Ich bin kurz vor fünf an Öttes Bude, da ist gerade Hochbetrieb. Mist! Ich höre Masseltow toben und verkrümle mich ein Stück weiter weg.
Ich habe den neuen, sanftroten Rock an, der ist ganz fremd an meinen Knien. Ich trage eigentlich immer Jeans. Die hab ich in drei Blautönen. Und eine in Schwarz. Dieser fremde Rock hat unten am Saum eine kleine Rüsche, nein, nicht wirklich, aber er wellt sich unten so zehn Zentimeter hoch, als hätte man Krepppapier ausgebügelt. Alles andere ist eng und hat tolle Jeansnähte. Und die Verkäuferin, die immer so kreischt, wenn man aus der Kabine kommt, egal, was man anhat, und die so aufgebrezelt ist wie alle Jakob-Sisters zusammen, wäre fast an ihrem Entzückensquietschen gestorben. Lena kauft so gut wie nie etwas hier, aber sie schaut gerne mal rein und lässt sich inspirieren. Denn hier ist es teuer. Aber dieser Rock ist Lenas Richtung, weil er sehr ungewöhnlich ist. Und jetzt ist er meiner, jetzt ist es auch meine Richtung, denn mein neuer Kopf macht mich mutig.
Am Montag in der Schule sieht das mit dem Mut bestimmt anders aus, und mir wird jetzt schon ganz mulmig, wenn ich daran denke. Das neue Wilde hat sich nämlich schon wieder verkrümelt. Schwupp und weg! Keine Ahnung, wohin.
Ich trete von einem Fuß auf den anderen und schlenkere meinen Turnbeutel nervös hin und her, da sind noch meine Jeans drin und eine hellblaue Strickjacke, für alle Fälle. Und mir ist jetzt etwas kühl in Lenas Suzie-Wong-Bluse, aber Ötte soll sofort der Schlag treffen, nicht stückchenweise. Ich bin hibbelig, meine Haut zischelt und summt, und ich würde sie mir am liebsten abkratzen.
Aber dann ist es leer vor Öttes Bude. Von Masseltow kein Mucks. Ötte reckt gerade seinen dünnen Hals über die Theke und schaut sich suchend um. Ich winke. Ötte hebt zögernd die Hand. Ich winke noch mal. Ötte kapiert’s nicht. Erst als ich näher komme, kriegt er eine Ahnung, wer sich da auf ihn zu bewegt. Und er ist: fassungslos! Er schnappt regelrecht nach Luft, um sie dann mit einem langen Zischsch wieder herauszulassen.
«Donnerlittchen!», sagt er nur. «Das war bestimmt Lena. Alle Achtung!»
Er hebt Masseltow hoch, damit der auch dieses achte Weltwunder bestaunen kann.
Doch Masseltow ist total cool. Hat mich wohl längst mit seiner Nase erkannt. Und mein Outfit verwundert ihn nicht die Bohne. Aber da flackert was sehr Aufmerksames in seinen Augen, als ich ihn ansehe.
«Ich bin’s», sage ich vorsichtig. Man weiß ja nie, vielleicht kann er Veränderungen nicht leiden. Und tatsächlich, auf einmal fängt er an, die Zähne zu fletschen und auf Höllenhund zu machen. Ich erschrecke. Ötte setzt Masseltow auf den Boden. Er schaut an mir vorbei, und ich kapiere, dass Masseltow mich gar nicht gemeint hat. Hinter mir taucht der Fotograf auf. Er hat zwei riesige Kameras vor dem Bauch baumeln, und Ötte sagt: «Mirjam, bleib mal bei Masseltow. Muss raus, noch was bereden ...»
Ötte schnappt sich den Fotografen, und sie verschwinden.
Masseltow und ich bewachen gemeinsam den Kiosk von innen. Ich gehe in die Knie, und Masseltow setzt sich gehorsam vor mich hin. Wir schauen uns in die Augen.
