Kontext-Lag beschreibt die Schwierigkeiten beim Wechsel von einer Umgebung in eine andere. Schnelle Wechsel oder eine Überlappung von mehreren Umgebungen können zum Kontext-Kollaps führen. Sich seiner Umgebung und der dort geltenden Regeln fortwährend bewusst zu sein wird Kontext-Awareness genannt.

Lady Adas Lexikon

Drei Tage später habe ich immer noch kein Geld. Und mir fehlt nicht nur das von Ms. Pang. Auch die zweite Zahlung von Mr. Jones ist ausgeblieben, und weder er noch Smith antworten auf meine Nachrichten. Ich unterhalte mich kurz mit Mom. Sie ist so nett, mir das fällige ›Ich habe es dir ja gesagt‹ zu ersparen.

Mom klingt erholter als bei unserer letzten Unterhaltung. Das ergibt Sinn, denn sie haben den Tatverdächtigen des Delhi-Absturzes festgenommen. Statt eines terroristischen Genies

Ich würde gerne mehr Details erfahren, doch Mom darf nicht mal bestätigen, dass sie an dem Fall gearbeitet hat, also muss ich mich wie der Rest der Welt auch auf Nachrichten und Gerüchte verlassen. Die brennendste Frage ist, ob Sunil Gupta allein handelte. Die Experten auf CNN wollen nicht zugeben, dass ein Teenager sich ohne Hilfe in die Flugsicherung hätte hacken können. Doch nachdem sie auf Wikipedia gelesen haben, dass Indien in Asien liegt, sind sie zu dem Schluss gekommen, dass er vermutlich ein Mathegenie ist.

Es gibt viele wilde Spekulationen darüber, wie er das geschafft hat, doch die Behörden lassen nur verlauten, dass sie »das Problem gefunden und behoben« haben. Eines der Gerüchte geht davon aus, dass Sunil sich über eine vernetzte Kaffeemaschine Zugang zum Tower verschafft hat. Anstatt das Kontrollsystem direkt anzugreifen, hat er die unsichere Bluetooth-Verbindung genutzt, um einen »Cyber Bank Shot« auf den Computer abzufeuern. Für mich hört sich das nach Schwachsinn an, doch die Leute auf CNN finden es super, weil es cool klingt und viele weitere Fragen nach sich zieht, mit denen sie sich die Zeit

Vollpfosten, denke ich, aber die Tatsache, dass ich mir die Diskussionsrunden inklusive Werbepausen anschaue, spricht dafür, dass sie nicht die einzigen Vollpfosten in diesem Spiel sind. Als ich das Fernsehen ausmache, bin ich immer noch wie gebannt: Ich treibe mich noch eine Stunde im Internet rum und suche nach Hinweisen darauf, dass die Geschichte mit der Kaffeemaschine wahr ist. Ich finde nichts, doch bei meiner Suche stoße ich auf Kowloon‑Bay‑Daily, ein Nachrichtenportal aus Hongkong, das sich auf virtuelle Darstellungen von Tatorten spezialisiert hat.

Sie zeigen eine 3-D-Version des Absturzes. Eine unförmige Figur, die Sunil Gupta darstellen soll, beugt sich tief über einen Schreibtisch. Sein Laptop vor ihm sendet Radiowellen aus. Die Wellen treffen auf den Tower der Flugsicherung, wo eine Kaffeetasse in unheilverkündendem Rot aufleuchtet. Über dem Tower fliegen ein Jumbo-Jet und ein kleineres Flugzeug aufeinander zu. In letzter Sekunde beschleunigt der Jet und zieht hoch. Der Rückstoß seiner Triebwerke drückt die Nase des kleineren Flugzeugs nach unten, so dass es zu Boden trudelt. Die Cartoongraphik macht das Ganze noch erschreckender und geschmackloser, als es klingt, doch ich kann den Blick nicht abwenden. Als die Simulation zu Ende ist, schaue ich mir auch den Rest der Webseite an.

So lande ich bei einem Zwischenfall am Suvarnabhumi-International-Airport in Bangkok und sehe einem nervösen

Ich frage den Googlebot nach neutraleren Berichten über den Mord an General Han und schicke Mom den Link und eine Notiz dazu. Wenn wir davon ausgehen, dass Kim Jong-un den Mord an dem General in Auftrag gegeben hat, könnte das dann auf gravierendere Probleme innerhalb des Regimes hindeuten? Höre ich vielleicht wegen dieser Hofintrige nichts von Mr. Jones und Smith?

Fünfundvierzig Minuten später schickt Mom mir ein einziges Wort als Antwort: »kreativ«.

 

Es ist nach Mitternacht. Ich will mich gerade ausloggen, als ich eine Nachricht von Anja erhalte, die mich in der Game-Lobby treffen will.

Sie wartet an der Bar auf mich. »Was gibt’s?«

»Ein Dungeon-Run?«

Sie schüttelt den Kopf. »Habitual Offender.«

Ich grinse. »Willst du das Gesetz brechen?«

»Wir rauben ein paar Banken aus und holen uns das ›Butch and Sundance‹-Achievement auf dem südamerikanischen Server.«

»Ist das ein Auftrag?«

»Nein, nur so … Aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du dabei wärst.«

Ich höre an ihrem Tonfall, dass sie nicht nur bei dem Bankraub meine Hilfe braucht. »Geht es um einen Kerl?«

Sie nickt. »Javier«, sagt sie. »Ich habe ihn getroffen, als ich den Kleriker für Ray hochgelevelt habe.«

»Und du willst meine Meinung?«

Sie nickt wieder. »Wenn es dir nichts ausmacht. Er ist echt nett, aber … du weißt schon.«

Als Anja bei uns anfing, war sie mit einem Kerl namens Hans Steuri zusammen. Sie hatten sich bei Reboot getroffen, einer virtuellen Selbsthilfegruppe, die Schwerbehinderte dabei unterstützt, sich an das Online-Leben zu gewöhnen. Hans gab sich für einen neunzehnjährigen Schweizer aus, der wie Anja gute Chancen auf Olympia gehabt hatte, seit einem Unfall aber gelähmt war. In seinem Fall war es ein vermasselter Skisprung.

