Ich bin nach Hause gefahren und habe Kristin nichts von der Fotografengeschichte erzählt, ich weiß auch nicht, warum. Dabei ist sie meine beste Freundin. Und die einzige noch dazu. Und man sollte doch meinen, dass die sich alles erzählen, ich meine wirklich alles. Aber nur der Gedanke daran, das wirklich zu tun, ich meine alles zu erzählen, der macht mich richtig unruhig. Irgendetwas in mir will das nicht. Irgendetwas in mir denkt schmerzhaft und klar: Was bleibt dann noch von mir übrig?
Erzählen Pom und Lena sich alles? Ich könnte Lena fragen, aber gleichzeitig weiß ich, dass sie das nicht tun. Denn sie wollen gar nicht alles voneinander wissen. Das habe ich oft gespürt. Zumindest bei Lena. Pom ist mir da ein Rätsel. Der kriegt so vieles nicht mit. Und so unendlich viel eben doch. Ich brauche die beiden nicht zu fragen, ich weiß es. Sie würden es beide nicht schätzen.
Vielleicht weiß Tante Greta Bescheid oder Ötte.
Ach du lieber Schreck: Ötte! Ich muss ja noch Lena fragen, was ich am besten anziehen soll, damit es ein erstklassiges Foto würde. Und ich würde Lena von Masseltow und mir erzählen. Ich hätte es schon längst tun sollen, Lena liebt solche Geschichten über alles. Schreib es auf, sagt sie dann immer. Aber das dauernde Reden und Beschreiben von Poesie in der Schule macht einen völlig platt. Ne, Schreiben ist momentan nicht mein Ding. Vielleicht nur so eine Notiz: Masseltow. Gewitter. Dreierbande. Dann würde ich mich später erinnern.
Ich decke den Abendbrottisch und stöbere nach Schätzen im Kühlschrank. Pom ist für die Schätze zuständig, er findet immer die allerfeinsten und tollkühnsten Köstlichkeiten auf seinen Touren mit dem Theater. Und Lena zaubert daraus irgendetwas zusammen, das ist «unaussprechlich», wie Pom es nennt. Und er leckt sich bei diesem Wort immer die Lippen, und ich verdrehe die Augen und schmatze. Lena sieht uns dann nachsichtig an, wie zwei ungezogene Kinder, denen man einen liebevollen Klaps gibt.
Pom ruft an, heute würde es später werden, wir sollten nicht auf ihn warten. Ich habe das klare Gefühl, dass er froh ist, mich und nicht Lena am Telefon zu haben. Manchmal weiß ich solche Sachen. Ich weiß aber nicht, warum Pom froh ist. Da sagt mein Gespür nur so was wie: Grumm knrrr knrrr!
Überhaupt ist Pom kurz angebunden. Ich will ihn fragen, wo er gerade steckt, als er schon sein «Liebe und Kuss» sagt, und weg ist er. Aber: So habe ich Lena heute Abend für mich ganz allein. Und zur Strafe werde ich nur ihr von Masseltow erzählen. Pom, der Rumstreuner, wird es verpassen. Das ist mehr als gerecht.
Als Lena endlich kommt, sieht sie aus wie ein zerrupftes, farbenfrohes Osterhühnchen. So ganz bekleckert von oben bis unten. Überall ihre speziellen Lena-Farben: Gelb, Türkis, Pink, Rot, Himmelblau und dieses besondere kleine Grün wie im heftigen Licht eines Maimorgens. Um die Haare hat sie ein Tuch gebunden. Auf ihrer Jeans und dem alten Oberhemd von Pom ist eine richtige Kleckslandschaft, und alles in allem sieht sie genial krass aus. Ja, diese Worte hat der Fotograf heute benutzt, als er Öttes bunte Bude sah, von meiner genial krassen Mutter selbst angestrichen.
Lena ist aufgekratzt, es muss alles gut gelaufen sein in ihrer Werkstatt. Dann leuchtet sie immer ganz bunt, diese Aura, die es ja geben soll und die ich manchmal sehe. Na ja, ich kann gut rumspinnen. Ich hab Talent dazu.
In mir zieht sich etwas kurz und stachelig zusammen, als ich mich erinnere, dass ich ihr noch das von Pom erzählen muss. Alle ihre Farben würden von ihr abfallen wie die Blütenblätter einer welkenden Tulpe. Also sage ich erst mal gar nichts. Meine wunderbar bunte Mutter läuft laut singend ins Bad, und ich höre die Dusche. Leise schleiche ich mich zur angelehnten Tür. Lena ist ja nicht gerade die begnadete Rednerin, ich meine, sie ist kein Mensch vieler Worte, eher so die stille Fassung davon. Die-mit-sich-selbstschweigt, sagt Pom manchmal etwas angenervt. Ich scheine davon eine volle Ladung geerbt zu haben. Aber sie ist voller Töne. Immerzu summt sie oder singt etwas oder hört Musik in sich drin, da tobt wohl ein ganzer Bienenstock oder ein Nest mit tausend Singdrosseln. Und: Sie hat die seltsamste Stimme, die ich je gehört habe. Eine sehr klare, unverschnörkelte, tiefe, sehr dunkle Stimme. Etwas liegt immer über ihrem Gesang, das ist wie Rauch oder Nebel oder Herbstfeuerqualm, jedenfalls bettet dies Lenas Stimme ein mit einer nach Dämmerung duftenden, aber etwas kratzigen Decke. Und genau das macht es aus, dass alle davon eine Gänsehaut kriegen, die Katzen schnurren und die Hunde sich zusammenrollen. Und Pom ist immer ganz fassungslos.
«Squaw», sagt er manchmal, «wo hast du das gelernt? Das ist ja zum Steinerweichen!» Manchmal ist das stolz und verwundert gemeint und manchmal eher abgetörnt. Dann ist ihm das alles zu viel an Lena, besonders das, was sie gut kann.
