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Ja, unsere schräge Musik! Wir sitzen in der Bude und üben. Draußen ist es warm. Und Gott sei Dank ist zurzeit bei Ötte nichts los, es ist diese magische Zeit zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr, die so angenehm luschig und schläfrig ist. Siesta-Zeit eben. Weil die Kunden dann meistens ausbleiben, ist es für uns die geschenkte Zeit, besonders für Masseltow, dem ich immer etwas mitbringe.

Es ist Freitag, und als ich aus der Schule kam, war niemand zu Hause. Pom war mit dem Theater unterwegs oder im Probenraum und bastelte mit Matte an seinem neuen Stück. Lena musste mal wieder die Läden abklappern, die ihre Kunstwerke verkaufen. «Looking for money», wie sie das nennt. Denn wenn ein neues Stück in Arbeit ist, ist das Geld erst mal wieder knapp.

Ich mache mein Essen warm und laufe dann zu Ötte rüber. Masseltow kriegt einen Freudenanfall, er springt in immer enger werdenden Kreisen um mich herum, und dabei dreht er sich noch um sich selber in der Luft. Irrwitzig geradezu. Ich kann da immer nur staunen.

Da tatsächlich nirgendwo ein Kunde zu sehen ist, setze ich mich neben Ötte an sein Tischchen, in Öttes Wasserkocher summt das Teewasser, und Masseltow liegt erschöpft vor Öttes Füßen mit Blickrichtung zu meinen Augen. Ich streichle ihn liebevoll, und er beginnt artig zu knurbeln. Dann gebe ich Ötte die Kassette, die ich in Poms Zimmer gefunden habe, er schiebt sie in seinen Rekorder, und wir hören erst mal rein. Das ist unsere bewährte Reihenfolge. Reinhören, und dann improvisiert Ötte, und irgendwann traue ich mich mit den ersten Versuchen. Nach unseren Standing Ovations an meinem Geburtstag versuchen wir heimlich, Musik zu machen. Wir begleiten Songs, die wir auf Kassette haben, mit Mundharmonika und Stimme. Ich hab nämlich jetzt auch eine, ich meine eine Mundharmonika. Und Ötte ist ein erstklassiger Lehrer.

Früher hatte ich mal Blockflötenunterricht und eine Zeit lang Klavierstunden, weil ich musikalisch bin, wie die Familie feststellte, aber dieser Unterricht nach Noten und festgelegten Melodien und das sture Üben und Nachspielen machten mich verrückt, und ich durfte damit aufhören. Naja, jetzt kann ich zumindest Noten. Aber bei Ötte ist es ein Ausprobieren, ein Suchen und Finden, ein Spielen eben, und es lässt mir Raum, alles, was in mir ist und in diesem Instrument und in der Melodie, zu entdecken. Das macht Spaß!

Ja, Ötte ist ein erstklassiger Lehrer. Irgendwann hat er rumgedruckst und mir ein kleines Päckchen über die Theke geschoben, richtig liebevoll eingepackt, mit Gänseblümchen in dem Schleifenband. Das ist noch so ein Tick von Ötte. Seine Gänseblümchen. Die immer, solange es sie draußen gibt, in einer kleinen Vase auf seinem wackeligen Tisch in der Bude stehen. Ich weiß mittlerweile die besten Stellen in der ganzen Gegend, wo sie in Scharen wachsen und besonders lange Stängel haben. Sie erinnern ihn an Masseltow (!). Irgendwie ..., sagt Ötte. Kann er nicht erklären. Muss er ja auch nicht.

Also, in dem Päckchen ist eine Mundharmonika, eine besondere, eine chromatische. Das bedeutet, man kann auf ihr die Tonart wechseln. Meistens sind sie ja nur in einer einzigen, C-Dur oder G-Dur. Und eine andere Mundharmonika hat er auch noch, die soll ich später versuchen, eine für den Blues, die nennt er «Harp».

Ötte sieht in mein erstauntes, verwirrtes und verunsichertes Gesicht. Ich habe alle meine Unterrichtsstunden am Klavier und mit der Blockflöte vor Augen. Ne, nicht das Ganze noch mal!