Eines Tages brachte Anja ihn mit auf einen Level‑Grind. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Seine aggressive Freundlichkeit erinnerte mich an einen Gebrauchtwagenhändler, der einem unbedingt ein Auto andrehen will. Außerdem spielte er schlecht und ignorierte meine Ratschläge. Aber Anja schien ihn wirklich zu mögen, also gab ich mein Bestes, nett zu sein.

In Wahrheit hieß er Harvey Gladstone und war ein achtundvierzigjähriger Immobilienmakler aus Miami. Er gab zu, dass er noch nie im Leben Ski gefahren war und außer »ein paar Ischias-Problemen« keinerlei körperliche Einschränkungen hatte. Ich konnte mir trotz seiner gestammelten Erklärungsversuche keinen Reim darauf machen, ob er bei Reboot nur Frauen kennenlernen wollte oder ob er einen besonderen Fetisch hatte. Doch so genau wollte ich das eigentlich gar nicht wissen.

Anja war zutiefst gekränkt und erklärte Harvey für tot. Am nächsten Tag erzählte sie mir panisch, dass er sich eine neue ID besorgt und in der Lobby auf sie gewartet hatte, weil er reden wollte. Sie erklärte ihn wieder für tot. Eine halbe Stunde später war er wieder da und hatte wieder einen neuen Avatar. Sie erkannte ihn an seiner Körpersprache.

Anja war ratlos. Harvey kannte ihre Abläufe und ihre Lieblingsplätze im Spiel. Sie wollte das nicht alles aufgeben oder sich eine neue ID zulegen. Das Internet war ihr Zuhause.

Ich versprach ihr, mich darum zu kümmern. Jemand bei Griefnet, der Cyberwehr, schuldete mir noch einen Gefallen. Ich habe keine Ahnung, was mein Kontakt tat, aber weniger als vierundzwanzig Stunden später bekam Anja eine E-Mail, in der es

Sie war erleichtert. Und dankbar. Ich sagte ihr, sie solle sich keine Gedanken darüber machen, denn ich hatte so eine Ahnung, wohin das führen würde: Ich wollte nicht jeden ihrer zukünftigen Freunde absegnen müssen. Doch manche Jobs kriegt man eben, ob man sie nun will oder nicht. Und wenn Anja jetzt einen netten Kerl trifft, bittet sie mich um meine Einschätzung. Ist der so nett, wie er aussieht, oder sollte sie vorsichtig sein? Und wo wir schon mal dabei sind: Ob er sie wohl auch mag?

Jolene erinnert mich gerne daran, dass ich Anjas freundliches Wesen und ihre Bereitschaft zu Überstunden über Gebühr strapazierte. Doch ich versuche, es als ein Geben und Nehmen zu sehen. Wenn Anja mich um etwas bittet, helfe ich ihr, auch wenn ich keine Lust darauf habe. Damit unser Karma im Gleichgewicht bleibt.

Das Gleichgewicht ist ganz schön aus der Bahn geraten, als ich Smiths Malware-Paket auf ihren Computer gespielt habe. Moms Tech-Team zufolge ist es hauptsächlich Spyware. Wie jeder Code, der Root-Zugang braucht, kann er Schaden anrichten, doch hauptsächlich dient er zur Überwachung: Er bekommt mit, was Anja sieht, sagt und tut, und er überprüft die Dateien auf ihrem Computer. Selbst wenn Smith die Malware als Waffe nutzen wollte, wären die Auswirkungen gering. Anjas lebenserhaltende Maßnahmen werden von einem separaten, unabhängigen Computer kontrolliert, an den die Malware nicht rankommt. Es sei denn vielleicht, Anja hat eine Kaffeemaschine auf ihrem Zimmer.

Ich setze sie also keinerlei Gefahr aus. Aber dafür habe ich ihr die Privatsphäre genommen, was sogar mit Moms stiller Zustimmung nicht in Ordnung ist. Ich war so auf das Geheimnis

Doch ich kann versuchen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wenn Anja also wissen will, ob ein Kerl aus dem Internet wirklich vertrauenswürdig ist, dann gebe ich mein Bestes, um genau das herauszufinden.

»Macht es Javier sicher nichts aus, wenn du jemanden mitbringst?«, frage ich.

»Wir sind eine Gruppe«, antwortet Anja. »Javier bringt seine Schwester und deren Freund mit. Und wir haben einen coolen SUV, den wir extra für diesen Bankraub aufgemotzt haben«, fügt sie hinzu. »Du kannst fahren, wenn du möchtest.«

»Nein, schon okay«, sage ich. »Wenn du wissen willst, ob Javier deine Zeit wirklich wert ist musst du den Wagen fahren. Und du musst so tun, als wärst du eine richtig schlechte Fahrerin.«

 

Ich kümmerte mich darum, Anjas potenzielle Partner zu überprüfen, doch es gab andere Themen, die sie weder mit mir noch mit Ray besprechen konnte. Darla wäre zwar nicht meine erste Wahl gewesen, wenn es um Sex-Ratschläge geht, aber ich kann verstehen, warum Anja sich an sie wandte.

