Es sind Herbstferien, und Matte ist krank. Pom muss sein «Petra und der Wolf» allein spielen, das geht auch irgendwie, ist aber nicht so gut. Ich darf mit, weil Lena den ganzen Tag an einer Serie kleiner, sehr verrückter Lämpchen arbeiten will. Eine Auftragsarbeit für eine neue Szenegalerie in Dortmund. Pom ist nervös, aber der Rubel muss rollen, sagt er.
Wir müssen ins Münsterland fahren. Das Jugendheim, in dem Pom für die Kinder, die er immer Blagen nennt, spielen soll, ist oberscheußlich. Eines von der besonders öden Komm-herein-und-du-kriegst-einen-Depri-Sorte. All die ekligen, zusammengesammelten, siffigen Sperrmüllmöbel und dazu die grellen Farben auf den herzerfrischend nackten Betonwänden. Soll man cool finden. Es ist nicht cool, es ist zum Schütteln. Und das Ganze unter dem herzerwärmenden Neonlicht. Grrrrr!!
Lena nennt es «lieblos» und sagt, da kann man doch nur seinen Abfall drüberkippen und Zerstörungsanfälle kriegen. Was erwarten die denn? Warum checkt das bloß niemand? Hässlichkeit zieht Hässlichkeit an, haben die denn auf den Ämtern alle keinen Verstand? Pom hasst diese Jugendheime auch. Nur Turnhallen hasst er noch mehr. «Da ist so viel Atmosphäre drin wie in einer verrotteten, leeren Konservendose», sagt er, «und die hat dagegen noch so etwas wie Charme!»
Wir tragen die ganzen Bühnensachen aus dem Auto in den Saal, ich die leichten, Pom die schweren. Ich werde die Requisiten an Ort und Stelle legen, die Scheinwerfer bedienen und die Mikroportanlage aufbauen, das kann ich schon lange. Pom baut die Bühne auf, das dauert.
Immer, wenn ich an ihm vorbei muss, ist da so ein komischer Geruch um ihn herum. An den Fenstern hängen die brettharten Vorhänge halb herunter wie fast ausgerissene Flügel, und sie haben die Farbe von Hühnerkacke. Wieder habe ich diesen Geruch in der Nase, und ich schleiche näher an Pom und schnuppere.
«Was is’?», fragt Pom.
«Du riechst.»
«Ach ne. Zwerg Nase lässt grüßen!»
«Du hast was getrunken!»
«Ach ne. Hab ich nicht!»
«Gelogen und betrogen.» Ich mache mein grimmigstes Gesicht.
«Ich lüge nicht», sagt Pom, und sein Gesicht wird starr. Es ist, als ob dann alles Licht herausfällt und alles Lebendige.
Das macht mir eigentlich immer Angst, aber jetzt bin ich nur wütend. Sehr! Pom hat was getrunken, und das noch vor der Arbeit. Na, dann mal Prost! Und er lügt, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ich fauche: «Du lügst. Deine Aura wird grün!»
Ich hab das mal von Tante Greta gehört. Sie kennt einen Hellsichtigen, der hat gesagt, dass sich beim Lügen die Aura verfärbt. Das kann der nämlich sehen. Aber ich weiß nicht mehr, ob es grün war.
Poms Augen blinzeln. Zwei Sekunden und drei Stunden schauen wir uns an, eiskalt wie eingefrorene Heringe im Packeis. Dann grinst Pom sein berühmtes Pom-Lächeln, das aber total keins ist, denn es bleibt an seinem Mund kleben und schafft es nicht bis zu den Augen.
Er sagt: «Du spinnst doch!» Aber dann sagt er noch: «Okay, okay, komm mal her!»
Ich muss mich sehr anstrengen, dass ich das überhaupt höre, denn Pom flüstert plötzlich, und als ich näher zu ihm hingehe, fasst er meine Schultern und schaut mich lange an, und seine Augen tauen dabei auf und meine auch.
Er sagt: «Okay, okay, du hast recht. War total nötig und total überflüssig!» (Einer seiner berühmten Pom-Sätze.) «Bleibt unter uns, ja?»
Und als ich nicke und denke: Wer ist hier eigentlich erwachsen und wer das erwischte Blag?, da klettert ein klitzekleines, rehkitzscheues Lächeln in seine Augen, und er drückt mich an seinen kugelrunden Bauch.
Oh, Pom, dein Bauch ist so schön weich!
«Ich hab dich lieb, Tochter meines Lebens», sagt er.
«Jetzt ist deine Aura rosa», sage ich.
