The Book of Lulz

Er will mich sehen.

Darryl Joseph Carter (alias Darla Jean Covington alias Mr. Smith alias Mr. Jones alias Ms. Pang alias namenloser weißer Kerl alias Mr. Bungle) sitzt in der John-McCain-Sonderunterbringung der staatlichen Justizvollzugsanstalt in Victorville. Die Anlage ist mehr als sicher, weil dort die Gefangenen leben, die sonst in Guantanamo gesessen hätten. Dass Darryl dort ist, hat weniger mit den Verbrechen zu tun, die ihm vorgeworfen werden, sondern eher mit den Umständen seiner Festnahme. Die Logik der Regierung geht so: Darryl war das Ziel einer

In der Sonderunterbringung gibt es keine regulären Besuchszeiten. Sogar die Anwälte der Insassen müssen einen Termin machen, um mit ihren Klienten zu sprechen. Als Zivilist ohne Sicherheitsfreigabe muss ich in die Anlage eskortiert werden. Eine Zeitlang wollte Mom mich persönlich begleiten. Es wäre ein guter Anlass gewesen, um etwas Zeit mit mir und anderen Verwandten an der Westküste zu verbringen. Doch irgendwas ist ihr dazwischengekommen, also hat sie ihren neuesten Zero-Day-Rekruten als Ersatz geschickt.

Jolene holt mich vom LAX ab. Ich sehe sie heute zum ersten Mal, seit sie angeschossen wurde. Sie sieht viel besser aus; Ihre gebrochenen Rippen sind verheilt, und sie freut sich über ihren neuen Job. »Das war es fast wert«, lacht sie.

Unser Termin im Gefängnis ist erst um zwei, also essen wir in einem Diner in den San-Gabriel-Mountains zu Mittag. Als wir unsere Burger vor uns haben, fragt Jolene mich, wie das Sherpa-Business läuft. Nicht gut, sage ich. Ich habe aktuell keine Crew. »Anja ist kurz nach dir gegangen.«

»Du hast ihr die Wahrheit über die Malware erzählt?«

Ich nicke. »Ich hatte überlegt, so zu tun, als hätte Darryl ihren Pod ohne meine Hilfe gehackt, aber das hat sich falsch angefühlt. Also habe ich ausgepackt.«

»Gut«, sagt Jolene. »Wie wütend war sie?«

»Eher traurig als wütend, glaube ich. Sie hat nicht offiziell gekündigt, sondern wollte eine Pause einlegen und etwas Zeit mit Javier verbringen. Hast du von Ray gehört?«

»O ja, habe ich.«

Ray lebte in einem Trailer bei Barstow. Vor zwei Wochen fand die Razzia statt. Die Agenten erschossen einen streunenden Hund auf Rays Grundstück, doch von ihr selber fehlte jede Spur. Wie es aussieht, hatte sie wenige Stunden zuvor ihren Computer und ihre VR-Ausrüstung gepackt und den Wohnwagen verlassen.

Die Einwanderungsbehörde ist sauer. Sie glauben, dass Mom Ray vor der Razzia gewarnt hat. Das habe ich auch erst gedacht, aber so wie Jolene »O ja, habe ich« sagt, kommt mir der Gedanke, dass jemand anders Ray einen Tipp gegeben haben könnte.

»Wie auch immer«, sage ich. »Ich arbeite allein, wenn ich überhaupt Arbeit habe. Anscheinend sind meine fünfzehn Minuten Ruhm vom People-Artikel vorbei.«

»Wie schade«, sagt Jolene, klingt dabei aber nicht besonders traurig. »Vor allem, weil du das ganze Geld verloren hast.«

Wie Mom vorausgesagt hat, hat die Regierung Darryls fünfhunderttausend Dollar konfisziert. Oder zumindest so viel davon, wie sie kriegen konnte: Die Zehntausend, die ich Anja in

»Keine Sorge, ich zahle«, sagt Jolene, und das tut sie dann auch. Während wir auf die Kellnerin mit dem Wechselgeld warten, sagt sie: »Hör mal, es geht mich nichts an, aber ich muss einfach nachfragen. Du und Darla. Als ihr was miteinander hattet, habt ihr da …«