Einige Tage nach dem zweiten Raid in Zuul’titlan hatten wir uns für einen Level-Grind am Haus an der Kreuzung verabredet. Ich kam zu spät, und als ich endlich dort war, sah ich Ray, der am Straßenrand magische Kräuter erntete. Er war allein, doch seinem verärgerten Gesichtsausdruck nach zu schließen noch nicht lange.

»Kacke«, sagte er, bevor ich fragen konnte.

»Wir kamen vom Aussichtspunkt«, erklärte er und deutete auf den Hügel, den ich gerade heruntergekommen war »und sind an der Stelle mit der Plumpsklo-Quest vorbeigekommen. Du weißt schon, die mit dem Goblin?«

»Proctor.« Proctor, der reisende Handelsgoblin, hat sich in einem Plumpsklo eingesperrt. Er bittet dich, in den umliegenden Wäldern Eulenbären zu töten und ihm das weiche Pergament zu bringen, dass sie fallen lassen. Bringst du ihm acht Fetzen, belohnt er dich mit einer Handvoll warmer, stinkender Diamanten. »Ja, ich kenne die Quest.«

»Jeder kennt die, die ist nämlich widerlich«, sagte Ray. »Darla hat das Plumpsklo gesehen und fängt an, alle Quests aufzuzählen, in denen es um Kacke geht.«

»Es gibt ja auch wirklich viele davon.« Wenn man genug Zeit damit verbringt, seinen Call-to‑Wizardry-Charakter hochzuleveln, stellt man schnell fest, dass jemand im Design-Team ein Faible für Fäkalhumor hat. Es gibt sogar eine Angel-Quest, wo man Einhornmist als Köder benutzt, um ein Seeungeheuer anzulocken.

»Darla geht sie also alle durch. Und dann wirft sie Anja einen Blick zu und fragt: ›Hey, Anja, wie kackst du eigentlich?‹«

»O Gott«, sagte ich. »War Anja beleidigt?«

»Nein, sie fand das voll okay«, sagte Ray. »Sie musste sich ein bisschen an Darla gewöhnen, aber jetzt findet sie es, glaube ich, ganz gut, dass Darla sie im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen nicht mit Samthandschuhen anfasst. Also alles gut, aber ich will wirklich nicht wissen, wie das bei Anja funktioniert. Wenn es nur eine Frage ist, dann von mir aus, dann kann ich weghören und die Frage ignorieren. Aber natürlich ist es nicht nur eine Frage, da wurde eine ganze Unterhaltung draus: Was

»Und hey«, er hebt abwehrend die Hände, »ich finde es toll, dass wir in so einer aufgeklärten Zeit leben, weißt du, wo Menschen mit ekelhaften Krankheiten erfüllende Karrieren haben und sich ›empowered‹ fühlen und so weiter. Okay? Aber ich will das nicht hören. Ich will mir da keine Gedanken drüber machen müssen. Ganz besonders, weil ich weiß, dass Darla sich nur wegen des Ekelfaktors dafür interessiert.

Ich will nichts davon hören, aber ich sage nichts, weil es dann noch schlimmer wird und ich Anjas Gefühle nicht verletzen will. Aber selbst das hilft mir natürlich nicht, weil Darla eine verdammt gute Nase dafür hat, wenn Leute etwas stört.

Ich halte mich also zurück und kümmere mich um meinen eigenen Kram und bete, dass wir bald das Thema wechseln, als Darla plötzlich aufblickt: ›Hey, Ray, was bist du denn so still? Gefällt dir das Thema nicht? Das ist ganz natürlich, Ray. Der Papst kackt auch. Jesus hat auch gekackt. Bestimmt sogar, als er am Kreuz hing …‹«

»Ja, okay«, sagte ich. »Ich kann’s mir vorstellen.«

»Kannst du das?« Er wirft mir einen wütenden Blick zu. »Da bin ich aber froh … jedenfalls habe ich ihr daraufhin gesagt, sie soll sich verpissen. Was nur geklappt hat, weil Anja Mitleid mit mir hatte und Darla zu einem Spaziergang überredet hat. Und deshalb stehe ich hier alleine mit einer Scheißlaune rum. Wegen Kacke.«

»Ich rede mit Darla.«

Ray lachte. »Klar, als ob das was ändert … Hast du schon eine Antwort auf meine Frage gefunden? Wie lange das gehen soll?«

»Arbeite schneller.«

 

»ATENÇÃO, VADIA!«, ruft der Motorradfahrer, als Anja auf seine Spur rüberzieht. Dann weicht er auf den Bürgersteig aus, fährt eine Frau mit Kinderwagen um und wird gegen die Wand des Ministério do Turismo geschleudert. Die brasilianische Bundespolizei schaut aus ihrem Streifenwagen in Richtung des Unfalls, ändert aber ihren Kurs nicht. Anja hat den Motorradfahrer nicht berührt, also wird der Unfall nicht ihr zugeschrieben. Als sie eine rote Ampel ignoriert und der alte Mann, der gerade die Straße überquert, seinen Stock fallen lässt und zum Bürgersteig hechtet, entlockt das den Cops nur ein Gähnen.