«Pass auf, my honeykiss!», sage ich. «Ich weiß, dass du alles verstehst, also hör jetzt gut zu!» Dabei krabble ich ihn sanft zwischen den Ohren, sozusagen zum Bezirzen. Ich mache meine magischen Augen, die ganz tief in ihn eindringen sollen, bis in seine irgendwo verschüttete Hundeseele.
«Das ist Öttes großer Moment», sage ich eindringlich. «Und da du sein bester Kumpel bist, darfst du ihm das nicht vermasseln. Okay? Also, unser aller Darling, halt einfach mal die Schnauze!»
Masseltow nickt, jedenfalls legt er seinen Kopf schief, und ich betone noch mal: «Nicht bellen, nicht knurren, nicht toben. Und schon gar nicht schnappen. Nur stillhalten. Und schön gucken. Du bist nämlich fotogen. Hat Ötte gesagt. Also, Buden-Superhund, gib dein Bestes!»
Nochmaliges Kraulen unter seiner spitzen Schnauze.
Klar, kapiert, sagen seine Hundeaugen, und die schauen plötzlich so magisch tief zurück, dass ich eine Gänsehaut kriege.
Dann ist Ötte wieder da, und ich flüstere noch schnell in Masseltows Ohr: «Nix verraten. Du wirst ihn überraschen. Supersupersuper ...»
Masseltow grinst schüchtern (schüchtern!), und ich muss mich vor die Bude stellen. Die Sonne scheint wie geplant, und der Fotograf sieht aus, als wäre er gerade einer Zeitmaschine entsprungen, die ihn von seinem Wikingerschiff – plopp! – vor die Bude in der Jetztzeit abgeliefert hat: lange, graue Haare und volle Lederkluft, mittelgroß, eine kräftige Figur und wunderbare, braune Samtaugen mit einem Lächeln voller Sterne vom Nachthimmel über seinen Segeln ... (Ach, du heiliges Reibeplätzchen, jetzt ist es so weit, jetzt bin ich voll am Durchknallen, ja superklasse Obermist!)
Er steht in vorsichtiger Entfernung weiter weg vom Kiosk und dirigiert uns hin und her, er ruft: «Sehr schön, Mädel! Und jetzt mal in die Kamera schauen!» Und dann noch so was wie: «Wow! Ruhrpott total! Die geniale Karibik-Peking-und-wilde-Bestien-Mischung aus Duisburg-Wanne-Eickel-Bottrop! Ge-ni-al krass!»
Ich brauche mich nicht umzuziehen, alles stimmt, und es macht richtig Spaß, aber Masseltow stiehlt uns allen die Schau. Er ist eine einzige Wundertüte. Er macht auf Diva, schaut dem Fotografen tief in die Augen, wirft sein nicht vorhandenes Lockenfell nach hinten und schaut keck. Er ist überhaupt der Knüller, egal, wo und wie wir ihn drapieren.
Als die Sonne hinter den Bäumen verschwindet und das Licht wechselt und auch die ersten Kunden wieder auftauchen, ist alles vorbei. Masseltow besinnt sich sekundengenau auf seine Alien-Nummer und beginnt zu rasen.
Der Fotograf ist hin und weg. Er gibt Ötte und mir seine Karte und verspricht, Abzüge zu schicken und anzurufen. Und zu mir sagt er noch: «Wenn du mal ein paar Spitzenfotos von dir brauchst, jederzeit, schöne Dame. Es war mir ein Vergnügen!»
Da Masseltow aber nach dieser langen Pause gerade zu seiner Höchstform aufläuft, bin ich mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe.
Der Fotograf tippt sich an die Stirn, verschwindet, und etwas später sehen wir ihn wie den rasenden Reporter auf seinem Motorrad an uns vorbeibrummen, auch so ein Wikingermodell. Er wirft mir eine Kusshand zu, bevor er um die Ecke verschwindet.
«Den hasse aber mächtig beeindruckt, Mädel», meint Ötte. Und zu Masseltow: «Du bis’ der beste Kumpel der Welt, supersupersuper. Blutwurst oder Leberwurst?»