»Cybersex gehabt? Ja. Ein paarmal.«

»Okay, alles klar. Findest du es dann komisch, dass sie … na ja, ich will sagen ›ein Kerl ist‹, aber ich will hier keine Unterstellungen machen.«

»Ich glaube nicht, dass Darryl trans im eigentlichen Sinne ist«, sage ich. »Und selbst wenn, würde er es wahrscheinlich lustig finden, dass du dir um Etikette Gedanken machst. Hast du dir die Aufnahme seines FBI-Verhörs angesehen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Bin noch nicht dazu gekommen.«

»Sie haben ihn nach seiner Geschlechtsidentität gefragt. Einer der Agenten wollte wissen, ob er sich fühlt ›wie eine Frau, die im Körper eines Mannes gefangen ist‹.«

»Was hat er gesagt?«

»Hat sich totgelacht. Dann hat gesagt, dass er sich einfach nichts aus der ganzen Geschlechtersache macht.«

»Hmm. Und du?«

»Ich schon ein bisschen. Ich will nicht so tun, als wäre es egal, dass Darlas Avatar gut aussah. Aber das war nie das Attraktivste. Was sie anziehend machte, war ihr Talent, und das war echt.«

»Es ist das Internet«, sage ich. »Niemand ist genau so, wie er zu sein scheint. Aber weißt du, was mich wirklich wahnsinnig macht? Wenn Darryl sie nicht gelöscht hat, hat die Polizei die Kugel, die ich für Darla gemacht habe.«

»Hast du Angst, dass sie eine Kopie an deine Mom schicken?«

»Das ist nicht witzig.«

Wir sind um zwei Uhr am Gefängnis, doch als wir das Tor, die Passkontrolle, Körperkontrolle und Scans hinter uns haben, ist es beinahe drei. Wir haben es fast geschafft, als Jolene und ich uns trennen. Sie geht in ein Security-Büro, von dem aus sie das Gespräch über eine Überwachungskamera verfolgt, während ich allein den Verhörraum betrete.

Er sieht aus wie das Combine-Verhörzentrum aus Half-Life 3: Gegossene Betonplatten bilden einen achteckigen Raum, in dessen Mitte eine Wand aus verstärktem Plexiglas eingezogen wurde. Darin sind kleine runde Sprechnetze aus Titan eingelassen. Auf jeder Seite der Trennwand gibt es einen breiten roten Sicherheitsstreifen, damit man der Scheibe nicht allzu nahe kommt. Piktogramme an der Wand erinnern daran, dass Gott demjenigen gnädig sei, der versucht, die Netze zu zerstören oder die Kameras an der Decke anzufassen.

Auf meiner Seite der Scheibe steht ein teurer, gut gepolsterter Bürostuhl, wie man ihn sich für einen Poker-Marathon wünschen würde. Auf der anderen Seite steht ein Stuhl aus Hartplastik, wie man sie in großen Mengen für unterfinanzierte Schulen kauft. Das mag unnötig grausam erscheinen, aber rein geschäftlich gesehen ist es auch logisch: Wie jede private Firma kennt die Strafvollzugsbehörde den Unterschied zwischen Kunden und Produkten.

Ich setze mich auf den bequemen Stuhl und muss noch

Darryl ist vierundzwanzig und lebt nicht in Oregon. Seine Eltern sind wirklich geschieden, aber die gesamte Familie lebt schon seit Ewigkeiten in Palo Alto. Darryls Dad arbeitet für Apple. Seine Mom ist stellvertretender Sheriff in Santa Clara County.

Darryl geht seit einigen Jahren seinem Vollzeitjob nach: im Internet so zu tun, als wäre er jemand anderes. Hauptsächlich Darla, deren Geschichten über den Besuch bei ihrem Dad in Arizona oder Familienfeiern mit ihrer Mutter nur dazu da waren, Zeit für ihre anderen Online-Beziehungen freizuschaufeln. Das FBI und Moms Leute haben eine Kontaktliste zusammengestellt, doch bis jetzt konnten sie lediglich vier Menschen identifizieren, mit denen Darla viel Zeit verbrachte.