Lena steht hinter der Duschtür, und ich sehe ihren kugelrunden Po. Sie hat einen schlanken Körper, aber alles an ihr ist einfach rund. Ihre Brüste sind kleine, sonnenreife, pralle Tomaten. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als genau solche mal zu bekommen, falls der Himmel je meine Gebete erhört. Aber es kümmert sich da oben wahrscheinlich kein Schwein drum, auch nicht das allerheiligste Ferkelchen mit seiner himmlischen Unschuld. Ich meine, um so was wie Busen, so was tierisch Menschliches. Bisher tut sich da nämlich gar nix, alle in meiner Klasse haben schon tonnenweise BHs, mit allen Schikanen, aber was soll ich da reintun?
«Tochter, du kommst da oben rum doch wohl nicht nach mir?», hat Pom mal grinsend gesagt, aber da hat Lena ihm einen solch eisigen Blick rübergeschickt, dass seine Lotterzunge an all den Eiszapfen festklebte und er verstummte. Leider kann man bestimmte Sätze niemals vergessen. Und dieser spezielle Pom-Satz hat tausend hartnäckige Widerhaken, die mich bei jedem Blick in den Spiegel aufs Neue pieksen und stechen.
Lena ist nicht besonders groß, aber ein paar Zentimeter größer als Pom, ein drittel Zentimeter, sagt Pom immer, haha, und sie hat lange, schwarze Haare, und ihre Augen leuchten schwach grün. Meistens. Nicht immer. Sie haben alle Farben des Wassers, auch von ganz tiefem, schlammigem und aufgewühltem. Und sie ist verrückt. Sie trägt die sonderbarsten Sachen, die man sich nur denken kann, meistens die verwegenste Zigeuner-Squaw-Dschinn-und-noch-was-Mischung. Meistens gefällt es mir.
Jetzt duscht sie und singt dabei leise, und aus allen Kacheln sprießen Blumen. Ich setze mich auf den Boden und flüstere: «Bitte, bitte, hör bloß nicht auf! Bitte, bitte nicht. Niemals.»
Als Lena aus der Dusche klettert und mich sieht, macht sie einen Kussmund in meine Richtung und singt weiter. Sie erfindet Wörter und Töne, die ich noch nie gehört habe. Ich will sie danach fragen, mach den Mund aber schnell wieder zu. Sie soll nicht reden, nur singen. Sie lässt mich dort sitzen, und ich darf ihr zuschauen beim Abtrocknen, Haare-Auskämmen, Eincremen, Parfüm-Auftragen und – zack! – bin ich aus dieser magischen Benommenheit raus: Parfüm! Das heißt, sie wartet auf Pom. Und Pom kommt nicht! Aber ich will das jetzt nicht. Nicht jetzt in diesem besonderen Lena-Zauber-Augenblick. Nein! Nein! Nein!
Pom, du Superoberekelkotzbrocken, ich stülpe dir in Gedanken den randvollen Küchenabfalleimer über den Kopf, dass sein ganzer stinkiger, schleimiger Modergammel dich zur Besinnung bringt! Was immer dich gerade davon abhält, nach Hause zu kommen, es taugt nichts im Vergleich zu Lenas ganz besonderem Lena-Sein und ihrer ahnungslosen Vorfreude in diesem Moment. Mein lieber Vater, ich kann dir nur raten, dass es was mit dem Auto zu tun hat oder dass es einen äquatorlangen Stau gibt oder dass es was mit Matte ist oder was Geschäftliches. Denn in meiner Brust grummelt es unaufhörlich: Grumm, knrrr, knrrr, und es erinnert mich schwer an Masseltow.
Ach, du heilige Ölsardine! Ich habe Masseltow und Ötte und die Fotos vollkommen vergessen bei all der Lena-Magie und dem Pom-Problem.
Lena zieht ihren nachtblauen Kimono über mit den milchigen Seerosen drauf und hat einen violetten Handtuchturban auf dem Kopf, der bei jedem Schritt wackelt. Sie trippelt vor mir her in die Küche, macht Chinesenaugen und Chinesentöne, und ich nehme eine Bratpfanne vom Haken und gonge laut mit einem Kochlöffel.
«Essen ist feltig, schöne Flau!», piepse ich mit hoher Stimme. «Alles sehl leckel, leckel!»
Lena lacht und setzt sich.
Oh Gott und Engel, wenn es euch gibt, dann helft mir! Jetzt! Aber fix. Dalli dalli, hopp hopp!!
«Pom kommt etwas später», sage ich feige. Er soll uns jetzt bloß nicht diesen geschenkten Abend vermasseln.
Aber: Lenas Zauber ist heute stark. Und hält. Sie nickt nur kurz und macht mir in Nullkommanix einen Lena-Toast mit Sardinen, Tomaten, Kapern, Chicoréeblättern, Avocadoschnitzen und Kresse, der heißt: unaussprechlich!
Und dann erzähle ich ihr von Masseltow und mir. Und sie staunt.
Und von dem Fotografen und Öttes Bude. Und sie strahlt.
Und von meinem Anziehproblem. Und sie zieht die Nase kraus.
Und ich frage: «Hilfst du mir?» Und sie nickt.
Da quietsche ich Öttes berühmtes «Supersupersuper!» Und wir müssen lachen und fangen an zu bellen in hohen, aufgeregten Tönen – wie Masseltow, wenn er gerade wieder voll am Durchknallen ist.
Lena blickt ganz klar über den Tisch in mein Gesicht und dreht den Blick nicht in weite Fernen nach innen. Sie ist voll da, und Pom verpasst sie mal wieder haarscharf. Mich übrigens auch. Hat er verdient.
