KAPITEL 59
Sie waren auf dem Weg über den Sund, als eine zweite Explosion die Luft erschütterte. Edwin Björk fuhr schnell. Das Wasser spritzte am Bug hoch. Das Boot schlug auf den Wellenkämmen auf und schleuderte sie hin und her.
»Simon, was ist in der Flasche drin gewesen? Das Zeug brennt ja wie der Teufel«, rief Benjamin.
Simon raufte sich die Haare.
»Das war ich«, sagte Sofia. »Ich habe überall im Keller Benzin verschüttet.«
Simon hob die Augenbrauen, und Jacob starrte sie entgeistert an.
»Bitte was?«, sagte Benjamin. »Bist du noch ganz bei Trost?«
»Ja, das bin ich.« Ihre Augen brannten, wütende Tränen liefen ihr die Wange hinunter. »Er hat mich geschlagen und vergewaltigt. Und heute wollte er mich mit seinem Lederriemen erdrosseln. Das war sein Plan. Was glaubst du denn, was er mit mir da unten im Keller gemacht hat? Monopoly gespielt?«
Sie fühlte sich wie in einem Schwebezustand, als würden die Tentakel aus dem Keller noch nach ihr greifen. Nur langsam lösten sie sich, einer nach dem anderen, je größer der Abstand zur Insel wurde.
Benjamin schob sie verstört von sich. Er schluckte, war den Tränen nahe
.
»Verdammt. Verdammt. Ich hatte ja keine Ahnung.«
Dann lagen sie sich wieder in den Armen. Keiner von ihnen wollte die Tränen des anderen sehen. Sie bohrte ihr Gesicht in seinen Hals, spürte ihr Herz schlagen.
Erst als sich ein Platzregen über sie ergoss und ihre Tränen wegspülte, ließen sie sich wieder los und sahen sich an.
Sie hatte erwartet, dass sich zwischen ihnen nach so langer Zeit eine Mauer gebildet hätte, aus Eifersucht und Misstrauen. Aber vor ihr saß Benjamin – genau so, wie sie ihn kannte. Groß, ruhig und zuverlässig. An seinen langen Wimpern hingen Wassertropfen, und über seine Wange liefen keine Tränen mehr, sondern Regenwasser.
»Dafür muss dieses Schwein büßen«, sagte er. »Dafür werden sie ihn drankriegen.«
»Und was ist, wenn wir ihn umgebracht haben?«, fragte Jacob ängstlich.
»Das haben wir nicht. Die Wände da unten sind aus Stein, das Feuer wird sich nach oben ausbreiten, dort sind die Böden aus Holz«, beruhigte ihn Sofia.
Da meldete sich Björk aus dem Steuerhäuschen zu Wort.
»Das stimmt. Trotzdem hoffe ich, dass es ihn erwischt hat.«
Simon fing an zu lachen.
»Mann, Simon, hör auf so zu lachen. Das ist spooky«, sagte Benjamin. »Er kann uns deswegen anzeigen. Die Wachen haben uns gesehen.«
»Nein, das kann er eben nicht«, sagte Simon und grinste.
»Und warum nicht?«
»Wir sind doch gar nicht da gewesen. Sofia hat ein wasserdichtes Alibi, dafür hat Oswald selbst gesorgt. Jacob ist heute Morgen geflohen und hat sich bei Edwin versteckt. Elsa kann bezeugen, dass er den ganzen Vormittag bei ihr
war. Benjamin hat keinen Fuß auf die Insel gesetzt und ist auch gestern früh nicht mit der Fähre gekommen. Das kann Edwin bestätigen. Und ich, ich bin nur ein Bauerntölpel, der in der Erde gräbt. Das wird Inga Hermansson bezeugen.«
»Aber es gibt noch eine Person, die weiß, dass ich hier bin«, sagte Sofia. »Dieser miese Typ, Mattias, den ich in San Francisco kennengelernt habe. Er hat meinen Mail-Account gehackt.«
»Genau! Was ist, wenn der alles zugibt und gesteht?«, fragte Benjamin.
»Das wird er nicht«, sagte Simon. »Der wird wohl kaum zugeben, dass er Sofia entführt und ihren Mail-Account gehackt hat. Callini und Mattias sind doch nur Oswalds Spielfiguren. Und Mattias ist jetzt in einer ziemlich beschissenen Situation. Mit ihm nehmen wir Kontakt auf, wenn wir an Land sind. Der wird uns noch von großem Nutzen sein.«
Benjamin lachte und warf die Hände in die Luft.
»Simon, du bist echt der Hammer! So was von souverän und cool! Aber Sofia, du musst Oswald wegen der Vergewaltigung anzeigen.«
Sofia verzog das Gesicht. Schon der Gedanke, sein spöttisches Grinsen im Gerichtssaal sehen zu müssen, erzeugte Übelkeit.
»Das werde ich nicht tun. Er hat für die Vergewaltigung von Elvira ein gemütliches Jahr im Knast geschenkt bekommen, in dem er sein idiotisches Thesenbuch geschrieben hat. Es ist das Beste, wenn der ganze Scheiß da verbrennt.«
Sie hörten die Sirenen der Feuerwehr. Auch die blauen Lichter flackerten über den Sund. Sofia drückte die Familienchronik fest an ihren Körper. Was für ein Glück, dass sie das Buch auf der Flucht nicht verloren hatte. Ein Teil von ihr befand sich noch mit klopfendem Herzen in dem Keller,
der andere Teil war von einem tiefen, inneren Frieden erfüllt.
Vor ihnen lag das Meer. Es hatte aufgehört zu regnen. Die feuchte kühle Luft strich ihr übers Gesicht. Der Wind flüsterte in ihren Haaren. Es war Sigrid Bärensteins Stimme. Jetzt bekommt er, was er verdient.
Ein neuer Plan setzte sich in ihrem Kopf zusammen, ein Szenario, das nach Triumph und Gewinn schmeckte. Zwar schlich sich sofort der Gedanke dazwischen, dass Oswald auch diese Schlinge würde umgehen können. Aber dann fiel der erste Dominostein um. Und auf einmal öffnete sich die Tür zu einer Lösung. Sie spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. Natürlich, es war so einfach.
Sie hatten den Hafen fast erreicht. Sie wollte sich kneifen, um sich daran zu erinnern, dass sie es geschafft hatten. Das harte Deck des Bootes, Benjamins warme Arme, der dunkle Himmel über ihnen. Es gab viel zu tun. Sie überlegte, was sie als Nächstes vorhatte. Sie wollte ihren Mail-Account zurück, Mattias unter Druck setzen, ihre Eltern wiedersehen, sich was Warmes anziehen und vor allem etwas essen.
Ihr fiel es schwer, sich von Simon zu trennen. Sein warmer, liebevoller Blick ruhte auf ihr und löste ein gutes Gefühl in ihr aus. Freundschaftliche Liebe. Simon lachte.
»Mann, war das cool!«
Auf der anderen Seite des Sundes konnte man das Feuer deutlich sehen, wie ein großer, roter Fleck am Himmel. Wie ein morgendlicher Sonnenuntergang.
Es ist schade um das schöne alte Gebäude, fand Sofia.
»Aber ich war ja zum Glück nicht da.«