Beides, ist Masseltows eindeutige Antwort. Und das soll er kriegen!
Und der Fotograf heißt Arnt. Arnt Soundso. Das steht auf seiner Karte.
Ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen. Wäre Masseltow ein unkomplizierter Hund, so wie alle anderen seiner Kumpels, nähme ich ihn jetzt an die Leine und würde ihn, meinen neuen Rock, Lenas Lotosgartenbluse und mein neues Chinagirl-Gesicht spazieren führen.
Ich bin erfüllt von einer seltsamen Unruhe und weiß nicht recht, was mit mir los ist. Ich will nach Hause. Ich will nicht nach Hause. Ich will, dass mich keiner sieht. Ich will, dass mich jeder sieht. Ich höre noch die Stimme des Fotografen: ... jederzeit, schöne Dame ... und es ist mir peinlich. Und es ist mir nicht peinlich. Es ist mir sozusagen überhaupt nicht und kein bisschen peinlich. Sondern es macht mich irgendwie prall grün. So müssen sich die gerade aufplatzenden Knospen fühlen.
Ich bleibe unschlüssig vor Öttes Bude stehen, kraule und lobe Masseltow, als es wieder leer ist, sage «Tschüss» und kann mich nicht trennen.
Ich höre ein Motorrad und schrecke zusammen.
«Hat wohl was vergessen, der Gute», sagt Ötte.
Aber der Gute ist es nicht, sondern ein junger Typ auf seiner aufgemotzten Kawasaki. Und jetzt will ich auf der Stelle weg. Ich bin erleichtert und enttäuscht. Ich bin zappelig. Verdammt, ich möchte schreien und Rad schlagen und singen und wie ein Wolf heulen und mich verstecken.
Ich sage nochmals «Tschüss», und Ötte winkt lange. Masseltow schaut irgendwie wissend hinter mir her.
Und jetzt möchte ich wirklich nach Hause. Ich will auf meinem Bett zwischen all meinen Kissen liegen und Lady in meiner Kniekehle haben, ich will zehnmal hintereinander Brothers in arms hören. Pom und Lena sollen nebenan in Lenas Zimmer sitzen, sie trinken ein Glas Wein zusammen, sie lachen, Pom spielt etwas Gitarre, sie sind sich gut, sie sind mit mir zu Hause. Ich will mein Nest. Und keine weiteren Flugversuche.
Als ich in unsere Straße einbiege, kommt von der anderen Seite dieses Wikingermotorrad mit diesem Sternenaugenmann um die Ecke, fährt langsamer und bremst. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Der Wikinger nimmt seine Motorradbrille ab, natürlich auch so ein Wikingermodell, und eigentlich müsste sein Helm zwei Hörner haben. Und ich gehe mit steifen Schritten auf ihn zu, unentwegt in seine Augen blickend mit der ganzen Sternenpracht nördlich und südlich vom Äquator. Und meine Augen schnuppen plötzlich wie wild, ich wusste gar nicht, dass ich das kann.
Ich weiß um meinen magischen Blick, vorzugsweise bei Lady und Masseltow angewandt. Und seit eben weiß ich, dass ich schnuppen kann. Ganze Milchstraßen von Schnuppen zischen zwischen seinen Sternen hin und her.
Und dieser Fotograf mit dem Namen Arnt sagt: «Nochmals Dank, junge Dame. Es war das reinste Vergnügen. Und aus der Nähe betrachtet ein noch größeres ...»
Er lächelt und die Sterne funkeln, meine Schnuppen jagen über den samtdunklen Himmel seiner Augen, und die Glocken fangen an zu läuten ... (Das mit den Glocken ist jetzt keine Erfindung, um all diesen gesammelten Kitsch zu unterstreichen, sie tun das wirklich immer am Samstagabend um sechs Uhr, ich schwöre ...)
Dann ist er weg.
Und ich schnuppe noch eine Weile hinterher.