«Hab mir gedacht, wer so musikalisch singen und improvisieren kann, der kann das hier vielleicht auch», sagt Ötte. Und: «Muss ich dann nich’ immer so allein spielen. Wär doch irgendwie schön!»

Ja, wäre es, nicke ich und umarme ihn. Seine kleinen, runden Hängebacken sind übersät mit Bartstoppeln und kratzen so schön. Und Ötte wird wie immer so süß verlegen. «Hoffentlich bin ich aber kein totaler Reinfall», sage ich vorsichtshalber, und Ötte meint: «Dann isset, wie et is’!» Einer seiner Lieblingssprüche.

Ötte lässt mich an der Mundharmonika probieren, ich muss ziehen, pusten, saugen, mit meiner Luft spielen und alle Töne rauf und runter entdecken. Und: Bingo! Einfache Melodien gehen ruckzuck! Ich darf nur nicht nachdenken. Ötte klatscht in die Hände. Masseltow hält sich beide Pfoten über seine krustigen Ohren. Ich staune und übe und staune. Ich bin stolz. Ötte ist gerührt. Und Masseltow genervt. Aber da muss er durch. Macht er auch, ohne Fizzematenten, wie Ötte immer sagt. Er ist eben ein richtiger Kumpel!

Ich versuche, die Schlenker, die kleinen Kurven und Verschnörkelungen der Musik, die ich in mir höre, in die Hauptmelodie zu bringen. Beim Singen klappt das schon immer besser, weil ich tatsächlich übe, wenn mich keiner hört, nur Lady oder Friend. Und die ertragen es natürlich ohne Murren und Knurren. Aber auch ohne Schnurren ...

Ötte und ich kommen in Fahrt. Wir üben an schlichten Volksliedern, wir entdecken deutsches Liedgut, so steht es in dem dicken Band aus der Bücherei, da sind Schätze drin. Dann wagen wir uns an einfache Songs aus dem Radio, besorgen uns Kassetten, begleiten die Beatles, Bob Dylan und die Dire Straits, die sind Öttes Favoriten. Und Leonard Cohen, das ist Poms Leib- und Magengericht! Und ich leihe zentnerweise Songbücher aus, und meine Englischlehrerin ist heftig verblüfft über meinen neuen Vokabelschatz.

Wir lernen auch keltische Songs und Songs von Enya und die von Loreena McKennitt, die ich verehre. Sie ist die Kathedrale unter den Songs. Und die Texte von allen enthalten so viel Poesie, die beim Hören früher immer an mir vorbeigerauscht ist, dass ich den Mund nicht mehr zukriege.

«Also, Ötte», sage ich, «das sind ja jede Menge Nebengeschenke, die dabei abfallen. Kusskusskuss!»

Wie immer gerät Öttes Gesichtsfarbe ins Schwanken und pendelt sich so bei blass-erdbeerfarben ein. Er strahlt. «Jau!», sagt er, «wusste gar nicht, dass Englischlernen Spaß machen kann. War nämlich ziemlich öde in der Schule. Eigentlich nur blöder Kokolores!» So: Und er hält beide Daumen nach unten.

Und jetzt studieren wir die Songbücher und lernen und lernen. Aber dann kommt das Allerbeste. Sozusagen der Hauptgewinn. Eine saftiger Sechser im Lotto: Wir entdecken den Blues! Und fast glaube ich, dass Ötte das alles schon vorher gewusst hat. So was weiß der eben. So wie mit den Gänseblümchen. Die so wie Masseltow sind. Irgendwie.

Wahrhaftig! Der Blues! Wir gehen auf Schatzsuche. Ötte sucht und findet: Schallplatten, Fernsehsendungen, alte Zeitungsausschnitte, Fotobände, Dokumentationen und Bücher über die Geschichte des Blues. Wir lesen alles kreuz und quer. Ich suche bei Pom und Lena. Und finde bei Tante Greta.