Wir fahren auf der Eixo Monumental, einer riesigen zwölfspurigen Straße, die mitten durch Brasiliens Hauptstadt Brasília führt, nach Westen. Regierungsgebäude säumen diesen Abschnitt der Eixo: Hier befinden sich die Ministerien für Handel, Finanzen, Kultur, Energie, Planung und Verteidigung. Unsere erste Bank liegt einen Kilometer entfernt bei den Geschäften auf der anderen Seite der Eixo Rodoviário.

Anjas Date, Javier Messner, ist der bewaffnete Beifahrer unseres gepanzerten SUV. Er sieht aus wie ein schlanker weißer Kerl mit blauen Augen, braunem Haar und einem ordentlich gestutzten Bart. Sowohl sein Aussehen als auch seine Geschichte – er ist ein zwanzigjähriger Barista, der in Buenos Aires lebt und arbeitet – können auf seinen Social-Media-Konten verifiziert werden. Durch eine Überprüfung auf Ancestry.com findet man heraus, dass seine Familie vor dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien emigrierte, also stammt er nicht von geflüchteten Nazis ab. Javier und Anja unterhalten sich auf Spanisch und Deutsch. Sogar auf Deutsch klingt Javier total entspannt und

Javiers Schwester, die siebzehnjährige Blanca, ist da schon angespannter. Sie sitzt hinter Javier, spielt mit ihrer Maschinenpistole rum und kann es offensichtlich kaum erwarten, endlich ein paar Verbrechen zu begehen. Doch Blanca ist auch professionell: Trotz ihrer Unruhe schießt sie nicht wahllos auf Passanten, wie Darla es in dieser Situation wohl tun würde.

Blancas Freund, der sechzehnjährige Bruno Ribeiro, kommt eigentlich aus Brasília, ist aber nach der Scheidung seiner Eltern mit seiner Mutter nach Argentinien gezogen. Er bestaunt die virtuelle Version seiner Heimatstadt und stürzt Blanca immer wieder in Verlegenheit, wenn er auf Sehenswürdigkeiten zeigt und bemerkt, wie schön sie gerendert sind. »Mein Gott«, sagt Blanca irgendwann. »Warum tätowierst du dir nicht einfach »Noob« auf die Stirn?«

Ich sitze mit mehreren Waffen ganz hinten. Direkt über mir ist eine Luke im Dach, so dass ich wenn nötig aufstehen und auf unsere Verfolger schießen kann. Doch momentan kann ich Anja und Javier zuhören. Ich habe Untertitel eingeschaltet, so dass ich ihre echten Stimmen hören kann. Bis jetzt habe ich den Eindruck, dass Javier ganz in Ordnung ist. Ein bisschen zu ruhig für meinen Geschmack, aber Anja scheint das zu gefallen.

Wir brechen noch ein paar Verkehrsregeln, bevor wir zur Bank kommen. Als wir einen Block entfernt sind, hören wir bereits Schüsse. Die Bank wird schon von jemandem ausgeraubt. Anja folgt den Benimmregeln des Spiels, fährt rechts ran und

Wie viel Geld im Tresor ist, hängt davon ab, wie oft er in der letzten Stunde ausgeraubt wurde, doch man findet immer einen Geldbeutel aus rotem Stoff. Wenn man den stiehlt, läuft die Zeit für das ›Butch and Sundance‹-Achievement, und man hat neunzig Minuten, um die anderen roten Beutel aus den Banken in Argentinien, Chile, Bolivien und Peru zu stehlen. In Habitual Offender befindet sich ganz Südamerika auf wenigen hundert virtuellen Quadratkilometern, so dass diese Tour eine Art Greatest Hits des Kontinents ist. Für den Weg von Brasília nach Buenos Aires braucht man im Spiel zum Beispiel nur fünfzehn Minuten, obwohl die beiden Städte in Wirklichkeit dreitausend Kilometer auseinanderliegen. Selbst diese fünfzehn Minuten können allerdings ziemlich lang werden, wenn die Polizei hinter dir her ist.

Man kann die Banken in jeder beliebigen Reihenfolge ausrauben. Wir haben uns überlegt, dass wir sie im Uhrzeigersinn abfahren, in Brasília anfangen und dann über Buenos Aires, Santiago und La Paz nach Lima fahren. Javier fragt noch mal nach, ob das für alle in Ordnung ist. Wir nicken. »Dann mal los«, sagt Blanca.

Die Schüsse vor der Bank sind verklungen, und die Notärzte sammeln schnell die Leichen ein. »Okay«, sagt Javier. »John, macht es dir was aus, Wache zu stehen, während wir anderen reingehen?«

»Kein Problem.« Auch in diesem Spiel gibt es Griefer, und man will auf keinen Fall, dass irgendein komischer Vogel das Fluchtauto klaut, während man die Bank ausraubt.

Anja parkt vor dem Gebäude und steigt mit den anderen aus. Sie, Javier und Blanca tragen eine Maschinenpistole. Bruno hat eine Schrotflinte. In der echten Welt erregt man mit so einem

Die anderen machen sich auf den Weg in die Bank, und ich klettere auf das Dach des SUV. Ich trage eine Minigun – eine schwere Waffe mit sechs Trommeln, die fünftausend Schuss pro Minute abgibt und die ich bewusst auf den Himmel gerichtet halte. Ein abgearbeiteter Polizist läuft auf dem Bürgersteig vorbei, lächelt und tippt sich an seine Mütze. »Boa noite«, sagt er. Guten Abend.

»Foda-se a polícia«, erwidere ich. Fuck the police.