Wir räumen zusammen den Tisch ab, auch Poms Teller, und Lena verliert kein Wort darüber. Lady taucht von irgendwoher auf und folgt uns in Lenas Zimmer. Zur Beratung, wie Lena es nennt. Sie macht alle Kerzen an, und ihre vielen kleinen Lämpchen sind überall verteilt, in jeder Ecke. Sie machen lauter verrückte Schatten an den Wänden, und der Raum bekommt geheimnisvolle Winkel. Überall hat Lena Kissen. Millionen oder so an die hundert. Sie hasst nämlich schwere Möbel. Und deshalb gibt’s kein Sofa. Da ist nur ihr großes Bett mit dem Baldachin darüber, den hat sie aus einem ellenlangen alten, aprikosenfarbenen Sari genäht, mit Spiegelscherben und anderem Funkelzeug drauf. Und wenn man darunterliegt und die Kerzen leuchten, dann verteilen sie Lichtpünktchen auf der Haut. «Lecker, lecker», sagt Pom dann immer, wenn er neben Lena liegt und sie alle küsst. Manchmal.
Und dann gibt es noch zwei sehr alte, verschnörkelte Korbsessel. In einen legt sich Lady, schließt die Augen und meditiert. Davor steht der kleine, runde, kunterbunt bemalte Teetisch und an der Wand das selbst gebaute Regal aus weißen Steinen und Holzbrettern. Und natürlich sind da ihre Pflanzen. Lena liebt Pflanzen, auch die großen. Und das muss sie auch, denn sie wachsen bei ihr wie verrückt. Lena hat zwei Avocadobäume in einer Ecke stehen, die hat sie aus diesen eiförmigen Kernen gezogen, und keiner hat das bisher glauben wollen. Sie sind riesig und bilden mit ihren Blättern ein wundersames Dach über den Korbsesseln mit dem Tisch.
Pom hat es aufgegeben mit dem Grünzeug. «Hab keinen Draht dazu», meint er. Aber er liebt es, in Lenas Zimmer zu sitzen und seine Musik zu hören oder mit Matte zu quatschen oder nur abzuhängen.
Wir sitzen auf den bunten Kissen auf dem Boden, und Lena denkt nach. Dann legt sie los, und meine meist stille Mutter redet und redet, und ich höre zu und sehe, wie sie beim Nachdenken die Nase kraus zieht, ich höre ihren Singsang, mein Herz räkelt sich genüsslich, und ich denke träge: Alles ist gut.
Lena denkt laut: «Ja, er hat recht, fünf Uhr, da ist das Licht noch kräftig, aber weich, das Pink wird davon voll und satt, gut, die Theke ist himmelblau, dich sehe ich links stehen, Masseltow am besten auf Öttes Arm, wir dürfen dich nicht zu sehr rausschmücken, es geht ja um Öttes Bude, aber zusammen muss es wirken wie der berühmte Paukenschlag von Haydn, ein roter Rock, rot wär nicht schlecht, macht das Pink noch frecher, Pink und Rot ist mein Tod, Originalton Tante Anneliese aus Bayern, du weißt schon, die mit dem Mausgesicht, und ein gemustertes T-Shirt oder besser eine Bluse, vielleicht Blumen, Blumen wären gut, unterstreichen das Karibische oder ist vielleicht doch zu viel, aber warum nicht, will er Wirkung, ist er verrückt oder will er es brav, dieser Fotograf? Am besten nehmen wir zwei Varianten, du kannst dich doch in der Bude schnell umziehen, Masseltow und Ötte gucken dir schon nichts weg (jetzt hör ich sogar, wie sie grinst), eine Strickjacke zum Drüberziehen ist die Lösung, so für alle Fälle, aber die Farben müssen stimmen, die sind das Wichtigste, die müssen in Harmonie sein, auch wenn sie quietschen ...»
Und auf einmal verändert sich ihr Singsang und bekommt eine ganz andere Klangfarbe, wird ernster, und sie kommt zu mir rüber. Sie hebt mein Gesicht zu sich hoch, betrachtet es eine Weile und sagt dann etwas nachdenklich und zögernd: «Mirjam, ich wollte dich schon lange fragen, ob du Lust hast, mit mir etwas auszuprobieren. Etwas, was deine Besonderheit unterstreicht.»
Besonderheit? Ich? Ich höre jetzt sehr genau zu. Lenas Stimme klingt eindringlich.
«Natürlich nur, wenn du es überhaupt willst», sagt sie. «Wenn es dir wichtig ist oder Spaß macht oder einfach aus Neugier. Sollen wir dich mal etwas verwandeln?»
Ich weiß nicht so recht. In meinem Bauch hüpft plötzlich ein kleiner Vogel mit zittrigen Beinchen hin und her. Er ist sehr aufgeregt. Und er hat Angst. Veränderungen kann er nicht leiden. Aber: Er ist auch neugierig.
Lenas Sachen sind eine Nummer für sich, verrückt und ganz und gar nicht modern, eher so total Lena: unaussprechlich eben. Und ich finde sie cool. Meistens. Wenn alle aber mal wieder glotzen und sich nicht einkriegen, finde ich es nicht cool. Dann ist es einfach nur lästig. Aber viele, viele finden Lena klasse. Und das ist sie auch.
Aber ich? Mich soll keiner sehen, jedenfalls will ich nicht auffallen, das wäre mir oberpeinlich. Ich bin nicht verrückt, ich will nicht angeglotzt werden, bloß nicht. Angeglotzt zu werden ist das Schlimmste überhaupt. Ich will meine Ruhe haben.
Aber das Seltsame ist, dass Lena ihre Ruhe hat, dass sie es noch nicht mal merkt, wenn sie angestarrt wird. Und wenn doch, so ist das okay für sie, weil es sie gar nicht berührt, weil es für sie gar nicht wichtig ist. Genau das ist der Punkt. Aber ich? Habe ich Lust, so zu leuchten, so besonders zu sein? Doch vielleicht wäre ich dabei nur einfach ein Ich in anderen Farben? Ich denke an Tante Gretas Bild mit dem Kaleidoskop. Wäre das so? Würde ich das schaffen? Und: Würde mir das gefallen? Keine Ahnung.