Und fast kann ich so was wie einen Schimmer sehen. Fast. Einen Schimmer von einem Hauch Rosa. Oder so. Aber rumspinnen konnte ich schon immer gut.
Und «Petra und der Wolf» war gar nicht so übel. Pom war zwar schon mal besser, aber ohne Matte ist das auch schwer. Hinterher, im Auto, auf der Rückfahrt, als Pom seinen geliebten Leonard Cohen vor sich hinsummt, das mit dieser Suzanne, das so klingt wie der beruhigende Gesang von Mönchen in einem sibirischen Kloster, immer nur so zwischen drei Tönen auf und ab, aber irgendwie auch schön, da sage ich: «Du warst richtig gut heute!»
Und Pom sagt: «Pass nur auf, deine Aura wird gerade grün!»
Wir fahren und fahren, und draußen verschiebt sich die Landschaft, als ob man sie auf viele durchscheinende Tücher gemalt hat, die hintereinander hängen und am Fenster vorbeigezogen werden, jedes Tuch in einem anderen Tempo, das vorderste ganz schnell und das hinterste ganz langsam. Alles verschiebt sich ineinander und gegeneinander. Das ist wunderschön und immer wieder aufregend, wenn ich es entdecke und mich darauf konzentriere.
Irgendwann merke ich dieses leichte Ziehen in meinem Kopf, wenn die Geräusche sich dehnen und länger werden, bevor sie zerfransen und sich auflösen. Dann gibt es dieses Schweben in mir drin, ich muss nur die Augen schließen, und seltsame Inseln treiben hinter meinen Lidern. Ich schwimme in meinem Kopf herum, weiß aber die ganze Zeit ganz klar, dass ich nicht schlafe. Das Außen ist immer direkt vor meiner Nase, aber ein starker Sog zieht mich tief in mich hinein, einfach weiter und weiter und – RUMMS!!
Der Bus schüttelt sich heftig, und ich bin mit einem harten Satz wieder zurück, reiße die Augen auf und strande in einem hellen, plötzlichen Licht.
Pom fährt auf einen Parkplatz mit WC und Telefon. «Klo?», sagt er. Und: «Ich geh mal telefonieren. Hab so ein komisches Gefühl.»
Als er aussteigt und zur Telefonzelle stapft, hüpft mein Herz wie ein kleines, aufgeregtes Hündchen um ihn herum, aber dann springt es heftig zurück und tut weh. Etwas Bedrohliches spüre ich plötzlich, und Pom muss es schon vor mir gemerkt haben.
Ich steige aus. Pom steht in der Telefonzelle, und ich sehe seinen breiten Rücken in seiner geliebten, abgeschabten Lederjacke, und er tritt von einem Fuß auf den anderen. Sein runder Kopf nickt beim Reden auf und ab.
Pom spricht mit dieser besonderen, weichen Pom-Stimme, die ist ganz sanft, wie ein Sahnehäubchen auf einem Kakao, und sie streichelt und schmilzt sich ins Herz. Wenn er so mit Lena spricht oder mit mir oder mit Lady, dann schnurren wir um die Wette.
«Squaw, hör zu», sagt Pom, «wir sind gleich da. Nein, nicht reden. Schschsch. Soll ich Zitronen mitbringen? Nein, sag nichts, du Schönheit meines Herzens. Pass auf, du machst dich jetzt ganz klein und legst dich in meine Hand, ja, gut so, siehst du, wie warm und weich sie ist? Lass dich wiegen. Ja, ich wiege dich jetzt. Schschsch. Weißt du, was ich mache, Sternenfrau, ich bürste dir das Haar, wenn wir zurück sind, still, schschsch. Sei ruhig, ich singe dir ein langes, langes Lied zum Gesundwerden, jajaja, ruh dich aus, hast du die Decke richtig hochgezogen, ja gut, siehst du, meine Hand streichelt dich, wie gut, dass du genau hineinpasst, ja sie hält dich, nein, nicht reden, schsch, wir kommen jetzt, Herzensbraut. Ich mach jetzt Schluss, wir sind bald da. Liebe und Kuss. Kusskuss.»
Pom legt auf, und als er sich umdreht, ist sein schönes, rundes Gesicht nicht mehr glatt, und ich frage mich, wie unsere Haut es zustande bringt, schneller eine Geschichte zu erzählen als unser Mund. Tiefe Furchen sind plötzlich neben Poms Nase, auf seiner Stirn und besonders zwischen seinen Augenbrauen.