Zum einen Darlas Hackerfreund Orville. Er wurde noch nicht zweifelsfrei identifiziert, aber sie glauben, dass es sich um Orville Slusarski handelt, einen neunundvierzigjährigen ehemaligen NSA-Angestellten, der die Organisation unter fragwürdigen Umständen verließ und unerlaubterweise einige Dinge mitgehen ließ. Orville, ein begeisterter »League of Avengers«-Spieler, dessen liebstes Alter Ego Lex Luthor ist, hat Darla anscheinend Nachhilfe in der hohen Kunst des Cyberwars gegeben. Auf meinem Zettel steht nicht, was für Orville dabei heraussprang, aber man kann wohl davon ausgehen, dass Darla doch mit ihm geschlafen hat. Nicht, dass mir das was ausmachen würde.

Die zweite Person auf der Liste ist Martin Duncan, ein Lehrer aus New Mexico, der »Star-Trek-Online« liebt, Darla Geld schickte und auf ein Treffen mit ihr hoffte. Eigentlich bezahlte er nur Darryls Miete. Dann gibt es da noch Jason Hoyt, ein Physiotherapeut und Call-of-Duty-Bestenlistenchampion aus Boston,

Person Nummer vier ist meine Wenigkeit. Die Profiler von Zero Day sind sich nicht einig, was meine Beziehung mit Darla für Darryl bedeutete. Vielleicht wollte er mich als Ersatz für Martin Duncan heranziehen. Das wäre skurril, weil ich oft genug Probleme damit hatte, meine eigene Miete zu zahlen. Meine Lieblingstheorie besagt, dass Darryl mich als einen altersangemessenen Orville betrachtete. Ich persönlich halte Darlas Leidenschaft für Game-Design für echt und glaube, dass Darryl wirklich eine Firma mit mir gründen wollte, egal, wie düster deren Zukunftsaussichten gewesen wären. Warum sonst hätte er sich auf diese Art und Weise an mir rächen sollen?

Mom meint, Darryl habe mich vielleicht sogar als einen Freund betrachtet. Sie betonte aber auch, dass eine Freundschaft mit einem Soziopathen oder ein Arbeitsverhältnis mit einem Diktator kein Grund ist, stolz oder geschmeichelt zu sein. Besser als ein Opfer zu sein ist es aber allemal.

Die Tür auf der anderen Seite des Raumes öffnet sich, und Darryl kommt herein. Er trägt orangefarbene Gefängniskleidung, und seine Hände und Füße liegen in Ketten. Sein Haar ist gewachsen, und er lässt sich einen dichten, zotteligen Bart wachsen, so dass er wie ein Eremit aussieht. Er bleibt direkt hinter der Türschwelle stehen und sieht sich um, schätzt die Maße des Raums ab, der wesentlich größer ist als seine Gefängniszelle. Bevor er sich setzt, geht er einmal die Wände auf seiner Seite des Achtecks ab. Trotz der Kette an seinen Knöcheln schlurft er nicht, sondern bewegt sich elegant. Daran, und an der Tatsache, dass er bis an den Rand der roten Zone tritt, ohne sie zu

Aber ich erkenne auch ihn. In der Arcade war zu viel los gewesen, als dass ich ihn mir richtig hätte anschauen können, doch jetzt, als er durch das Zimmer geht, habe ich die Gelegenheit dazu. Ich denke über Jolenes Frage im Diner nach und überlege, wie die Sache wohl gelaufen wäre, wenn Darla mir ihre Adresse gegeben hätte.

Ich bin heterosexuell und hatte offline noch nie was mit einem Mann, aber ich halte mich für cool genug, um das nicht auszuschließen. Ich habe kein Problem mit männlichen Körpern. Ich stehe auf athletische Frauen, was nur eine freundliche Umschreibung dafür ist, dass große Brüste nicht mein Ding sind. Vom Hals abwärts könnte Darryl als flachbrüstige Walküre durchgehen. Nur der Bart stört wirklich.