Lena betrachtet mich sehr, sehr aufmerksam, dann streicht sie mir sanft übers Gesicht und sagt: «Du sollst niemanden kopieren, nur herausfinden, was du magst an dir, und es dann unterstreichen. Es soll nur etwas aus dir herauslocken, was ganz du bist. Und es muss echt sein. Zum Beispiel deine Augen. Mit deinen Haaren und deiner Kleidung könntest du ihre Schönheit noch unterstreichen!»
Hat Lena Schönheit gesagt? Ich reiße entzückt diese schönen Augen weit auf und will mehr davon hören.
Lena lächelt und sagt: «Das nennt man: seinen eigenen Stil finden. Und dazu braucht man keinen kilometerlangen Kleiderschrank!»
Jajaja, aber was passt zu mir? Darüber habe ich noch nie so richtig nachgedacht, schon mal gar nicht morgens vor der Schule, wenn alles husch, husch gehen muss, schnell in die Jeans und ins T-Shirt. Nur die Farben sind mir wichtig. Weil ich manche an mir mag und manche total nicht.
Die Kerzen flackern, Lenas grüne Augen sind meeresbodentief, sie ist so schön und so besonders heute, und ich werde mutig und sage: «Okay, schöne Frau, dann legen Sie mal los. Geben Sie alles. Das ganze Programm. Wenn schon, denn schon!»
Lena strahlt und sagt: «Du kannst alles wieder verwerfen, das weißt du. Aber deine Frisur würde ich gerne ändern.»
Ich schlucke. Frisur! Allein schon das Wort. Hört sich nach Lockenwicklern und Haarspray und dem ganzen Gedöne an. Meine Haare sind lang und hängen runter. Und schon das Waschen und Föhnen finde ich ziemlich lästig. Die Spitzen schneidet Lena dann und wann. Meine Haare sind nicht schwarz wie ihre, leider, leider, sie sind aber auch nicht feldmauswischiwaschi so wie Poms Reste, Gottseidank. Sie sind einfach braun, ein dunkles Braun.
«Nein», sagt Lena entschieden. «Sie sind schokoladig!»
Na klasse! Das hört sich gut an.
«Die hast du von Oma Anna.»
«Danke, Oma Anna!», sage ich. «In welchem Großmutterhimmel du auch gerade steckst, ich hoffe, du hörst es.»
An Oma Anna habe ich keine Erinnerung, noch nicht mal ein Fitzelchen. Leider. Sie soll viel und laut gelacht haben.
«Würdest du sie abschneiden?», fragt Lena gerade und fasst in diese schokoladigen Fransensträhnen und hebt sie etwas hoch, betrachtet und prüft sie.
Schnittlauchhaare, meint Kristin immer, aber die hat gut lachen, die ist aus dem Schneider mit ihren wilden Locken.
«Alle haben lange Haare», murmle ich.
«Genau, eben drum», sagt Lena. «Also, hör zu, Mirjam! Ab ist ab, also überlege. Aber sie wachsen auch wieder nach, wie du weißt. Wenn dir das zu weit geht, lassen wir es. Das ist dein gutes Recht!»
Und das meint sie ehrlich, weil sie nämlich immer ehrlich ist. Und sie wäre nicht beleidigt. So ist Lena. Die Mutter von Kristin ist oft überhaupt nicht ehrlich, ich meine, sie sagt dann was, und ich weiß genau, sie meint eigentlich was ganz anderes. Oder sie manipuliert und schmiert dann so rum, damit man macht, was sie will. Sie ist im Grunde leicht zu durchschauen. Manchmal tun wir so, als merkten wir nichts, und lassen sie reden und machen doch unsren Kram, so wie wir wollen.
Lena sagt: «Komm mal mit ins Bad.»
Sie schaltet die Deckenbeleuchtung an, die eigentlich niemand anmacht, weil sie so eklig grell und kalt ist. Vor dem großen Spiegel hält Lena mein Haar hoch und schafft es, einen Teil irgendwie so zu verstecken, dass man meint, es wäre zwischen Kinn und Ohrläppchen, aber mehr beim Kinn, abgeschnitten. Und dann dreht sie lange an einer Strähne oben und steckt sie unsichtbar fest, geht einen Schritt zur Seite und sagt: «Voilà!»
Ich habe plötzlich einen Pony. Ach, du heilige Ölsardine! Ich schlucke und starre und glaub es nicht: Ich sehe chinesisch aus.
Lena strahlt und fragt: «Siehst du es? Das ist es, was ich meine. Deine Besonderheit!»
Ich nicke beklommen, und ich bin mir absolut nicht sicher, ob mir gefällt, was ich da sehe, dieses sehr fremde Gesicht, das da so erschrocken aus dem Spiegel blickt. So muss sich ein Goldfisch fühlen, der plötzlich als getupfte Makrele aufwacht. Ich starre mich an, und eins steht fest wie der Mount Everest im Himalaja: Ich sehe besonders aus. Aber ist das jetzt gut oder blöd?
«Und wenn du es noch eine kleine Spur stärker betonen willst», sagt Lena gerade und greift in die kleine Schublade unter dem Spiegel, «dann ...» Sie kramt und sagt: «Mach mal die Augen halb zu, ja genau so.» Sie fährt mit einem Stift am unteren und oberen Lidrand entlang, und ich kann nur noch blinzeln.
Als ich wieder richtig gucken kann, kriege ich den ersten Herzstillstand in meinem vierzehnjährigen Leben, vierzehnvierfünftel. So wird man nicht fünfzehn, das steht ja wohl fest! Aus dem Spiegel schaut ein chinesisches Mädchen mit schrägen Mandelaugen, die etwas tränen und gerade beginnen, verzagt zu lächeln.
«Grau wäre besser», sagt Lena, «das mildert das Ganze etwas ab und betont deine graue Augenfarbe stärker, hab ich aber jetzt nicht. Besorgen wir morgen, wenn du möchtest. Und, Mirjam, siehst du? Mehr ist nicht nötig. Mehr wäre zu viel!»