 

»Scheiß auf deine Mutter«, sagte Darla. »Es ist doch dein Leben.«

Der Weg, den Ray mir gezeigt hatte, führte durch einen Wald. Ich fand Darla und Anja am Rande der Zone auf einer Klippe, von der aus man den Echsensumpf im Süden überblicken kann. Sie standen mit dem Rücken zu mir, als ich zwischen den Bäumen hervortrat. Ich wollte sie gerade auf mich aufmerksam machen, als ich erkannte, worüber sie sprachen.

»Also hast du gar kein Gefühl in deinem Kitzler?«

»Ich spüre ab dem Hals abwärts nichts mehr«, sagte Anja. »Zumindest nicht, wenn ich wach bin. Im Schlaf scheint sich mein Gehirn noch zu erinnern, manchmal träume ich …«

»Also hast du vor dem Unfall …«, sagte Darla.

»Oh, klar. Da war dieser Kerl im Männerteam, Rolando, und wir haben Sachen gemacht. Nicht alles, aber, na du weißt schon.«

»Ihr seid nicht mehr zusammen? Wegen des Unfalls?«

»Nein, wir haben vorher Schluss gemacht. Rolando war ungeduldig. Er wollte mehr, aber ich war noch nicht bereit. Jetzt tut’s mir irgendwie leid, dass ich nicht ja gesagt habe.«

Ich wollte mich gerade in den Schatten der Bäume zurückziehen, als sich Darla umdrehte. Beinahe wäre ich in Deckung gehechtet, doch dann fiel mir ein, dass ich einen Ninja spielte und einfach den Stealth-Mode anschmeißen konnte.

»Wie auch immer«, fuhr Darla fort und sah jetzt in meine Richtung. »Dass das alles nur in deinem Kopf passiert, macht es sogar leichter, dann weiß deine Mutter nämlich nicht, was du anstellst. Sie kann nicht überprüfen, was du online machst, oder?«

»Nein, wir haben einen Deal«, sagte Anja. »Aber dieser Techniker, der einmal im Monat kommt, kann ziemlich neugierig sein. Wenn ich eine Software heruntergeladen habe, die er nicht kennt, fragt er mich danach.«

»Ich kann dir zeigen, wie du das Programm verstecken kannst, damit er es nicht findet. Aber wenn du auf Nummer sicher gehen willst, kannst du es einfach deinstallieren, bevor er kommt, und es wieder herunterladen, wenn er gegangen ist.«

»Und mit der Software kann man …«

»Damit ein Kerl nicht die Lust verliert«, sagte Darla. »Und noch etwas mehr als das.«

Ich zog mich zwischen die Bäume zurück.

 

»Da rechts«, sagt Javier ruhig, als ein schwarzer Regierungswagen mit getönten Scheiben in einer Seitenstraße auftaucht. Er will uns seitlich rammen, doch während Anja Gas gibt und uns so außer Gefahr bringt, verfeuert Blanca ein ganzes Magazin ihrer Maschinenpistole. Eine Kugel trifft den Fahrer, der die Kontrolle über den Wagen verliert. Einige am Straßenrand grasende

Unser Weg nach Santiago führt uns durch die Anden. Unser Fahndungslevel liegt gerade bei vier von fünf, also suchen nicht nur die Orts- und Regionalpolizei nach uns, sondern auch das argentinische FBI und der Geheimdienst. Aber wir liegen gut in der Zeit, und unser SUV ist größtenteils noch heil. Anja tut nicht mehr so, als könnte sie nicht fahren, und umkurvt gekonnt die Nagelsperren, die die Polizei auf der Autobahn vor uns auslegt, während Javier, Blanca und ich uns um die Verfolger kümmern. Bruno ist gerade nicht sehr hilfreich. Es hat sich herausgestellt, dass er wirklich ein Noob ist. Und zwar nicht nur, was Habitual Offender angeht: Er hat tatsächlich noch nie ein VR-Spiel gespielt, und ihm ist schlecht. Jedes Mal, wenn Anja schwungvoll um die Biegung einer Serpentine fährt, stöhnt er und hält sich den Bauch.

Wir erreichen den Gipfel des Gebirges und fahren an einem Schild mit der Aufschrift BIENVENIDOS A CHILE vorbei. Wenn man über eine Grenze fährt, sinkt das Fahndungslevel automatisch auf die nächste niedrige Stufe. Das ist gut, aber noch nicht gut genug. Bevor wir uns die nächste Bank vornehmen, müssen wir von ihrem Radar verschwunden sein. Wenn wir keinen Countdown hätten, würden wir einfach nach Patagonien fahren und uns dort in der Pampa die Zeit vertreiben, bis die Cops das Interesse verloren haben. Doch jetzt brauchen wir eine effizientere Lösung. Anja weiß das.

Nach einer scharfen Biegung verläuft die Autobahn nun gerade. Die Grenze zwischen Chile und Argentinien verläuft auf einer steilen Anhöhe zu unserer Rechten parallel zur Straße. »Bruno«, sagt Anja, »du solltest vermutlich die Augen schließen.« Sie tritt das Gaspedal durch und fährt über den

Wir rasen den Berg hinunter in das Zentraltal Chiles. Als wir auf die Hauptstadt zufahren, bietet sich uns ein unglaublicher Anblick: Ein Jumbo-Jet hat gerade vom Santiago-Airport abgehoben, und außen auf dem Flugzeug befinden sich Leute. Sie rennen auf dem Dach und den Flügeln umher und schießen aufeinander. Rivalisierende Hijacker-Teams vielleicht oder eine Gruppe von Spielern, die sich ihr eigenes Achievement ausgedacht hat: der Mile-High-Club nur mit Pistolen und Granaten. Warum sie da oben rumturnen, ist mir nicht klar, aber das Ergebnis ist absehbar: Ein verirrtes Geschoss trifft eines der Triebwerke des Jets. Das Flugzeug dreht sich in der Luft auf den Rücken und stürzt in die Tiefe.

