Mein fünfzehnter Geburtstag war eine einzige Wundertüte. Ich bin ein Maikäfer, eigentlich sollte ich im Juni kommen, aber der Mai hat mir wohl besser gefallen. Als Achtmonatskind war ich damals so winzig gewesen, dass ich in einen Schuhkarton gepasst habe, wie Pom immer erzählt, aber ich war putzmunter und erstaunlich gesund gewesen.
Jetzt, Mitte Mai, war das Wetter sommerlich schön, und Pom und Lena hatten auf ihren Motorradrunden einen kleinen, verwunschenen Platz an der Ruhr entdeckt. Sie packten alles ein, was zu einer richtigen Geburtstagfeier gehört, und wir ruckelten mit dem Theaterbus über einen schmalen Feldweg. Und dann öffneten sich die Wiesen, und vor uns lag eine kleine Sandbucht, von vielen Bäumen umsäumt und geschützt, genauso, wie ich es liebe. Überall hatte der Frühling sein erstes Grün aufgehängt, und alles sah irgendwie neu aus.
Wir waren zu sechst, Pom, Lena und ich, Tante Greta und Ötte. Und Kristin. Wir hatten noch mal so eben die Kurve gekriegt, auch wenn es nicht mehr so war wie früher.
Diese fünf wollte ich dabei haben, es waren meine liebsten und engsten Menschen. Und Kristin gehörte einfach seit dem Gymnasium dazu. Und wenn es irgendwie gegangen wäre, hätten Lady, Masseltow und Friend noch mitfeiern müssen. Aber Masseltow und noch ein paar Kumpels dazu? So unvorstellbar wie grüne Heringe, die sich falsche Bärte ankleben und a capella singen. Ach shit!
Lena und Pom hatten alles eingepackt, was zu einer richtigen Feier gehört, Kuchen und Kaffee, Saft und Wein und Salat und Krabbenspieße und selbst gebackene Sesambrötchen und Tortilla und Kerzen und Decken und Windlichter und und und ...
Pom machte irgendwann ein Feuer, nachdem Ötte das Holz fachmännisch in Steine eingebettet hatte und es nach allen Indianerregeln zeltmäßig aufgeschichtet war. Die Dämmerung kam und schob die ersten Sterne über den Himmel, und es wurde Zeit für Lenas berühmte, selbst gemachte Baumlichter. Pom holte warme Decken und wickelte uns alle darin ein. Tante Greta und er saßen in Regiestühlen, wir anderen hockten auf Strohmatten im Sand. Dann klimperte er auf der Gitarre seine fünf Lieder, mehr kann er irgendwie nicht, aber ich konnte sie immer wieder hören, wirklich!, und summe mit: Suzanne takes you down to her place near the river ... And you know, she’s half crazy ...
Und dann sang Lena mit ihrer eigenwilligen Rauch-und-Reibe-Stimme ein sehr wehmütiges keltisches Lied, das ich noch nie gehört hatte und das uns allen eine dicke Gänsehaut verpasste.
Aber dann? Dann kam die Sensation des Abends. Ötte war schon die ganze Zeit während der Musik so eigenartig hin- und hergerutscht, er war hibbelig und griff tausendmal in seine Hosentasche und zog die Hand wieder heraus. Und plötzlich, wir fassten es nicht, hatte er eine Mundharmonika an seinem Mund und spielte dieses uralte Kinderlied, das Tante Greta mir so oft vorm Einschlafen vorgesungen hat:
Der Mond, der ist ein Socken,
die Sterne haben Locken,
der Himmel ist ein Zelt.
Die Engel und die Kinder,
das sind die Herzensfinder.
Sie tanzen um die Welt.
Und noch drei weitere wunderbare Strophen.
Ötte spielte es so herzaufweichend, mit eigenem Vorspiel und Zwischeneinlagen, dass ich plötzlich, ohne zu wissen, was ich da tat, mitsang. Die Dunkelheit war schützend, und ich vertraute wohl darauf, dass mich niemand sah und ich unangreifbar war. Tante Greta gab keinen Mucks von sich, sie sagt neuerdings, ihre Stimme sei jetzt zu alt zum Singen, sie sei zu zittrig, was ich nicht glaube. Auch Lena schwieg.
Aber mit diesen besonderen Menschen um mich herum, mit all dem Tingeltangel dieses Sternenhimmels und dem Pomp und Plunder dieses Tages begann ich einfach. Erst sehr leise, aber dann wuchs meine Stimme um diese Mundharmonikatöne herum, sie begleitete sie, machte kleine Pirouetten, erfand tollkühne Umwege, Schleifen und Verbeugungen, sie spielte mit der Melodie, und es wurde mehr und mehr. Ötte und ich, wir konnten einfach nicht aufhören.