Plötzlich nimmt mich Lena in die Arme und streichelt mich, sie weiß wie immer, was ich gerade nötig habe. Ich muss mich von diesem Schock erst einmal erholen, der eigentlich gar kein Schock ist, eher so eine heftige Überraschung, dass das Herz zu stolpern beginnt und man fast in sich reinfällt. Ich schlucke und schlucke, und Lena flüstert: «Es ist doch nur eine Frisur und ein wenig Kajal. Und alle Haare sind noch dran!»
Sie wiegt mich sanft hin und her, ihr langes Haar streichelt mein Gesicht, und sie sagt: «Mirjam, du hast doch nur einen Blick auf eine Möglichkeit von dir geworfen, etwas von dir zu zeigen, was immer schon da war, zu dir gehört, aber im Schatten von anderen Möglichkeiten versteckt war. Du kannst doch wählen, das ist es doch, was wir Frauen so lieben, wenn wir es erst mal entdeckt haben. Das bist du und das bist du auch und morgen vielleicht ein ganz anderes Das, was du im Spiegel erblickst. Innendrin bleibst du doch gleich. Und trotzdem, glaube mir, dein Aussehen macht was mit dir. Sich mit sich wohlfühlen oder nicht, das sind zwei sehr, sehr wichtige Fragen, und sie fordern eine Entscheidung. To be or not to be ... so ähnlich.»
Sie lächelt. «Es ist ein Spiel, weißt du. Und das sollte Spaß machen!»
Sie dreht mich zum Spiegel, und mein Schnittlauchhaar hängt wieder herunter wie Schnittlauch, und ich ahne, was sie meint. Und meine Chinesenaugen sehen mit dem Kajal immer noch ein bisschen chinesisch aus, aber die Wirkung ist nicht mehr so umwerfend wie eben. Wenn ich das gerade nicht gesehen hätte, würde ich es wohl gar nicht glauben.
«Hab gar nicht gewusst, dass ich solche Augen habe», flüstere ich verwundert, als wir in Lenas Zimmer zurückkehren, hin- und hergerissen von den verschiedensten Gefühlen.
Und auf einmal beginnt der kleine Vogel in meinem Bauch ein winziges Geträller, eher ein Kanarienvogelbabygekicher, und ich habe große, große Lust, dieses Besondere zu entdecken. Ich frage: «Wer ist denn bei uns aus China? Hatten wir mal so einen Austauschstudentenpostboten aus Hongkong?»
Lena lacht und lacht und sagt: «Das ist Uropa Bruno. Seine ganze Sippe kommt doch aus dem tiefsten Ostpreußen. Der war ein richtiger Hunne. Hat wahrscheinlich noch das Rindfleisch weichgeritten, das am Sonntag auf den Tisch kam. Schau dir mal deine Babyfotos an. Du warst ein richtiger süßer Wonneproppen mit Schlitzaugen bis zur Taiga. Zum Knutschen. Pom hat dich unentwegt rumgetragen und allen gezeigt. Jeder musste dich bewundern. Und tat es auch!»
«Das hat mir auch schon Tante Greta erzählt, aber ich konnte es noch nie so richtig glauben.»
Sie küsst mich auf die Nase und sagt: «Das ist ein wunderschönes Geschenk von Uropa Bruno an dich. Irgendwann wirst du es lieben ...»
«Ötte bekäme einen Mordsschreck, und Masseltow würde ins Koma fallen, wenn ich morgen so auftauche», sage ich.
Lena meint dazu, das wäre äußerst praktisch, das mit Masseltow, dann könnten wir ihn so zurechtbiegen, wie es fürs Foto das Beste wäre, und Ötte würde sich schon wieder einkriegen.
Und plötzlich packt mich der Mut, und ich will es, ich will Uropa Brunos tollkühne Enkelin sein. Ich juble: «Ein Hoch auf Uropa Bruno, den Hunnen Ostpreußens! Jawoll, ich mach es. Ich werde jetzt und auf der Stelle chinesisch. Oder hunnisch, jawoll! Ich werde eine mongolische Steppenlady!»
Davon wird Lady wach, gähnt und schaut ebenfalls mit schmalen Chinesenaugen ins Kerzenlicht, und sie ist nicht die Spur verwundert.
Da läuft Lena in die Küche, holt eine kleine Flasche Sekt, Orangensaft und Gläser, und wir stoßen an. Ich darf ein paar Schlucke trinken, und der Rest ist für das Nachher. Für die getane Tat. Für die wundersame Verwandlung von Mirjam, Urenkelin des grandiosen Hunnen Bruno und Tochter der Tundra-Prinzessin Lena. Ein Hoch auf die Verwandlung von Mirjam in Suzie Wong!
Irgendetwas zittert gerade heftig in mir. Es ist die Angst. Und es ist die freudige Erwartung. Und ich halte das aus.
Lena schneidet und schneidet und sagt: «Mach die Augen zu.» Vorher hat sie noch ihre spezielle Musik aufgelegt, die ist von den Sufis. Und eine Frau singt gerade so schlicht und herzvoll, dass man tausend Kerzen anzünden möchte zu einem Gebet. Und ich stoße auch lauter kleine Stoßgebete aus: «Bitte, bitte, ihr Friseurengel da oben, falls es euch gibt, lasst es gelingen! Und lasst es mir gefallen!»
Lena murmelt: «Wie gut, dass du so glatte Haare hast, es muss nämlich schnurgerade fallen, das ist dabei der Clou. Wellen und Locken würden alles verderben. Du hast das ideale Haar dafür!»
Und da ich schon beim Beten bin, füge ich noch ein schnelles Danke für mein ideales Haar hinterher. Und: Danke für Uropa Brunos Hunnenaugen!
Da sagt Lena: «Lass die Augen zu, aber steh mal auf!»
