Die Schule am Montag kann nach diesem Fiasko nicht schlimmer werden. Und: Es ist ein Honigschlecken dagegen. Erstaunte Blicke, ein paar Bewunderungen, ein paar blöde Bemerkungen, mehr nicht. Frau Schütte strahlt mich an und sagt: «Steht dir gut, Mirjam!» Und schon ist alles gelaufen.
Was habe ich geglaubt? Ein Atompilz würde meine Mitschüler treffen, wenn ich als Suzi Wong die Klasse betreten würde? Oder würde er eher mich treffen bei einer Handvoll bekloppter Bemerkungen? Das nennt man wohl totale Selbstüberschätzung. Tja, so bin ich. Im Moment sowieso völlig durch den Wind. Durch dieses verheißungsvolle Frühlingslüftchen da draußen.
Trotzdem: Besser so als so. Lieber überraschendes Honigschlecken als die erwartete Katastrophe. Und übrigens: Honigschlecken kann ich das auch nicht nennen, weil ich mir nämlich nichts aus Honig mache. Ich liebe Lakritzsterne auf dem Handrücken, die ich so lange ablutsche, bis sie kleiner und blasser werden, ich liebe immer noch Ronja Räubertochter und die Kuschelattacken mit Pom und Lena, ich liebe Lady, die sich auf den Rücken rollt, wenn ich komme, und mir ihren weichen Bauch zum Streicheln anbietet, ja selbst mein schon zu kurzes Bärchennachthemd liebe ich, weil ... keine Ahnung weil, aber verdammter Mist, das ist doch jetzt alles Kinderkram, jetzt bin ich doch eindeutig zu alt dafür! Dieser Wikinger hat graue Haare, und ich hab immer noch Pantoffeln mit Mauseohren, Herr im Himmel, Mirjam Engels, du hast doch nicht alle Tassen im Schrank ...
Und da erschrecke ich zutiefst. Ist dieser Kinderkram nun nicht mehr erlaubt? Meine Schneekugeln auf der Fensterbank, meine Rollschuhe und meine Limonadendrinks mit dem klebrigen Himbeersaft? Wo ich doch jetzt eine «gerade erblühte Seerose aus einem chinesischen Garten» bin (O-Ton Pom).
Ja, voll die Kacke, wie die Fünftklässler immer sagen. Ich wusste nicht, dass das Älterwerden so schwer ist. Und kompliziert. Muss man denn immer das eine oder das andere sein? Sagte Tante Greta nicht, dass ich ganz bei mir bleiben soll, bei dem, was ich bin? Himmel, Hölle und Gartenzwerge, ich weiß nicht mehr, was ich bin! Wer bin ich?
Ich bin Mirjam mit Plüschpantoffeln, die Mauseohren haben, jawoll, ich bin Mirjam, die einen Taxifahrer zum Pfeifen bringt, ich bin Mirjam, die kostbare Wörter sammelt und Lakritzsterne ablutscht. Und: Ich will das alles zusammen sein. Ja, und Arnt müsste das verstehen. Er müsste das mögen.
Und schon legt mein Kopf los:
Alles?
Alles!
Auch das Lakritzsternablecken?
Gerade das. Wir könnten uns dann gegenseitig ...
Du spinnst.
Ich weiß. Seufz. Aber wäre das nicht hoch erotisch?
Was weißt du schon von Erotik?
Rein gar nichts.
Eben. Und außerdem, ein Mann, der alte Sachen liebt, alte Motorräder fährt, eine alte Lederkluft trägt und voll auf diesen ganzen Wikingerkram abfährt und selber schon ganz schön alt aussieht –
Das ist gemein.
Und wenn er älter ist als Pom?
Nie im Leben.
Und wenn doch?
Ist er nicht.
Und wenn doch?
Ach, halt die Klappe!
Nun gut, vielleicht ist er ja ganz wild darauf!
Auf mich?
Auf Lakritzsterne und so ...
Hm.
Frag ihn!
Du spinnst! Du spinnst! Du spinnst!
Ich weiß!
Ach, du sprießendes Frühlingsgedöns, ich titsche gerade voll aus!