Ich muss unweigerlich an Sunil Guptas Hack denken. Allerdings weiß ich auch, dass ein Massenmord in einem Videospiel nicht dasselbe ist wie im echten Leben, und deshalb bin ich in diesem Fall nicht entsetzt, sondern genervt: Offenbar wird das Flugzeug genau auf der Hauptstraße landen, die in die Stadt führt. Das könnte uns empfindlich viel Zeit kosten.

»Keine Sorge«, sagt Anja. »Ich kenne eine gute Umleitung.« Sie fährt nach rechts durch die Baustellenabsperrung einer Abfahrt, die den perfekten Winkel für eine Sprungrampe hat. Wir kommen auf dem Luftweg in Santiago an.

Bruno würgt.

 

Auf dem Rückweg zu Ray lief ich Griefern in die Arme. Sobald Darla und Anja mich nicht mehr sehen konnten, wurde ich wieder sichtbar. Das war ein Fehler. Ich war nicht im PvP-Modus, also konnte mich der Griefer gar nicht treffen, doch ich habe reflexartig mit meinem Katana zugeschlagen. Damit war ich im PvP-Modus. Ein Gnom-Zauberer tauchte hinter einem anderen Baum auf und schoss Frostblitze auf mich, die mich verlangsamten, und so konnte der Krieger mich in Stücke hacken.

Nachdem sie mich getötet hatten, campten sie bei meiner Leiche. Ich kam vom Friedhof zurück, belebte mich wieder und versuchte, mit meiner Ninja-Rauchbombe schnell abzuhauen, doch der Zauberer setzte eine Frostsphäre ein, damit ich nicht unsichtbar werden konnte. Sie töteten mich wieder. Und wieder.

Ich überlegte, ob ich Hilfe holen oder das Spiel doch lieber an den Nagel hängen und mir einen Job bei McDonald’s suchen sollte, als Darla auftauchte. Sie spielte einen Tankdruiden – einen Grizzlybären in Rüstung. Sie rannte auf den Zauberer zu und zerfleischte ihn, bevor er verstanden hatte, was vor sich ging. Dann machte sie dem Krieger den Garaus. Im Kampf sah sie wesentlich eleganter aus, als ein echter Grizzly es je sein könnte. Es war schon beeindruckend, aber ich wusste, dass Darla nicht darauf angespielt hatte.

»Du hast mich gesehen.«

»Klar habe ich dich gesehen. Ganz heißer Tipp: Wenn du dich an jemanden anschleichen willst, um ihn zu belauschen, dann solltest du unsichtbar werden, bevor du in Sichtweite kommst.«

»Wo ist Anja jetzt?«, fragte ich.

»Wieder bei Ray. Sie schmiert ihm Honig ums Maul.«

»Wo wir schon dabei sind: Du musst echt aufhören, ihn zu nerven.«

»Das Problem ist nicht, dass Ray empfindlich ist«, sagte ich, »sondern dass du nach Ärger suchst, weil dir langweilig ist.«

Darla zuckte die Achseln. »So bin ich halt. Mom sagt immer, ich bin richtig ätzend, wenn ich mich langweile.«

»Triffst du dich deshalb mit Anja?«

»Was meinst du?«

»Ich habe nicht gelauscht, aber trotzdem gehört, worüber ihr gesprochen habt.«

»Ach ja? Hat dich das geil gemacht?«

»Ich frage mich, ob du Anja helfen willst oder nur so tust, damit sie Ärger mit ihrer Mom bekommt?«

»Wow«, sagte Darla. »Also erstens: Fick dich. Und zweitens: Was hältst du von mir, dass du so eine Frage stellst?«

»Ich will kein Arsch sein, Darla. Aber ich bin auch nicht blind.«

»Wenn du wirklich nicht blind wärst, dann wüsstest du, dass ich Anja mag. Sie ist nicht so eine Pussy wie Ray. Oder wie du.«

»Also bist du einfach nur nett, wenn du sie fragst, ob ihre Familie die Mengeles kennt oder Adolf Eichmann mal zum Abendessen vorbeigekommen ist? Und als du in Zuul’titlan einen Witz darüber gemacht hast, dass die ganzen Leichen sie bestimmt an ihr Herkunftsland erinnern …«

Darla verdrehte die Augen, als könnte sie nicht glauben, dass ich uncool genug war, sie nach ihrem Verhalten zu beurteilen. »Schön«, sagte sie. »Vielleicht ärgere ich sie manchmal. Aber das hier ist anders. Sie hat um meine Hilfe gebeten, okay? Sie will ein Sexleben wie jedes andere Mädchen auch. Hast du ein Problem damit?«

»Nein, habe ich nicht. Aber es geht hier nicht um meine

»Und nur weil ihre Mom auf Jesus steht, muss Anja in Keuschheit leben?«

»Ich sage ja nicht, dass du ihr nicht helfen sollst. Ich will dich nur bitten, vorsichtig zu sein. Wenn du dich mit deiner Mom streitest, kannst du aufstehen und gehen. Anja nicht.«

Darla seufzte entnervt. »Schön«, wiederholte sie und wandte stirnrunzelnd den Blick ab. Doch dann glättete sich ihre Stirn, und sie grinste. »Sie steht auf dich, weißt du?«, sagte sie, als sie sich wieder zu mir umdrehte. »Anja, meine ich. Sie hat mir gesagt, dass sie total auf dich stand, als sie bei euch angefangen hat.«

Das wusste ich. Und es war einer der Gründe, warum ich zugestimmt hatte, Anjas Dates zu überprüfen. Ihr Vertrauter zu werden war eine diplomatische Möglichkeit, mich selbst aus dem Rennen zu nehmen.