Ich fühle sie jetzt dicht vor mir. Und dann beginnt sie mit dem Pony. Etwas Weiches, Fremdes ist da plötzlich in meinem Gesicht und kitzelt meine Stirn.
Im Hintergrund singen nun zwei sehr alte Männer von Allah, mit tiefen, brummigen Stimmen. So voll Inbrunst und Andacht ist ihr magischer Gesang, dass ich davon ganz schwer und ruhig werde. Ich liebe diese Musik. Lena treibt immer die wunderlichsten Sachen auf.
Und jetzt sagt sie: «Setz dich wieder hin. Ja, gut. Und nicht schauen! Ich hol nur kurz etwas.»
Sie verschwindet, und ich höre die Männer singen: «Allah oh Aquba la illa illahallah.»
Ich sitze im Bad unter diesem schrecklichen Licht, aber in mir drin sitze ich in einer dunklen, warmen Höhle mit einem flackernden Feuer und seltsamen, tanzenden Zeichen an den Wänden. Das ist schön, und ich summe zu dem Gesang. Da kommt Lena zurück und zieht mir was über, das ist kühl und glatt und muss wohl tausend Knöpfe haben.
Und nach einer Weile sagt sie: «Mirjam, steh auf. Ja, langsam. Und jetzt mach die Augen auf. Schau dich an!»
Ich stelle mich hin und öffne gehorsam meine Augen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass Lena das Ekellicht ausgemacht hat. Kerzen flackern rechts und links vom Spiegel in den Klavierleuchtern vom Flohmarkt. Und eine mächtige Stille wächst in mich hinein, die ist so gewaltig wie in einer alten Kathedrale. Sie tut fast weh.
Ich sehe eine junge, sehr junge Frau wie in einem kostbaren Gemälde, etwas unscharf im Kerzenlicht, und ich höre auf zu atmen und zu blinzeln. Diese junge Frau ist sehr geheimnisvoll mit ihrer Chinesenfrisur und den Mandelaugen, und in ihrem Blick verbergen sich noch viele unbekannte Gesichter. Sie trägt ein zartes, blassblaues Gewand mit kleinem Stehkragen und exotischen Blumen in einer Ahnung von einem Rosa, und es hat eine Million winzige Knöpfe, so rund und blass wie die Mondaugen kleiner Fische. Über dem Gemälde liegt der eigentümliche Zauber einer fremden, weit entfernten, sanften Landschaft.
Wir schweigen lange.
Und dann schüttle ich heftig den Kopf, dass die Haare nur so fliegen, und sie fallen wieder zurück in diese neue Frisur, die mich so anders macht, dass ich mich nicht mehr kenne. Ich schlucke, und ein kilometertiefer Seufzer steigt aus mir heraus und hängt im Raum.
Lena stellt sich hinter mich, und ich lehne mich an sie. Sie küsst mein Haar, mein fremdes Haar. Und im Spiegel schauen wir uns an. Ein Lächeln ist in ihren Augen und springt jetzt in meine. Ich drehe mich um und lege meinen Kopf an ihre Schulter. Sie hält mich sanft fest. Ihre Arme sind weich und warm. Alles ist gut.
Und als diese Benommenheit weicht, dieses Fremdsein in mir selber, und ich mich wieder in mir zurechtfinde, schnappe ich sie mir und schiebe sie in ihr Zimmer. Ich will toben, ich will tanzen, ich will Sekt, ich will das Leben, ich will diese Mirjam sein, jetzt mit Pony und Chinesenblick. Ja, ich bin wieder Mirjam, ich bin wieder zurück in mir. Ich bin wie immer und ganz anders. Krass!
Und so schreie ich mit überkieksender Stimme Öttes «Supersupersuper!»
Wir stoßen an auf Uropa Bruno, auf Lena, auf «that lovely flowergirl from China» und auf das wilde und gefährliche Leben. Und auf die Millionen möglichen, aberwitzigen Überraschungen, die es bereithält.
In der Diele drehe ich mich bestimmt tausendmal vor dem großen Spiegel hin und her. Diese Lena-Bluse zu meiner Jeans und der neuen Frisur ist eine einzige Wucht, das erkenne sogar ich. Es macht mich kirre, es macht mich rattendoll, es macht mich so unruhig, dass ich wie eine Springmaus immerzu bis zur Decke springen könnte. Ich bin jetzt total aus dem Häuschen, fremd und neu und doch auch wie immer. Puh, wie soll man das alles so schnell verkraften?!
Lena wartet, bis ich mich wieder einkriege, dann füllt sie unsere Gläser, wir stoßen an, und sie sagt feierlich: «Herzlichen Glückwunsch! Es ist immerhin so etwas wie eine Geburtsstunde.»
Ich verstehe nicht.
«Du bist jetzt eine junge Frau», sagt sie und lächelt.
Ja, nicke ich. Ich kann nichts sagen, meine Zunge klebt in meinem Mund wie Mehlpampe. Außerdem fallen mir keine Worte ein. Und der kleine Vogel in meinem Bauch ist völlig erschöpft. Er steckt seinen Kopf unter seine Federchen und schläft ein.
Ich glaube, ich bin glücklich.
Als ich aufwache, weiß ich glasklar, dass etwas Bedeutendes passiert ist, aber nicht mehr, was. Ich muss nicht zur Schule, weil Samstag ist, das weiß ich noch. Und Lady beginnt gerade zu schnurren, das tut sie immer, wenn ich wach werde, ohne dass ich auch nur ein Auge geöffnet habe oder anfange, mich zu räkeln. Sie schnurrt heftig, und ich denke: So sollte jeder Tag beginnen! Und als ich meinen Kopf bewege und mein fremdes Haar wahrnehme, ist alles wieder da: meine Chinesenfrisur und Uropa Brunos Augen.
