung jederzeit wieder ändern könnte. Sie musste auf etwas Scharfes getreten sein, sich geschnitten haben, in einer Ferse pochte der Schmerz. Aber sie wagte nicht nachzusehen. Die Kälte spürte sie nicht mehr, ihr Körper war wie betäubt und erstarrt, aber er trug sie trotzdem weiter.
Als sie die kleine Pforte passiert hatten, blieb er stehen und zog sie an sich. Sie spürte seine Erregung. Das Intermezzo am Meer war ganz nach seinem Geschmack gewesen.
»Du bist so schön, weißt du das, Sofia?«, flüsterte er. »Du bist nicht so eng wie eine Vierzehnjährige, aber trotzdem schön. Und wenn wir schon dabei sind, du hast einen geilen Arsch.«
Sie presste ihre Nägel in die Handflächen, so fest sie konnte, um den Impuls zu unterdrücken, sich umzudrehen und ihm ins Gesicht zu spucken.
Er hob einen Arm, und sie hatte schon die Befürchtung, dass er ihr jetzt gleich die Unterhose herunterreißen würde, aber stattdessen brach er nur einen Zweig ab und steckte ihn von innen in das Schloss.
»So, hier kommt jetzt niemand mehr rein«, murmelte er.
Das Licht der Morgendämmerung glitzerte auf den Steinen im Hof. Auf dem Rasen lag Tau und kühlte ihren schmerzenden Fuß, aber sie spürte den anderen Fuß nicht mehr. Auch ihre Fingerspitzen waren taub. Sie sah zwei Füße, die aus der Hundehütte schauten. Schnell blickte sie weg, davon überzeugt, dass sie vor lauter Erschöpfung schon halluzinierte. Sie wollte so schnell wie möglich zurück in ihr Gefängnis, noch nie hatte sie sich so sehr nach etwas gesehnt. Sie hatte noch genug Zeit, wenn er sie allein ließ.
Lieber Gott, mach, dass er jetzt schlafen geht.
Als sie im Keller waren, löste er ihre Fesseln. Das Licht brannte noch. Es war so herrlich warm. Für einen kurzen Moment war die Welt wieder warm, weich und ruhig. Vor Erleichterung sackte sie fast zusammen.
»Jetzt müssen wir beide etwas Schlaf bekommen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich hoffe, du freust dich genauso sehr auf morgen wie ich.«
»Nein … «
Sie biss sich auf die Lippe.
»Verzeihung, ich meinte, ja, das tue ich.«
»Ja, wie?«
»Ja, Sir.«