Und ja, ich weiß, wie absurd das klingt. Wir sprechen hier von jemandem, der mein Leben und meine Firma ruinieren wollte. Jemandem, der mich hereingelegt und getasert hat, und der gedroht hat, mich umzubringen. Jemandem, der auch Anja bedroht hat, der fast Jolene auf dem Gewissen gehabt hätte und eine Massenpanik in einem Gebäude ausgelöst hat, durch die noch viel mehr Menschen hätten verletzt oder getötet werden können. Anscheinend hat er das alles gemacht, um mir etwas heimzuzahlen. Aber eigentlich war ihm nur langweilig. Er hat es für die Lulz gemacht. Mom hat recht, Darryl ist ein Soziopath, und das turnt sogar noch mehr ab als ein bisschen Bartwuchs.

Aber vielleicht bin ich einfach oberflächlich?

Darryl ist den Raum abgegangen, setzt sich auf den Plastikstuhl und schaut mich zum ersten Mal, seit er hereingekommen ist, direkt an.

»Darla«, sage ich, um das Eis zu brechen.

Natürlich ist ihm langweilig. In Gefängnissen gibt es keine Videospiele, die Insassen dieses Komplexes kriegen nicht mal einen Fernseher. Sie dürfen Bücher ausleihen, aber immer nur fünf gleichzeitig. Wenn ihnen die aktuelle Auswahl langweilig wird und sie andere Bücher lesen wollen, können sie sie nicht einfach zurückgeben, sondern müssen eine schriftliche Anfrage an den Direktor stellen. Die Antwortzeit wird in Monaten gemessen.

»Meine Mutter kann dich hier rausholen«, sage ich. »Du musst kooperieren, dann wirst du in ein Gefängnis verlegt, wo du mehr Privilegien hast. Wenn deine Informationen wertvoll genug sind, wirst du irgendwann unter Hausarrest gestellt.«

»Was wollen sie dafür wissen?«, fragt er. »Was über die Bank in Burma?«

»Das wäre ein Anfang, ja. Sie wollen wissen, wie du dich reingehackt hast und was du dort alles herausgefunden hast.«

»Das kann ich euch sagen. Kein Problem.«

»Was ist mit deinem Hacker-Freund Orville? Ist sein Nachname Slusarski?«

»Er hat mir seinen Nachnamen nie verraten. Aber es kann nicht so viele Orvilles geben, die an einer burmesischen Firewall vorbeikommen«.

»Die NSA will ihn sprechen«, sage ich. »Sie wollen wissen, wo er ist.«

Er schüttelt den Kopf. »Das kann ich euch nicht sagen.«

»Weil du es nicht weißt, oder weil …«

»Ich verrate Orville nicht. Er hat mich immer fair behandelt, und ich bin kein Verräter.«

»Komm schon, Darryl. Willst du wirklich hier drinbleiben?«

Ich habe keine anderen Fragen. Orville Slusarski zu finden hat die höchste Priorität, und Mom hat deutlich gemacht, dass dieser Punkt nicht verhandelbar ist. Das wäre die einzig wertvolle Information, die Darryl ihnen geben könnte. Aber ich habe selber einige Fragen, auf die ich Antworten möchte.

»Das Mädchen in den Videos«, sage ich. »Wer ist sie?«

Er grinst, als ob er diese Frage erwartet hätte. »Du weißt, dass die Videos gefälscht sind, oder?«

Ich nicke. Moms Techniker haben es herausgefunden: Das Gesicht wurde in das Video eingefügt. Dieselbe Technik wird auch dazu genutzt, Avataren einen neuen Skin zu verpassen; die Bearbeitungssoftware ist frei verfügbar und wird oft dafür verwendet, Memes zu erstellen. Ein Video zu bearbeiten ist recht einfach, aber um das Bild an den Hintergrund anzupassen braucht man viel Talent, Zeit und Rechenpower. Viel zu viel Aufwand für einen normalen Prankster. Aber Darryl ist nicht normal. »Das in dem Paintball-Video war mal wirklich ich«, sagt er. »Und das im Ballon auch. Die meisten anderen Clips habe ich im Internet gefunden und dachte, dass Darla die Aktionen gefallen würden.«