Ich bleibe ganz still liegen und hole vorsichtig aus meinem Innern das kostbare Gemälde hervor, das gestern in meinem Badezimmerspiegel gewesen war, und hauche es an, wie man es mit einer verschmutzten Brille macht, um klarer sehen zu können. Und die Freude von gestern tippt mit ihren Fingern sachte an mein Herz. Ich werfe die Bettdecke zurück, Lady bekommt ein kleines Eigenheim darunter, das liebt sie, ich meine, so zugedeckt zu werden, und ich tappe ins Bad. O ja, zwei Bürstenstriche, und der chinesische Pagenkopf ist wieder glatt und exakt, und ich gefalle mir immer noch.
Am Spiegel klebt ein Zettel von Lena:
Schau mal in die Schublade. (Pfeil nach unten)
Habe ich noch gefunden. Und: Mirjam, geh mal bei OHLÀLÀ vorbei, die haben einen hellroten Rock im Fenster. So ohlàlà. Wenn er dir gefällt, ist er deiner! Ich bin in der Werkstatt. Ich hab dich sehr lieb, Sternenkind.
In der Schublade finde ich einen grauen Kajalstift, und nachdem ich mir eimerweise Wasser ins Gesicht geschüttet und die Zähne geputzt habe, versuche ich unbeholfen, meine Lidränder anzumalen, bis die Augen nur so tränen. Als ich gerade wild rumfluchen will, sticht mir messerscharf und schneidend eine deutliche Botschaft hinter Lenas Worten in die Brust:
Ich habe keine Lust, zu Hause zu frühstücken.
Bin sauer auf Pom! Tut mir leid!
Ogottogottogott! Ich fluche laut vor mich hin, das Badezimmer hat eine klasse Akustik dafür: «Pom, du Mistkerl, du Macker ohne Herz!» und so weiter und so fort.
Ich schlüpfe in Lenas duftenden Kimono, der mir eine Spur zu lang ist, und gehe in die Küche. Da sitzt mein kugelrunder Vater am Küchentisch, völlig zerknittert, unrasiert und zerknirscht, und hat eine Tonne schlechtes Gewissen im Gesicht, als er mich sieht. Und ich schwöre, er zuckt so heftig zusammen, als hätte er mindestens drei Finger in der Steckdose. Und seine kleinen, noch müden Augen werden wach und lebendig und ungläubig. Er blinzelt und starrt und sagt: «Herr im Himmel, da hol mich doch der Teufel. Ich sollte das Trinken lassen! Ich habe Halluzinationen am frühen Morgen! (Viertel nach zehn) In meiner Küche erblüht gerade ein Chinesenmädchen!»
Er rauft sich seine schütteren Haare und reibt sich heftig die Augen, Lena hat ihn wohl voll ins Messer laufen lassen. Und dann steht er auf, noch in Schlafanzughose und T-Shirt, dreht mich nach links und nach rechts und murmelt: «Ich fass es nicht, was ich da sehe. Da hat sich heute Nacht eine kostbare Knospe geöffnet, und ich hab’s verpasst. Ist das wirklich meine Tochter, dieses Kind meiner Lenden, oder nichts als eine boshafte Irritation meines verkaterten Gehirns?»
Er knibbelt heftig mit den Augen, als ich grimmig in seine schaue. Wütend und chinesisch! Sehr chinesisch und sehr wütend.
Und dann nimmt Pom mich in die Arme und hält mich fest.
O Pom, mein ganzer Zorn schmilzt dahin wie ein Schneerest in der Mittagssonne. Ich drücke mich fest an seinen weichen Bauch, wir sind so gut wie gleich groß, und ich sage eindringlich: «Du hast große Scheiße gebaut, dass du’s nur weißt!»
Pom nickt und flüstert: «Und ich habe wohl etwas Wundervolles verpasst ...»
«So ist es», sage ich und schiebe ihn von mir weg. «Es war ein Abend mit Lenas ganzer Pracht und Herrlichkeit, die höchste Stufe auf der Lena-ist voll-da-Skala. Und du, was hattest du?»
Pom setzt sich und schaut betreten in seine Kaffeetasse. «Männergetue und so. Nichts wirklich von Bedeutung. Eher das krasse Gegenteil.»
Pause.
«Tochter, pass auf!», sagt er und schaut mir endlich klar in die Augen. «Das war daneben!» Und er schlägt sich mehrmals vor die Brust. «Mea culpa! Und jetzt mache ich mich bereit für den Kampf und gehe zu Lena!»
«Nicht kämpfen», sage ich. «Siege, nein, lass dich besiegen. Und: Keine Waffenruhe! Ich will einen handfesten Friedensvertrag! Ist das klar?»
Pom nickt betreten. Und als er aufsteht und an mir vorbei ins Bad schlurft, küsst er mich auf den Scheitel und sagt: «Lena hat mal wieder ihren vollen Zauber entfaltet. Du siehst wundervoll aus, meine kleine Pfirsichblüte!»
Ich mache mir einen Kakao und flehe in Richtung Himmel: «Ihr geflügelten Heerscharen, lasst die Liebe und den Frieden siegen!» (Sollte ich Pfarrer-Gene mit mir rumtragen? Welcher Hunne hat denn dafür gesorgt?)
Da kommt Lady in die Küche, streckt beide Hinterbeine lang nach hinten, gähnt und verlangt nach ihrer irdischen Mahlzeit.
Mit Lenas Bluse, dem neuen Rock und einem kleinen Täschchen mit dem ganzen Schminkkram im Rucksack schwinge ich mich auf mein Fahrrad. Bevor es an Öttes Bude mit dem Fotozirkus losgeht, soll Tante Greta mich bestaunen. Ich schwanke zwischen ein wenig Furcht und kribbeliger Erwartung. Wird es ihr gefallen? Ihr Urteil ist mir wichtig, es ist unbestechlich, ehrlich und niemals verletzend. Wenn es auch ihr gefällt, dann würde das so vieles leichter machen. Ich könnte mein neues Ich unbekümmerter annehmen, sodass es wirklich ganz zu mir gehört wie meine Füße zum Beispiel mit ihren besonderen Mirjam-Zehen, alle gleich lang und jeder einzelne kann für sich wackeln. Ich könnte mich so selbstverständlich und ohne einen überflüssigen Gedanken betrachten wie die alte Mirjam mit ihren Spaghettihaaren, den Jeans, Turnschuhen und ohne Wimperntusche. Sodass ich mich mögen kann. Sodass ich nichts erklären muss. Sodass es einfach das ist, was ich bin. Jedenfalls ein Teil von mir. Sodass ich mich nicht verteidigen muss. Oh Gott, vor den anderen in der Schule am Montag! Sofort kriege ich Bauchschmerzen.
