KAPITEL 58
Sie konnte nicht schlafen, aber das machte nichts, denn ihr ganzer Körper stand unter Hochspannung. Noch nie hatte sie sich so hellwach gefühlt. Kerzengerade saß sie im Bett und wartete. Mit geschärften Sinnen und der pochenden Angst, dass doch noch etwas schiefgehen konnte. Die kalten Farben meldeten den Anbruch des Tages.
Sie hörte Stimmen auf dem Hof, war neugierig, wagte aber nicht, die Leiter zu holen. Stattdessen nahm sie den Stuhl und stellte sich darauf. Dort drüben stand eine Frau mit einem riesigen Kinderwagen und redete mit einer der Wachen. Das war Elvira. Und doch war sie es nicht. Sie trug einen unförmigen Mantel, sie hatte sich die Haare zu einem unordentlichen Knoten gebunden, und ihr Gesicht war so blass, dass es fast leuchtete. Sie sah aus wie eine mittelalte, etwas ungepflegte Frau. Sofia hörte die Wache »Ich fahre dich zur Fähre« sagen, dann verschwanden die beiden vom Hof.
Sofia wusste genau, wie Elvira früher ausgesehen hatte. Entschlossen, kämpferisch. Und umwerfend schön. Sie erinnerte sich an die Elvira, die hochschwanger bei ihr zu Hause auf dem Sofa gelegen und sich diebisch darüber gefreut hatte, wie sie Oswald mit dem Blog eins ausgewischt hatten. Sie war so lebendig gewesen. Jetzt sah sie wie eine lebende Tote aus. Allerdings hatte Sofia hinter ihrer fröhlichen, unbeschwerten Fassade immer auch eine Traurigkeit gesehen.
Fünfzehn Jahre alt, das Leben in Trümmern und keine Wiedergutmachung in Aussicht.
Er hat nicht nur mein Leben zerstört, dachte Sofia. Hier geht es nicht bloß um mich. Aber er kann jeden Augenblick hier sein und mich vernichten.
Jetzt war es ganz still da draußen. Sie konnte nichts sehen, nur die leere Rasenfläche vor dem Fenster. Langsam meldete sich Zweifel, ob es die beiden wirklich schaffen konnten, sie durch das Fenster zu ziehen. Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Die Vorstellung, stecken zu bleiben, war unerträglich. Mit der einen Hälfte im Himmel, mit der anderen in der Hölle.
Sie kletterte vom Stuhl, hielt sich an der Lehne fest. In ihr war eine Idee zu einem Plan gewachsen. Er war gefährlich, vielleicht auch dumm, sie hatte ihn verworfen, aber hartnäckig hatte er sich wieder gemeldet.
Den Stuhl trug sie zunächst zur Kellertür. Die war massiv, wie die Pforte zu einer Grabkammer, die würde man nicht so leicht eintreten können. Sie schob den Stuhl unter den Türgriff, sodass es unmöglich war, die Klinke herunterzudrücken. Dann holte sie die Leiter. Sie ließ sich nicht sofort aufklappen. Scheißleiter!
Wütend trat sie dagegen, stellte sich vor, sie würde Oswald treten, aber die kurze Befriedigung wurde gleich darauf von einem anderen Gedanken überschattet, dunkel und gefährlich.
Sie hatte in der Kammer etwas gesehen, was sie nicht losgelassen hatte. Zwei Kanister mit Benzin, um zum Beispiel einen Rasenmäher zu betanken. Ganz hinten in der Ecke standen sie, verstaubt. Der Anblick ließ sie zusammenzucken. Aber schon Sekunden später vollzog sich eine Art Umwandlung ihrer Persönlichkeit. Die Nervosität war von ihr abgefallen und durch eine gefühllose Klarheit
ersetzt worden. Sie stand neben sich, beobachtete sich von außen.
Ihre Bewegungen hatten etwas Methodisches. Ihr Körper glich einer Figur in einem Computerspiel, die auf die verschiedenen Kommandos reagierte und Aufgaben erfüllte. Sie biss in das belegte Brot, das Kauen fiel ihr schwer, aber sie kaute trotzdem mit entschlossener Verbissenheit und spülte alles mit Wasser herunter. Dann wählte sie eines der Kleider aus und zog sich das T-Shirt darüber und die Ballerinas an die Füße.
Die Benzinkanister standen geduldig in der Mitte des Zimmers und warteten.
Da hörte sie das Gemurmel des Personals, das sich auf dem Hof versammelte. Eine laute schrille Stimme. Morgenappell.
Bald.
Bald würden sie kommen, Jacob und Simon. Bitte, bitte, beeilt euch.
Sie nahm die Familienchronik und steckte sie unter das eng anliegende Kleid.
Draußen hörte sie, wie sich das Personal in Bewegung setzte, als würden sie marschieren.
Sie hob die Benzinkanister hoch, in jeder Hand einen. Sie waren schwer. Wie viel Fläche würde sie damit bespritzen können? Sie wusste, dass ihr Vorhaben leichtsinnig und gefährlich war, aber sie spürte eine sonderbare, tiefe Ruhe in sich.
Sie schraubte den ersten Kanister auf. Der Benzingeruch war so intensiv, dass er ihr einen Kick gab. Sie begann, den Boden und die Gegenstände mit Benzin zu übergießen. Langsam und sorgfältig. Das Benzin aus dem zweiten Kanister war für die Wände. Sie versuchte, so hoch wie möglich zu spritzen. Der Raum roch schlimmer als eine Tankstelle.
Hoffentlich wurde sie von den Dämpfen nicht ohnmächtig. Leise schickte sie ein Stoßgebet in den Himmel.
