Freitag hat Lena mich verändert. Samstag hat Arnt mich verändert. Sonntag hat Kristin mich verändert. Und Montag: hat mich das Warten verändert. Das Warten, das Warten, das Warten. Und die Ungeduld. Die Ungewissheit. Die Unruhe.
Und Dienstag hat Ötte mich verändert. Schuldlos, das ist gewiss. Der Bote, der die schlechte Nachricht bringt, das arme Schwein, wird gehenkt.
Ötte tat es selber. Ach, Ötte, hättest du nie was gesagt! Ich weiß, das ist Blödsinn, und Ötte leidet wie ein Tier. Und ich bin schuld. Oder die Umstände. Oder meine Naivität ... oder alles zusammen!
Ich, Mirjam, die Veränderte, sehne mich nach dem vorigen Donnerstag zurück, als ich ein Kind war, als die Welt noch rund war und ich nirgendwo herunterfallen konnte. Jetzt ist sie eine Scheibe, und ich stehe an ihrem Rand.
Bis Dienstagabend um kurz vor sechs bin ich noch Mirjam, die Veränderte, die Wartende, die Nichtwissende. Dienstagabend, so gegen sechs Uhr, halte ich es mit dem Warten nicht mehr aus. Mich zieht es zu Öttes Bude und zieht und zieht ... Aber als ich mich der Bude nähere, kann ich schon aus zehn Metern Entfernung riechen, dass irgendetwas nicht stimmt. Ist Masseltow krank oder Ötte, oder hat es Ärger gegeben mit irgendwelchen Betrunkenen oder randalierenden Halbstarken?
Als Ötte mich sieht, zuckt er zusammen, hebt Masseltow auf die Theke, dreht mir den Rücken zu und tut beschäftigt. Nachdem ich Masseltow zufriedengestellt habe, räumt Ötte immer noch irgendwelchen Kram von rechts nach links und wieder zurück. Sein Rücken ist ein einziges Ausrufezeichen. Aber was ruft er dort, stumm wie der Kater mit einer Maus im Mund? Imperative? Namen, Befehle, Hurra? Mein Gott!
«Ötte», sage ich zaghaft und streichle Masseltow irgendwie mechanisch, sodass er spitznasig meine Hand wegschiebt. «Ötte, sag schon. Ist was passiert?»
Er räumt weiter, das Ausrufezeichen wechselt zu Punkt und Komma, Semikolon und Doppelpunkt mit Anführungsstrichen unten. Er will was sagen. Aber er sagt nichts.
Oh, wie gut ich das kenne! Also muss ich den Anfang machen.
«Ötte», sage ich. «Gab es Ärger? Kann ich dir helfen?»
Endlich dreht Ötte sich um, und sein Gesicht mit den tausend Fältchen ist voller Verzweiflung. «Muss mit dir reden», sagt er. «Komm mal rein!»
Irgendetwas Eisiges greift in mein Herz, und es ist so kalt, dass sich sogar meine Kopfhaut zusammenzieht.
«Schlimm?», frage ich, als wir beide auf den wackeligen Campingstühlen vor dem Resopaltisch sitzen. Kein Kunde weit und breit. Plötzlich weiß ich ganz deutlich, dass es nicht um Ötte geht und nicht um den eigenartig stillen Masseltow oder um irgendwelchen Ärger. Es geht um mich.
«Du musst es mir sagen», flüstere ich, als Ötte immerzu an mir vorbeischaut.
Da gibt er sich einen Ruck, sieht mir direkt in die Augen, und ein Meteorit kracht in meine Ahnungslosigkeit. Und nichts ist mehr, wie es war.
«Hab ihn angerufen, diesen Fotografen.»
Pause.
Wie lange kann ein Herz mit dem Schlagen aussetzen?
«Seine Frau sagte, er arbeitet dran ... An den Fotos.»
Zwei Sätze.
Masseltow leckt mein Knie. Ötte schaut zu Boden. Das maigrüne Kioskdach fällt auf meinen Kopf. Die knallgelben Wände drücken mich auf die Größe eines Insekts. Die himmelblaue Theke rast auf mich zu. Da besinnt sich mein Herz und schlägt wie wild, es läuft mir davon, und ich laufe hinterher.
Ich weiß nicht mehr, wie ich zu Tante Greta gekommen bin. Ich war zwei Tage krank, weil ich fiel und fiel, ich fiel durch die Zeit und durch ein Loch in meinem Leben, und ich fiel durch alle Mirjams, die ich jemals gewesen war, aber irgendwann hörte das Fallen auf. Lena hielt mich in ihren Armen, und Pom saß hinter mir im Bett und stützte mich. Und ich war unendlich froh, dass ich angekommen war. Dass ich bei ihnen angekommen war. Und ich wusste, dass die Welt tatsächlich rund war und ich nirgendwo herunterfallen konnte. Es gab immer einen Boden, der mich auffangen würde.
Ich war aus mir herausgefallen und steil in mich hineingestürzt. Und bin bei mir angekommen. Der Boden war ich selbst. Ich: Mirjam, die Veränderte.
Und: Die Welt ist rund. Tatsächlich. Und: Sie ist noch da. Und ich auch.