In einen Spiegel kann ich jetzt schon schauen, ohne zusammenzuzucken. Aber noch immer mit großem Erstaunen. Und ich übe, mich anzulächeln und Guten Morgen, du Schöne! zu sagen. Das ist ein Buchtitel. Der fällt mir gerade ein. Und die Schöne freut sich über diese neue Aufmerksamkeit und lächelt zurück. Und Uropa Brunos Hunnenaugen werden noch schräger, ich schüttle meine schnurgeraden Chinesenhaare und erlaube mir ein schüchternes, noch sehr scheues, geflüstertes «Du gefällst mir!» Und das Chinesenmädchen tut schamhaft und senkt die getuschten Wimpern.
Tante Greta könnte ich von diesen Spiegelbegegnungen erzählen. Ja, Lena auch. Pom besser nicht, der würde bloß einen seiner witzigen Pom-Sprüche sagen, die total nicht witzig sind, und ich würde sterben. Und Lena bekäme ihren Eiszapfenblick. Aber, Himmel sei Dank, auch Pom fand das Chinesenmädchen klasse, und Pom würde nicht krücken, er wäre da eher erbarmungslos ehrlich. Doch Pom war begeistert. Danke, mein kleiner, runder Apfel, Kusskusskuss!
Tante Greta wohnt am Stadtrand, wo früher all die Steiger der Zechen ihre großen oder kleinen Villen hatten, zwischen wunderbar alten Bäumen und prachtvollen Gärten. Heute wohnen dort Makler, Architekten und in den etwas runtergekommeneren Häusern verrückte Wohngemeinschaften mit verrückten Studenten. So wie die, die jetzt bei Tante Greta in der großen Wohnung unter ihr wohnen. Und die alle von ihr begeistert sind. Immer wieder sitzt die eine oder andere Bewohnerin – oder alle fünf zusammen – bei ihr, wenn ich sie besuche.
Es ist Anfang April. Die Sonne wärmt schon, und ich fahre durch das helle Frühlingslicht und fühle mich wie eine dieser Knospen kurz vor dem Aufplatzen. Ich singe laut Hey Jude mit Tausenden von Nanananaaaas. Immer wieder. Pom hat alle Beatles-Platten, die es gibt.
Als ich vor Tante Gretas Haus ankomme, hält dort gerade ein Taxi, und der schwitzende, kleine, dicke Taxifahrer reißt seine Mausaugen auf und pfeift durch die Zähne. Und: Bin ich beleidigt? Bin ich? Ne, kein bisschen. Eher das Gegenteil. Er ist schließlich der erste Kerl, der auf mich abfährt. Genial krass! Das tut gut.
Ich lehne das Fahrrad an den Zaun, lächle ihn an, kreuze die Arme über der Brust wie die Geishas in den Kinofilmen, mache eine klitzekleine Verbeugung in seine Richtung und lisple: «Guten Tag, kleinel Mann!» Dann tripple ich zur Haustür.
Er schaut dermaßen verblüfft, dass ich zu kichern anfange. Aber seine Augen lassen mich nicht los. Er scheint fasziniert. Klasse!
Da öffnet sich die Haustür, und Tante Greta kommt heraus. Nein, sie schreitet heraus. Sie sieht aus wie eine Herrscherin, nur ohne Krone.
Wir treten beide vor Überraschung einen Schritt zurück und beäugen uns einen stillen Moment. Tante Gretas Augen blinzeln nur einen winzigen Augenblick, dann schaut sie sehr aufmerksam an mir herauf und wieder herunter, und dann? Sie lächelt, schiebt mich ein kleines Stückchen von sich weg und sagt: «Mirjam, wie hast du herausgefunden, dass das in dir steckt?»
«Das war Lena», flüstere ich.
Sie nickt.
«Es ist großartig», sagt sie entschieden. «Und lass dir nichts anderes einreden. Es ist wunderschön und geheimnisvoll. Es ist eine deiner besonderen Mirjam-Facetten!»
Wunderschön und geheimnisvoll. Ich schlucke.
Sie nickt wieder, und ich merke, wie ich wachse, und etwas Wildes, das ich schon gestern nach meiner Veränderung gespürt habe, will toben, will sich trauen, stolz zu sein, wild und mutig und schräg und crazy.
«Mirjam», sagt Tante Greta, «ich habe jetzt keine Zeit für dich. Das tut mir wirklich leid, mein Schatz. Bitte komm morgen wieder, dann erzählst du mir alles. Ist das in Ordnung?»
Es ist in Ordnung. Ich nicke. Der Taxifahrer hält schon die Tür für diese Herrscherin geöffnet, und sie gibt mir noch ihre drei kleinen, spitzen Tante-Greta-Küsse auf die Wangen und schreitet zum Auto. Ihr langer, rubinroter Seidenschal weht hinter ihr her, die Taxitüren schlagen, und ich stehe dort in ihrem Vorgarten, der gerade dabei ist, eine blühende, wuchernde Wiese zu werden.
Und der Frühling in diesem Jahr macht mich schier meschugge. Ich würde gerne kühn aus dem Nest springen und juchzend um diesen April fliegen. So in etwa. Aber wie ich mich kenne, würde ich dabei voll auf die Nase fallen.
Und: Na bitte, ich hab’s doch gewusst ...