»Jep«, fuhr sie fort. »Sie hat gesagt, dass du nichts mit Kolleginnen anfängst. Gilt das für alle, oder sagst du das nur zu denen, auf die du nicht stehst?«

»Worauf willst du hinaus, Darla?«

»Worauf wohl?«

»Es ist ja kein Geheimnis, dass ich dich attraktiv finde. Ich weiß nicht, ob das auf Gegenseitigkeit beruht oder ob du nur so tust, um mich auf die Palme zu bringen.«

»Na ja«, sagte Darla, »wenn du schon fragen musst …«

»Dann ist die Antwort vermutlich die Palme, ich weiß. Aber ich frage trotzdem.«

»Warum? Damit du weißt, ob du mich oder Ray rausschmeißen sollst?«

»Ich will nur wissen, wo ich stehe, okay? Sag mir, dass du kein Interesse hast, und wir sprechen nie wieder darüber.«

»Kann ich denn etwas tun, um dir bei der Entscheidung zu helfen?«

Jetzt hatte sie richtig Spaß, strich sich über das Kinn und tat so, als würde sie angestrengt nachdenken. »Wenn du es wirklich ernst meinst, will ich eine Kugel«, sagte sie schlussendlich.

»Du willst eine Kugel? Von mir?«

»Nein, vom König von Luxemburg … Natürlich von dir. Zehn Minuten lang, im PPML-4.2-Format, komplett vertont und mit guten Aufnahmen.«

»Hm«, machte ich. »Und was springt für mich dabei raus?«

»Na, ich mache dir sicher keine Kugel«, sagte Darla. »Ich könnte dir hundert Dollar anbieten, aber das wäre vermutlich eine Straftat. Mach mir einfach die Kugel. Eine gute. Dann sehen wir weiter.«

»Ich denk drüber nach.«

Sie lachte. »O ja. Da bin ich mir sicher.«

 

»Ich brauche mehr Munition«, schreit Blanca.

»Vergiss das Gewehr, nimm den Raketenwerfer!«, ruft Javier angespannt. »Da kommt ein Panzer!«

Wie Butch und Sundance geht es uns gerade an den Kragen. Wir rauben gerade eine Bank in Bolivien aus, als eine andere Gruppe nicht mehr warten kann und schießend auf uns zubrettert. Bruno wird von der Eröffnungssalve getötet, und eine Granate, die nur zufällig ihr Ziel findet, sprengt die Hinterreifen unseres SUV weg. Ich nehme die Minigun und mache kurzen Prozess mit den Angreifern, doch erwische dabei leider auch eine Prozession aus Nonnen, die sich vor der Kirche gegenüber

Blanca schnappt sich den Raketenwerfer aus dem zerstörten SUV, als der Panzer am Ende des Blocks auftaucht. Sie zielt und schießt, bevor der Panzer seine Kanone ausrichten kann. Er explodiert, und der Geschützturm segelt durch die Luft. Javier und ich nehmen die Sniper ins Visier, die sich auf den umliegenden Häuserdächern positioniert haben.

Anja sucht in der Zwischenzeit nach einem neuen Fluchtfahrzeug. Sie rennt zu einem gepanzerten Auto, das vor der Bank parkt, zerrt den Fahrer hinaus, erschießt ihn und schreit »Na los!«

Schlechte Idee. Wenn unser Fahndungslevel geringer wäre, könnte das funktionieren, doch dieses Fahrzeug schützt uns nicht vor Militärwaffen. Wir brauchen ein schnelles, wendiges Gefährt. »Nimm den Lobini!«, rufe ich ihr zu und zeige auf einen gelben Sportwagen, der in einiger Entfernung steht.

»Das ist ein Zweisitzer!«, sagt Anja.

»Ich weiß«, antworte ich. »Du und Javier setzt euch rein, Blanca geht aufs Dach! Ich bleibe zurück und halte die Soldaten in Schach.«

»Am Arsch«, sagt Blanca, die über Brunos Leiche steht und den Raketenwerfer nachlädt. »Ich bleibe auch hier.«

»Nein!«, sagt Javier. »Wir gehen alle zusammen.« Zwischen Blanca und ihm bricht ein so schneller Streit aus, dass meine Untertitel nicht mitkommen, doch das Wesentliche kriege ich mit: Javier glaubt an Teamwork und Fair Play und will niemanden opfern, um an das Achievement zu kommen. Doch Blanca ist das Achievement scheißegal; sie will nur mit einem mächtigen Knall aus dieser Welt scheiden.

Ihre Diskussion wird von der Ankunft eines Militärhubschraubers unterbrochen. Blanca verpasst ihm eine Rakete. Der

»Schon okay, Javier«, sage ich. »Ich kann mir das Achievement später holen.«

Er ist immer noch nicht zufrieden, doch ein brennender Heckrotor verpasst nur knapp seinen Kopf und hilft ihm bei der Entscheidung. Er setzt sich in Bewegung. Ich werfe Anja einen Blick zu und nicke: Soweit ich sehen kann, ist Javier in Ordnung. Anja nickt ebenfalls und formt die Worte »Danke dir«, bevor sie einsteigt. Sie und Javier rasen davon.