Ich darf noch einen Tag «krank» sein, weil dann ja das Wochenende kommt, und das bedeutet, ich habe eine Schonzeit von drei Tagen, um mich von meinem seelischen Schock zu erholen. Als ich wieder bei Pom und Lena war, schlichen sie am Anfang um mich rum wie um einen hoch empfindlichen Laborversuch in einem Reagenzglas, das man auf keinen Fall erschüttern darf. Ich meine, so als wäre ich todkrank und hätte nur noch eine Handvoll Tage zu leben. Lena fütterte mich mit ihren berühmten Lena-Köstlichkeiten, und Pom schaute alle naselang in mein Zimmer, lächelte mit seinem ganz besonderen, sanften Pom-Lächeln zu mir rüber und flüsterte: «Herzenstochter, kann ich dir was bringen? Du brauchst es nur zu sagen, alles ist möglich!» Und dann verschwand er wieder, rührend hilflos und besorgt.
Am späten Sonntagnachmittag ist es genug. Es reicht! Ich habe von mir selber die Nase voll! Ich stehe auf, dusche lange, schminke meine Chinesenaugen mit Wimperntusche und ein wenig Kajal, föhne meine neue Frisur, suche nach Lenas Bluse, die diesen Stehkragen und die vielen kleinen Knöpfe hat, und ziehe meine Jeans über. Diese ganze Zeremonie des Herrichtens und der Gestaltung ist ein Prozess des Wiederfindens von Mirjam, die ich bin und die ich war oder werde, das ist mir völlig klar. Ich tue es sehr bewusst und konzentriert. Irgendetwas in mir will gehegt und gepflegt und wichtig genommen werden, aber nicht mehr krank sein. Damit ist nun Schluss!
Mein Spiegelbild ist okay. Und als ich in die Küche komme, hat Lady das alles schon längst kapiert. Sie sitzt dort und wartet auf mich. Die ganzen letzten Tage war sie nicht von meiner Seite gewichen, aber jetzt ist es vorbei. Würde ich genauer auf sie achten, könnte ich immer schon vorher wissen, wann es mir besser geht.
Lena sitzt am Küchentisch und pinselt an einem kleinen Stück Holz, sie springt auf, betrachtet mich überrascht und freudig und nimmt mich dann mit einem Lächeln, das endlich frei vom Mitleiden ist, wortlos in die Arme. Und ich kann zurücklächeln, zaghaft noch und mit zittrigen Mundwinkeln. Aber: Es klappt schon recht gut. Lady gähnt und gähnt, es sieht fast wie ein breites Grinsen aus.
Lena fragt: «Willst du reden?»
Und ich sage: «Nein. Irgendwann. Später. Bitte!»
Meine besondere Mutter hakt nicht nach, runzelt nicht die Stirn oder tut jetzt so, als nähme sie es locker, obwohl sie tierisch enttäuscht ist. Nein, Lena versteht, und es ist in Ordnung. Sie reicht mir eine Tasse Tee und sagt: «Pom weiß Folgendes: Du bist verliebt. Und: Er hat leider eine andere. Das reicht, mehr braucht er nicht zu wissen, oder?»
Jajaja, das ist genau richtig, Himmel sei Dank! Denn was sollte ich Pom sagen? Was würde Pom von Arnt halten, der ichweißnichtwiealt ist, lange graue Haare hat und dazu noch eine Frau. Gar nicht auszudenken, was er sagen, geschweige denn tun würde, Pom, der beschützende Vater, der gekränkte Vater, der rächende Vater. O Gott, Pom, der Rächer ...
Ja, nicke ich, das ist okay. Denn es ist doch die Wahrheit, eine sortierte Wahrheit allerdings, sozusagen ein Surrogat von einer Wahrheit, verkleinert auf die Größe eines Brühwürfels, in die Form gebracht für Pom. Und für mich.
Pom kommt von seiner Sonntagnachmittagskindertheatervorstellung nach Hause und strahlt so herzvoll, als ich mit Lena in ihrem Zimmer sitze, mit Lady auf dem Schoß, und angezogen bin, dass ich aufspringe und ihn in die Arme nehme. Sein weicher Bauch ist ein warmes, tröstendes Kissen, und wir haben beide Tränen in den Augen und sind verlegen, während Lady um unsere Beine streicht.
«Herzenstochter und Herzensfrau», sagt Pom mit noch etwas belegter Stimme, «was haltet ihr von einer kleinen Tour und einem kleinen Mahl im Grünen?»
Ja, wir halten viel davon! Wir kommen in Bewegung. Wir verteilen uns. Lena packt in der Küche in Windeseile Köstlichkeiten zusammen. Ich ziehe in Windeseile meine Motorradsachen an.
Pom tanzt um uns herum. Mal um Lena. Mal um mich. Dabei klettert er in seine Lederkluft. Die ihm supergut steht, er sieht damit sehr verwegen aus. Und das weiß er auch. Dabei wackelt er mit seinem Bauch und schwingt seinen runden Hintern hin und her. Er brummt mit seiner Bärenstimme, meiner Lieblingstheaterstimme von ihm, immer wieder:
Lena, Pom und Honigkind
fahren in den Wald geschwind,
wo die Zuckerblumen sind.
Die kriegt dann das Bärenkind.
Und er kann so himmlisch brummen und bärentapsig tanzen, dass Lena und ich immer hin und weg sind. Dann ist er einfach zum Knutschen.
O, Pom, du Seehund! Du Bär. Du dickes Wunder.
Und als ich endlich hinter ihm auf dem Motorrad sitze, auf seiner geliebten, alten, tief brummenden BMW, und meine Arme um ihn lege und Lena mit ihren Honigkörben auf ihrem kleinen Motorrad hinter uns hertuckert und der April so wundersam honigsüß duftet, klopft mein Herz, das sich so fest eingeschnürt hat, heftig und befreit. Und ich kann durchatmen. Ich kann mich freuen. Ich bin zurück.
Na, wer sagt’s denn!