Ich hörte uns zu und staunte so am Rande, denn denken tat ich irgendwie nicht, nur fühlen und in mich reinhorchen und in Ötte horchen oder so. Ja, ziemlich genau so!
Dann war es zu Ende. Und Ötte bekam tosenden Applaus. Tante Greta zog mich ganz dicht zu sich hin und legte eine Hand auf mein Haar.
«Mirjam», flüsterte sie. «Das war wunderschön. Mach das einfach öfter, sing drauflos und trau dich. Und wenn es nur für dich ist. Da gibt es viel für dich zu entdecken!»
Das muss ich wohl von Lena haben, dachte ich froh, von Pom bestimmt nicht. Der hat andere Talente.
Pom sagte mit belegter Stimme: «Herzenstochter, wie konntest du das nur vor deinem Lieblingsvater so lange verheimlichen?» Und Lena knubbelte meine Füße und lächelte in mein Herz.
Kristin seufzte und sagte: «Mensch, Mirjam, du bist immer wieder gut für eine Überraschung.» Und da gab es kein Gramm Neid in ihrer Stimme.
Ötte schaute sich die Augen wund nach einem Lob von Lena. Und wartete. Und die schenkte ihm das wärmste Lena-Lächeln, das sie hat, hob beide Daumen hoch und verbeugte sich vor ihm. Ich kletterte mit meiner Decke zu ihm rüber, verhedderte mich und fiel ihm beinahe in den Schoß. Ich knuddelte ihn so richtig durch, bis er quietschte, und dann flüsterte ich in sein Ohr, das bestimmt feuerrot war, so heiß wie es sich anfühlte: «Supersupersuper, du und ich!»
Und laut sagte ich: «Wisst ihr, was Ötte und ich machen? Wir werden ein Masseltow-Lied erfinden und es ihm widmen und vorsingen, zum Geburtstag oder wenn er sich dazu aufrafft, Therapie anzunehmen. Oder wenn er mal einen besonders traurigen Moment hat, unser aller Sweetheart.»
Ich streckte meine Hand aus, und Ötte schlug ein.
Und irgendwann war auch dieser wunderschöne Tag zu Ende. Zu Hause in meinem Zimmer breitete ich alle meine Geschenke auf meinem bunten Teppich aus. Öttes Kassette von den Dire Straits. «Der fünfte Song, Mirjam», hatte er gesagt, «der fünfte Song, da achte drauf.» Ja, ich würde morgen darauf achten, sehr, aber jetzt war ich zu müde. Ich legte den Wickelrock von Lena dazu, der war aus einem sehr eigenwillig gebatikten, ganz weichen indischen Stoff, es war so etwas Ähnliches wie ein Sarong. Und Tante Greta hatte mir dazu drei passende Blusen geschenkt, jede in einer anderen Farbe und einem anderen Stil, alle ganz schlicht und sehr exquisit. Und die neuen butterweichen, knautschigen, graublauen Wildlederstiefel stellte ich daneben, sie passten zu allen meinen Jeans und zu den Röcken, die ich neuerdings für mich erfand.
Ja, und Pom, der hatte den Haupttreffer gelandet. Typisch Pom! Gut gemeint und voll daneben. Aber diesmal war er unschuldig, der arme Kerl. Von Pom bekam ich einen Fotoapparat! Als ich schnell zu Lena blickte, hob sie nur leicht ihre Schultern hoch, das hieß: So ist er nun mal. Er war nicht davon abzubringen.
Es zwickte kurz in mir drin, aber dann war es eigentlich okay. Und ich konnte mich an Poms runden Bauch werfen und ein Danke flüstern, das sogar ehrlich war. Kristin hatte mir ein wildes, kunterbuntes Tuch bedruckt, irgendwie afrikanisch und sehr schön. Tante Greta versprach, mir zu zeigen, wie ich es binden kann, um den Kopf, um die Brust, um die Hüften und überhaupt.
Als ich dann im Bett lag, dachte ich kurz: Okay, Leben. So darf es weitergehen. Fünfzehn ist ein klasse Alter. Ich bin jetzt ein crazy girl, wie Ötte immer sagt. Voll der heiße Backfisch, wie Pom es ausdrückt.
Also, Leben, alles klar? Her mit deinem Geburtstagsgeschenk: Ich hätte es gerne schräg, bunt, spannend, schrill und: crazy crazy crazy!!