Pom nimmt mich in die Arme und flüstert: «Sie ist krank, sie hat mal wieder diese blöde Halsgeschichte ... Komm, wir müssen los!»
Mir wird ganz kalt. Lenas Halsgeschichten können manchmal ganz schlimm werden. Dann hat sie tagelang hohes Fieber, und der Arzt muss kommen.
Ich bekomme Angst. Ich will was sagen, aber Spinnweben kleben in meinem Mund.
Meine Fingerspitzen wollen so gerne diese Unruhe aus Poms Gesicht streichen. Woher weiß er immer so genau, wenn mit Lena was nicht stimmt, wo er doch oft so cool tut, so verdammt cool, dass Lenas Herz manchmal friert und auch meines eine Gänsehaut davon bekommt? Tante Greta hat mir mal erklärt, dass wir alle wie ein Kaleidoskop sind, mit vielen bunten Steinchen, hellen und dunklen, und beim leisesten Schütteln bilden sie ein neues Muster. Aber es sind immer dieselben Steinchen. Jetzt gerade ist es bei Pom ein helles, leuchtendes Muster, und ich habe ihn leuchtend lieb.
Als wir einsteigen, flucht Pom so laut und so schrecklich, dass ich mich sofort verkrampfe, aber dann merke ich, dass es genau dieselben hellen Steinchen in ihm sind, nur dass sie gerade heftig durchgeschüttelt wurden. Ich kann mir das mit dem Kaleidoskop richtig gut vorstellen. Ich liebe diese Dinger.
Die Autobahn hat sich geleert, wir kommen gut durch. Pom wird ruhiger, und ich singe unablässig, leise, ganz leise meinen Zaubersingsang: Li-Lu-La, halte aus, wir sind gleich da. Tante Greta würde sagen, das ist so etwas wie ein Mantra. In Indien ist ein Mantra ein heiliges Wort oder hat lauter heilige Worte oder Silben und eine starke Kraft. Man kann sein höchst eigenes Mantra finden. Das ist jetzt meines, und ich schicke es zu Lena. Ich traue mich sogar, es lauter zu singen, und Pom schaut kurz herüber und legt seine Hand auf mein Haar.
«Alles wird gut», sagt er. Und das ist ein ganz besonders starkes Mantra, denn ich werde sofort ruhiger. Es wird auch bei Lena wirken. Ich muss nicht wissen, wie das geht. Ich würde es sowieso nicht begreifen.
Als wir ankommen, stürmt Pom sofort ins Haus, schleicht dann aber auf Zehenspitzen in Lenas Zimmer. Dort brennt das kleine, gelbe Licht auf der Fensterbank, das Lena selbst entworfen und schon viele Male verkauft hat und das ich das Goldlicht nenne, weil es alles ganz weich macht.
Sie liegt wie Schneewittchen in ihrem Bett, das lange Haar auf ihrem Kopfkissen ist ein schwarzer Fächer. Um den Hals hat sie das lavendelblaue Seidentuch gewickelt, das ihr Pom in Südfrankreich geschenkt hat. Auf dem Tischchen neben ihrem Bett stehen die kleinen braunen Fläschchen mit den weißen Kügelchen von ihrer Freundin Britta und eine leere Teetasse.
Sie schläft, und Pom steht regungslos und starrt und starrt, und auch ich sehe, was er wohl gerade mit dem Herzen sieht: Wir sehen, wie schön sie ist.
Pom sagt leise: «Manchmal bilde ich mir ein, dass sie leuchtet, verrückt, was?»
Ich drücke seine Hand und mache ein Zeichen mit dem Kopf. Wir schleichen hinaus und atmen beide gleichzeitig tief aus. Wir sind mit dem Schrecken davongekommen. Es scheint nicht so schlimm zu sein. Pom streicht mir sanft übers Haar.. Und ich wünsche mir, dass er noch eine Weile so bleibt, so wie jetzt, ich meine, in genau diesem Muster, so wie seine Steinchen jetzt liegen.
«Ich rufe Britta an», sagt Pom im Flur und geht zum Telefon. Und: «Haben wir noch Zitronen?»
Dann, bei meiner Spurensuche im Rückblick, finde ich die Notiz in meinem alten Heft von unserer Kakaozeremonie nach einem Streit. Meine Schrift ist klein und krumm und irgendwie zittrig. Ich hasste es nämlich, wenn sie stritten.
Streit habe ich schon immer gehasst. Und sofort ist alles wieder da: der ganze Kladderadatsch von damals, der Schlamassel und das Glück, immer dicht nebeneinander. Bei uns war das so.