»Aber das Mädchen«, wiederhole ich. »Wer ist sie?«

»Warum willst du das wissen? Damit du sie auf Facebook stalken kannst? Du stehst auf mich«, sagt er, und in seinem Lächeln und seiner Haltung, als er sich nach vorne lehnt, erkenne ich Darla. Ich kann sie spüren. Nur der Bart ist immer noch nicht mein Ding. Das merkt er und ist offensichtlich enttäuscht. »Sie ist niemand«, sagt er und lehnt sich wieder zurück. »Ich meine das ganz wörtlich. Ich habe sie erfunden. Mit einer Morphing-Software habe ich verschiedene Bilder zusammengefügt. Ich habe tagelang an ihr herumgebastelt, bis sie genau so aussah,

»Warum? Wozu?«

»Du weißt, warum«, sagt er. »Erzähl mir nicht, dass du noch nie online so getan hast, als wärest du jemand anderes. Es macht Spaß, Darla zu spielen. Zu sehen, wie die Leute auf sie hereinfallen und wie sie reagieren. Es gibt Typen wie dich, die sich Hals über Kopf in sie verlieben. Das macht Spaß« – er zwinkert mir zu –, »und dann gibt es die Arschlöcher, die sie ausnutzen wollen. Und das macht noch mehr Spaß. Denen zu zeigen, dass sie ganz kleine Lichter sind, obwohl sie sich so toll vorkommen. Darla ist wie geschaffen dafür.«

»Sie ist die größere Bitch«, sage ich.

»Ist sie immer.« Diesmal ist sein Lächeln echt.

»An dem Tag, als wir uns im Echsensumpf getroffen haben?« frage ich als Nächstes. »War das ein Zufall, oder hast du …«

»Auf dich gewartet?« Er lacht. »Glaubst du, ich hätte einen deiner Werbeposts gesehen und mir gedacht: ›Wow, dieser Sherpa klingt genau wie alle anderen Sherpas, der muss ja super interessant sein, ich sollte ihn mal stalken?«

»Okay, vergiss es.«

»Sei nicht beleidigt.« Er lacht wieder. »Wer weiß, vielleicht war es Schicksal. Ich bin in den Sumpf gekommen, weil mir langweilig war und ich auf ein wenig Action aus war, und dann warst du da … Ich habe gemerkt, wie sehr es dir gefiel, dass Darla dir in den Arsch trat. Und als du mir die Stelle angeboten hast, dachte ich: Klar, schauen wir mal, was geht. Aber dann«, er zögert, bevor er in ernstem Ton weiterspricht, »dann hast du mir die Sache mit den Augen gezeigt, die Mod, die du verwendest, und deinen

»Was? Seelenverwandte sind?« Ich glaube ihm kein Wort.

»Ich weiß, dass du mir nicht glaubst«, sagt er. »Aber es stimmt. Ich habe eine Verbindung gespürt, und ich weiß, dass es dir auch so ging.« Seine Miene verfinstert sich: »Natürlich hätte ich dich sofort abgeschossen, wenn ich gewusst hätte, dass man dir nicht trauen kann.«

»Wäre wohl klüger gewesen«, sage ich. »Aber wenn du das getan hättest, hättest du nie Mr. Jones spielen können.«

»Stimmt«, sagt er fröhlich.

»Was war denn der Plan dahinter?«, frage ich. »Wolltest du, dass ich ihn für Kim Jong-un halte?«

»So genau habe ich mir das nicht überlegt. Ich bin davon ausgegangen, dass du herausfinden würdest, wo das Geld herkam. Wenn nicht, hätte Ms. Pang dir einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben. Es schien also sinnvoll, dass Jones ein mächtiger Asiate ist, an dem die chinesischen Sicherheitsbehörden Interesse haben. Ein Diktator mit kreativer Ader war die offensichtliche Wahl, aber ich habe mir andere Optionen offengehalten. Er hätte ein chinesischer Regierungsbeamter oder ein Superspion im Untergrund sein können. Vielleicht auch ein Drogenboss oder sogar ein Pirat.«

»Warum sollte ein Pirat mehr über MMORPGS erfahren wollen?«

»Keine Ahnung. Aber das ist der Witz dabei. Ich musste weder das Warum kennen, noch musste ich wissen, wer genau Mr. Jones war. Die Arbeit hast du für mich erledigt. Ich war mir sicher, dass du dir Gedanken darüber machen würdest, sobald das Geld deine Phantasie angekurbelt hat. Ich musste nur den Grundstein legen und Mr. Profiler seine Arbeit machen lassen.«

»Ja, ich bin dir voll auf den Leim gegangen. Well played, schätze ich.«

»Komm schon. Ich habe dir einen Streich gespielt. Ich war ja auch wütend. Tu nicht so, als hättest du nicht auch Spaß gehabt.«

»Spaß«?, sage ich.