»Shit!«, ruft Blanca. Zwei weitere Panzer sind am Ende des Blocks aufgetaucht. Sie feuert dem vorderen eine Rakete entgegen, so dass er zu einer brennenden Straßensperre wird. »Ich verzieh’ mich!« Sie wirft den leeren Raketenwerfer beiseite und schnappt sich eine M-16 aus dem SUV. »Was jetzt?«

»Wieder rein in die Bank«, schlage ich vor. »Da können wir sie eine Weile in Schach halten.« Blanca nickt und zieht sich in das Gebäude zurück. Ich folge ihr langsam, denn ich schieße mit der schweren Minigun noch den ein oder anderen Sniper ab. Über der Kirche erscheint noch ein Kampfhubschrauber, und ich feuere die letzten paar hundert Kugeln durch seine Windschutzscheibe.

Ich lasse die Minigun fallen und hole das Sturmgewehr hervor, das ich als Zweitwaffe mitgenommen habe. Am Ende des Blocks bahnt sich der zweite Panzer seinen Weg durch die brennenden Wracks. Eine Kanonenkugel zischt knapp an meinem Gesicht vorbei und trifft den gepanzerten Banktransporter, der in seine Einzelteile zerlegt wird. Ich ducke mich schnell durch die Tür und betrete die Bank.

»Blanca?« rufe ich. Sie antwortet nicht. Ich gehe langsam vorwärts und halte nach Wachmännern Ausschau. Ich sehe keine, finde aber Blanca. Sie liegt vor dem offenen Tresor auf dem Boden. Die Augen ihres Avatars sind glasig und leblos. Mitten auf der Stirn hat sie eine Schusswunde.

»Nicht schießen!«, ruft ein Mann auf Englisch. Ich gehe hinter einer Säule in Deckung. Er tritt mit erhobenen Armen aus dem Tresor. Seine rechte Hand ist leer, doch in seiner Linken hält er einen Geldsack. Die einzig sichtbare Waffe, die er bei sich hat, ist ein Taser in einem Holster an seiner Hüfte. »Nicht schießen«, wiederholt er. »Ich will nur reden, John.«

Da erkenne ich ihn. Es ist der Kerl aus dem CIA Factbook. Der Kerl, den ich für einen Reporter gehalten habe und der mir und Mr. Park durch das virtuelle Pjöngjang zu folgen schien. In Habitual Offender trägt sein Avatar keine Alltagskleidung, sondern eine eng anliegende schwarze Körperpanzerung, doch sein Gesicht sieht genauso aus wie in Pjöngjang.

Ich lasse die Waffe sinken und komme hinter der Säule hervor. »Wer zum Teufel bist du?«

»Ms. Pang schickt mich«, sagt er. Er wedelt mit dem Geldsack. »Ich habe dein Honorar.«

Wenn ich nicht so verwirrt wäre, müsste ich lachen. »Du willst mich in Spielwährung bezahlen?«

»Nein. Das Geld ist echt.« Die Sohlen seiner Schuhe klackern über den Boden, als er auf mich zukommt. Doch dann höre ich noch ein Geräusch, das gar nicht dazu passt. Das Knarren einer Bodendiele, wie ich sie in meiner Wohnung habe.

In der Wirklichkeit trifft mich ein schwerer Stoffsack im Gesicht. Es tut nicht richtig weh, aber ich stolpere trotzdem zurück. Ich hebe die Hände, um die VR-Brille abzunehmen, da schockt er mich. Dieses Mal sind die Handlungen asynchron. Sein Avatar zieht den Taser noch aus dem Holster, als er mich im echten Leben schon an der Brust erwischt und fünfzigtausend Volt durch meinen Körper jagt.

Die beiden Welten lösen sich endgültig voneinander, als mein Avatar nach hinten kippt, während ich vornüberfalle. Der Geldbeutel dämpft den Aufprall etwas, doch die Schmerzen vom Elektroschock machen das irgendwie wieder wett.

Als er den Taser wegnimmt, kann ich nichts sehen. Durch den Sturz hat sich mein Headset verschoben. Ich hebe erneut die Hände, um es abzunehmen, doch er sagt streng: »Nicht.«

Dann stupst er mit dem Fuß gegen den Geldsack. Einige Scheine piken mir in die Wange. »Vierhunderttausend Dollar«, sagt er. »Das Honorar für zwei Wochen. Ms. Pang will dir zeigen, dass sie zahlt, aber sie will auch, dass du sie ernst nimmst. Wenn sie nicht will, dass du etwas tust, dann lässt du das auch bleiben. Verstanden?«

»Ja.« Meine Stimme zittert, und ich bekomme schlecht Luft.

»Das hoffe ich doch, John«, sagt er. »Du willst definitiv nicht, dass ich dich noch mal besuche. Das kannst du mir glauben.« Er hält inne. »Nur, damit wir uns richtig verstehen …«

Er muss die Volt hochgedreht haben. Der zweite Schock ist schmerzhafter als der erste und dauert länger. Ich glaube, ich schreie, aber vielleicht war das nur in meinem Kopf. Auf jeden Fall pisse ich mich ein. Als es vorbei ist, kann ich immer noch

Ich liege auf dem Boden und bin dankbar dafür, dass der Schmerz aufgehört hat. Während ich darauf warte, dass mein Nervensystem wieder hochfährt, sabbere ich auf das Geld.