Die Zeit blieb stehen. Sie setzte sich aufs Bett. Es gab nichts mehr zu tun. Sie musste nur warten. Geduld war nicht ihre Stärke. Plötzlich hatte sie eine Eingebung. Streichhölzer! Sie sprang auf und durchwühlte die Kammer, fluchte. Aber da, auf dem Boden eines Eimers lag es. Das Feuerzeug. Sie testete es und sah in die kleine Flamme. Dann steckte sie es sich in den BH, nahm ein Blatt Papier vom Tisch, zerknüllte es und steckte es auf die andere Seite.
Plötzlich hörte sie ein Poltern. Es kam aus dem Inneren des Hauses. Sie erstarrte. Doch dann blieb es still. Nun folgten laute Schläge mit einem Hammer, aber die kamen vom Kellerfenster. Wieder ein Poltern aus dem Inneren des Hauses. Und sie befand sich in diesem Spannungsfeld der beiden Geräusche, die wie eine innere und eine äußere Kraft waren, und beide zogen an ihr.
Sie sprang zur Leiter, sah ein Gesicht an der Scheibe. Sie waren gekommen, sie waren wirklich gekommen. Und schlugen mit einem Hammer auf das Vorhängeschloss ein. Dann klopfte jemand von außen an die Scheibe. Ungeduldig. Ihr Körper fing an, unkontrolliert zu zittern. Ihre Hände waren schweißnass, fanden an den Stufen der Leiter kaum Halt. Sie war schon fast oben, als sie hinter sich hörte, wie Oswald an der Türklinke rüttelte. Sie erstarrte, wie im Reflex. Immer wieder versuchte er die Türklinke herunterzudrücken. Er hämmerte gegen die Tür und brüllte.
»Sofia! Mach sofort auf! Sonst trete ich die Tür ein!«
Der Stuhl knackte bedrohlich, als würde er dem Druck jeden Augenblick nachgeben.
»Mach auf, du miese kleine Schlampe!«
Mit zitternden Fingern öffnete sie den Haken und stieß
das Fenster weit auf, hörte sich schreien. Beeilt euch! Helft mir! Schnell!
Sie sah keine Gesichter, nur Hände, die sie packten und an den Armen hochzogen, so wie Pflanzen, die sich nach der Sonne streckten.
Ihr Bauch schabte am Fensterrahmen, aber sie spürte keinen Schmerz. Dafür war ihr Gehörsinn unangenehm verstärkt. Oswalds Tritte gegen die Tür klangen wie Hammerschläge auf Metall. Er fluchte, ganze Vorträge hielt er, war vollkommen außer sich und zu allem im Stande.
Sie schrie, als sie Boden unter den Füßen hatte, schrie vor Erleichterung, vor Schmerz. Sie sah Benjamins Gesicht, ganz nah an ihrem. Wie in einem Traum. Er zog sie an sich. Simon stand neben ihm, er hatte eine Flasche in der Hand.
»Wartet, ich muss noch was machen«, sagte sie und wollte das Feuerzeug herausholen. Aber Benjamin hielt sie so fest, dass sie sich kaum rühren konnte.
»Los, Simon, zünde sie an. Die Wache kommt!«, schrie er.
Sie hörten das Motorrad, das angelassen wurde. Sofia sah wie verschwommen, dass Simon ein Stück Stoff anzündete, das aus der Flasche hing. Erst als die Flasche durchs offene Fenster flog, wachte sie aus ihrer Erstarrung auf.
»Lauft, lauft so schnell ihr könnt, ich habe Benzin …« Ihre Stimme klang jetzt verändert, wie die eines anderen.
Die Flasche zerbarst auf dem Kellerboden, dann folgte die Explosion. Ein lautes Fauchen und Knacken, das zu einem Inferno aus Schlägen und Flammen wurde, die loderten und aus dem Fenster schlugen.
Sie rannten ohne Luft zu holen zur Mauer, Benjamin zuerst, Simon hinterher, er streckte ihr die Hand hin, zog sie hoch. Der Feueralarm heulte und jaulte. Sofia sprang nach unten und wurde von Benjamin aufgefangen, dann nahm er ihre Hand und zog sie hinter sich her
.
Weiter ging es durch den Wald. Ein sanfter Regen legte sich auf ihre Haut. Ihr Körper war so erschöpft von den Tagen im Keller, dass sie keine Kraft mehr hatte. Aber sie spannte alle Muskeln an und mobilisierte die letzten Energiereserven. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, die Lunge brannte. Auch der Schmerz in ihrer Ferse meldete sich zurück, bei jedem Schritt fuhr er ihr durch den Körper. Sie stolperte über eine Baumwurzel, rappelte sich wieder auf.
Benjamin zog sie weiter. Da tauchte Simon auf ihrer anderen Seite auf und packte ihren Arm. Die beiden trugen sie förmlich über den Boden. Der Wald öffnete sich, und da lag das gewaltige Meer vor ihnen, wie eine graue, schäumende Decke. Simon trug sie das letzte Stück zu einem Felsvorsprung.
Wie aus dem Nichts tauchte das Motorboot auf, war an einem Felsen vertäut. Simon half ihr an Bord. Als er sie losließ, wurde ihr so schwindlig, dass ihr die Beine wegsackten. Aber Benjamin nahm sie in den Arm, wiegte sie wie ein kleines Kind.
Da kam Jacob angerannt.
»Alles in Ordnung, sie verfolgen uns nicht, die sind mit dem Löschen des Feuers beschäftigt.«
Erst jetzt drehte sie sich zur Küste um und sah die dicken Rauchschwaden. Die Flammen, die nach dem hellgrauen Himmel griffen. Und der Wind blies Asche zu ihnen.