»Okay, vielleicht nicht immer … aber das Rätsel? Der Gedanke, dass der Oberste Führer von Nordkorea dich als seinen persönlichen Sherpa ausgewählt hat? Das hat dich doch nicht kaltgelassen.«

Ich würde ihm gerne sagen, dass er unrecht hat, aber ich erinnere mich gut daran, dass es mir gefallen hat, Mr. Jones mit dem Juche-Kalender eine Falle zu stellen und mit Mom meine Theorien zu diskutieren. »Es war nicht immer ätzend.«

»Ätzend«, schnaubt er. »Es war verdammt nochmal das beste Spiel, das du je gespielt hast. Und das beste, das ich jemals gespielt habe.«

»Nun, ich freue mich, dass wir beide unseren Spaß hatten, Darryl.« Während ich spreche, denke ich darüber nach, dass es für ihn wohl vorerst das letzte Spiel sein wird.

Er kann meine Gedanken an meinem Gesichtsausdruck ablesen. Ich schaue zu, wie er schweigend darüber nachdenkt.

»Also«, sagt er. »Wegen Orville …«

»Ja?«

»Was, wenn ich dir nicht sage, wo genau er ist, sondern dir einen richtig guten Hinweis gebe? Gut genug, damit die NSA es selber herausfinden kann?«

»Warum sagst du mir nicht einfach, wo er ist?«

»Ich hab’s dir doch gesagt, ich bin kein Verräter. Aber Orville gibt gerne damit an, dass er viel mehr Grips als seine früheren

»Darryl.«

»Ihr habt auf jeden Fall den Vorteil, keine Sorge. Aber ich muss ihm eine Chance lassen. Eine kleine.«

»Eine Chance von fünf Prozent?«

»Mehr würde ich jedenfalls nicht brauchen … Also, was sagst du dazu?«

»Das habe ich nicht zu entscheiden«, sage ich. »Aber ich schätze, ich kann mit Mom darüber reden.«

»Eine Sache noch«, sagt er. »Selbst, wenn ich unter Hausarrest gestellt werde, gibt es harte Auflagen, oder? Keine Computer und so?«

»Keine Ahnung. Aber vermutlich schon.«

Er nickt. »Damit käme ich nicht klar. Nicht ins Netz zu können ist schlimmer, als eingesperrt zu sein. Es würde mir nichts ausmachen, hierzubleiben, wenn ich meine Ausrüstung hätte.«

»Das verstehe ich«, sage ich. »Aber sie haben dich als Cyberterroristen eingestuft.«

»Und das ist verdammt cool!«, sagt er. Als ob es eine Auszeichnung wäre. »Ich kann verstehen, dass sie mich nicht einfach draußen rumlaufen lassen. Aber vielleicht gibt es da noch eine Möglichkeit, von der alle profitieren können.«

Er hält inne und wartet ab, ob ich selber draufkomme. Natürlich tue ich das. Wir haben dieselben Filme gesehen.

»Du willst einen Job?«, frage ich. »Bei Zero Day?«

»Das klingt wie ein blöder Hollywood-Plottwist, ich weiß«, sagt er. »Der böse Hacker wird geschnappt und läuft zur guten Seite über. Denk erst mal drüber nach, bevor du es abbügelst. Das ganze Spiel, das ich mit dir gespielt habe, habe ich allein auf

»Keine Ahnung. Weiß nicht mehr. Und ja, von mir aus, du hast mich drangekriegt. Aber …«

»Und du bist nicht blöd«, sagt Darryl. »Ein bisschen leichtgläubig schon, aber trotz des Geldes musste ich echt Arbeit reinstecken, damit du mir glaubst. Wenn ich so was ganz allein hinbekommen habe, dann stell dir mal vor, was ich mit ein wenig Unterstützung alles tun könnte. Willst du den echten Kim Jong-un drankriegen? Sag deiner Mom, sie soll mir ein paar Ressourcen geben, und dann zeige ich ihr, was ich alles draufhabe.«

Er ist irre. Die Aussicht, im Gefängnis zu bleiben, hat ihm den Verstand geraubt. Oder vielleicht war er schon immer verrückt. Ich gebe mein Bestes, keine Miene zu verziehen, weil ich weiß, dass ihn das nur sauer und unkooperativ macht. Aber noch während ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle halte, kommt mir aus heiterem Himmel ein anderer Gedanke, und ich lache unwillkürlich los.