«Mensch, Mirjam, ich bin immer noch platt», sagt Ötte und starrt mich an, als ich am Montagabend mal kurz vorbeischaue. Er tut sich noch immer etwas schwer mit meiner Veränderung. Und Masseltow sitzt auf der Theke, schlägt heftig seinen kurzen, krummen, borstigen Schwanz gegen ein Bonbonglas, bon bon bon, und funkelt mich begeistert an, mein Aussehen ist ihm wurscht, solange ich ihn lieb habe und Leberwurst in der Tasche.
Ich kraule Masseltow schön langsam zwischen den Ohren, genau so, wie er es mir beigebracht hat, und frage mit eigenartiger, fremder Stimme: «Gibt’s was Neues?»
Ötte kratzt sich am Kopf, bringt dabei seinen Babyflaum durcheinander und denkt nach. Allen Ernstes. «Also ...», sagt er. Und denkt weiter nach. «Also ... nein, eigentlich nicht.»
Ich schlucke. Meine blöde Frage hieß eigentlich im Klartext: Hat der Fotograf, der den wunderbaren Namen Arnt trägt, gefragt, wo ich wohne, wie ich heiße, wie er mich findet, wie er usw.? Hat Ötte aber nicht kapiert.
Ich spinne doch schon. Bin ich durchsichtig, oder was? Kann Ötte in mich reinschauen wie Tante Greta? Wäre das in Ordnung? Ne, kein bisschen. Na also.
Ich druckse rum, höre Ötte gar nicht zu, der mir detailliert von einer Dokumentation über Delfine erzählt, der Gute hat sich gemerkt, dass ich die liebe, und ich werde so kribbelig, als säße ich mit dem Hintern auf einer Ameisenstraße. Ich werde sogar unhöflich, was ich sonst nicht bin, niemals, so gut wie nie. Verändert Liebe den Charakter? Ogottogott, wenn ja, dann aber bitte in die andere Richtung.
Ich unterbreche ihn abrupt und frage tatsächlich: «Und der Fotograf?»
Und Ötte fragt: «Welcher Fotograf?»
Herrimhimmelsoblödkannmandochnicht ...! Entschuldigung, Ötte.
Ich schlucke, und da dämmert es ihm. Und das ganze Beiprogramm gleich mit. Seine Augen sind jetzt ganz aufmerksam, er schaut über die Theke sehr eindringlich in meine neuen Kajalaugen, blinzelt mich kurz an und sagt den erstaunlichen Satz: «Mensch, Mirjam, wenn’s dich erwischt hat, na, dann Prost Mahlzeit!»
Ich schaue schnell woanders hin und sage mit einer so trockenen Stimme, als hätte ich lauter tote Motten im Mund: «Weiß gar nicht, wovon du redest.»
Sag ich doch, Charakterveränderung, zweiter Beweis! Und außerdem lasse ich jetzt auch schon das Ich weg, wie es sonst nur Ötte tut. Dritter Beweis. Masseltow schiebt sich über die Theke zu mir hin und leckt kurz meine Hand. Er hat ein unverfälschtes Gespür für Notwendigkeiten.
Und Ötte tut etwas, das hat er vor einer Trillion Jahren mal getan, als die Welt noch nicht Kopf stand und ich noch die Mirjam aus einem anderen Leben war, er streicht mir übers Haar, dieses neue Haar, ganz kurz, ganz scheu, ganz sanft, und sagt noch mal: «Mensch, Mirjam.»
Ich schaue weiterhin mit starrem Blick auf diesen Papierkorbständer ein paar Meter entfernt, er enthält himmelblaue Eispapierreste von Langnese, Bananenschalen, leere Zigarettenschachteln, er ist aus einem Metallgitter, er ist verbeult, er ist angerostet, er ist fast voll, er ist ...
«Ich rufe ihn morgen mal an», sagt Ötte.
Und ich liebe ihn. Ich liebe ihn mehr, als ich jemals gewusst habe.
Aber morgen, wann ist morgen? Wie soll ich das aushalten?
Nur mal mit der Ruhe, Mirjam. Nur mal mit der Ruhe!