Er denkt, ich würde ihn auslachen. Das gefällt ihm nicht. Plötzlich sehe ich wieder eine rasende Darla. »Was?«, will er wissen. »Was ist so lustig?«

»Nichts gegen dich«, sage ich. »Es ist nur …«

»Was? Was

»Mir ist gerade aufgefallen … du wirst dich nie entschuldigen, oder? Für die ganze Sache. Du wirst nie sagen, dass es dir leidtut.«

»Solltest du nicht«, sage ich. Und so verrückt es klingt, in diesem Augenblick habe ich ihn aufrichtig gern.

O Darla, denke ich.

»Okay«, sage ich. »Ich rede wegen des Jobs mit Mom. Ich kann nichts versprechen, aber ich rede mit ihr.«

 

»Die Babydrachen kacken Krazy Glue?«, fragt Mom. »Habe ich das richtig verstanden?«

»Die magische Version von Krazy Glue«, stelle ich richtig. »Wenn wir zu viele Eier zerbrechen, können wir uns nicht bewegen, und dann bringt uns die Drachenmama um.«

»Warum zerstört sie die Eier dann nicht einfach selber?«

»Weil sie eine willenlose Drohne ist, kein dreidimensionales Schach-Ass wie du, Mom.«

»Ooh, ich fühle mich geschmeichelt!« Mom lacht und wirft Jolene über die Schulter einen Blick zu. »Hast du das mitbekommen?«

Heute sollte eigentlich mein monatlicher Game-Abend mit Dad sein, aber Sony hat die Deadline für die neue Version seines Drehbuchs vorgezogen, also muss er arbeiten. Aus einer Laune heraus habe ich Mom gefragt, ob sie Call to Wizardry mal ausprobieren möchte, und zu meiner Überraschung hat sie ja gesagt. Nachdem ich ihr die Charakterklassen erklärt habe, hat sie sich für einen Tank entschieden, also habe ich ihr meinen besten Paladin gegeben und sie mit in den Transmog-Salon genommen. Mit ihrem riesigen Brustpanzer sieht Mom aus, als hätte sie eine Powerrüstung an. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie gleich einfach losfliegt wie Iron Man.

Ich habe überlegt, Anja einzuladen, aber dafür ist es noch zu

»Also, die Eier müssen heil bleiben«, sagt Mom. »Nicht in der Säure stehen und den Tornados ausweichen. Sonst noch was?«

»Nö. Halt einfach die Aggro, wie du es geübt hast. Wir schaffen das locker.«

»Cool«, sagt sie. Dann grinst sie verwegen, wirft ihren Schild in die Luft, fängt ihn auf und dreht ihn auf einem Finger. Das ist beeindruckend und nicht im Standardrepertoire des Avatars. Mom kann diese Bewegung nur machen, weil sie das kinetische Photoshopping ausgestellt hat. Also weiß sie davon, obwohl ich ihr davon nicht erzählt habe. Und wenn sie im Vorfeld so viel Recherche betrieben hat, kann man darauf wetten, dass sie auch den Bosskampf in diesem Dungeon nachgeschaut hat.

Sie tut mir schon wieder einen Gefallen. Doch was soll ich sagen, damit macht sie mich glücklich. Und ich tue, was ich kann, um sie glücklich zu machen, damit es ausgeglichen bleibt. Und das ist alles, was ich über Liebe weiß.

Mom wirft ihren Schild erneut in die Luft, fängt ihn und hält ihn fest. Dann macht sie ein paar Probeschwünge mit dem Schwert.

»Okay«, sagt sie. »Los geht’s.«