Dort finde ich eine ganze Menge. Sie kann viel dazu erzählen. Aus ihrer Zeit in Paris, als sie eine junge, erwartungsvolle, neugierige, schöne Frau war. Und der Jazz und der Blues in den verrauchten Kneipen und Kellerbars Einzug hielt. Und so stimmig war für diese Zeit, als man zwischen den Kriegen wild und offen und ausgehungert nach dem Leben war. Und dann alle diese wunderbaren Frauen mit den sagenhaften Kleidern, den üppigen Hüten und den neuen kurzen Frisuren. Und dann diese langen Zigarettenspitzen in den behandschuhten Händen. Bis zum Ellenbogen. Echt Wahnsinn. Und diese wilde Malerei. Dieses Ausprobieren in der Kunst. Die bekloppten, wunderbaren DADA-Texte.

Tante Greta sagt, das war wie ein Rausch, es war, als wäre die Luft um einen herum ständig in Bewegung gewesen, prall und duftend und angefüllt mit sämtlichen Versprechungen, die man als Sehnsucht im Herzen trug. Und sie zeigt mir Fotos von sich und dem alten Paris.

Plötzlich ist da ein Foto zwischen den anderen, das Tante Greta schnell herausnehmen will, aber ich lasse es nicht zu, ich bin neugierig. Da ist sie mit einem Mann an ihrer Seite, der so wild und ungestüm aussieht, so lebenshungrig und lebenssprühend, dass seine Energie einen noch aus diesem alten Foto anspringt. Und wer war dieser aufregende Mensch? Mit Tante Greta daneben? In einem milchigen Flatterkleid und schon damals mit einem Tuch um den Kopf geschlungen, halb Turban, halb Hut, halb was ganz Neues. Und über ihrem linken Ohr eine große Rose.

«Das war eine Kamelie», sagt Tante Greta «du weißt schon, Greta Garbo und dieser Film. Kamelien waren ihre Leidenschaft.» Ich selber habe noch nie eine gesehen, jedenfalls nicht in Echt.

Tante Greta auf dem Foto ist sehr groß, sehr besonders. Sie sieht scheu aus und stark. Eine seltsame Mischung. Und sie ist strahlend. Etwas feenhaft, trotz der Größe. Irgendwie leicht und schwebend. Und dieser handfeste Kerl an ihrer Seite ist eher das Gegenteil. Seine Füße könnten Wurzeln haben, seine Wildheit funkelt in seinen Augen, seine üppigen, dunklen Haare sind frech nach hinten gestrichen, fallen aber ungestüm zurück über die Stirn. Er sieht aus, als ob er dem Leben zuruft: «Komm her! Ich packe dich bei den Hörnern. Und ich reite dich zahm!»

«Wer ist denn das?», frage ich.

«Maurice», sagt Tante Greta. Mehr will sie nicht erklären. Und wie immer weiß ich, wann ich meine Fragen herunterschlucken muss. Aber der wilde Kerl, der hatte was. Mannomann!

Tante Greta hat wunderbare Schallplatten von Billie Holiday, und wir machen es uns bequem, wir erobern ihr Riesensofa, das schwellend und üppig mitten in ihrem Wohnzimmer steht. Draußen vor dem Fenster rauscht die Kastanie, und wir rücken die kleinen Tischchen zu uns hin, damit wir besser an die Kekse und den Saft und den Tee kommen. Wir sitzen uns gegenüber, jeder in einer Ecke, unsere Füße berühren sich.

Und dann beginnt die Musik, und sie fährt mir so heftig ins Herz, dass sich Tränen in meinen Augen sammeln. Und ich verstehe gerade etwas vom Leben, das ich noch nicht kenne, die Musik erzeugt ein starkes Sehnen, ein Ankommen, ein Erkennen, ein Verlieren. Sie ist Trost und Schmerz.

Tante Greta hält jetzt einen Fuß von mir in der Hand und streichelt ihn zärtlich. Als die Schallplatte zu Ende ist und sie aufsteht, um sie umzudrehen, weiß ich, dass das erst mal reicht. Mehr kann ich davon nicht fassen. Ich bin randvoll mit Tönen, sie fallen schon fast aus mir raus, und ich atme tief durch und erzähle Tante Greta alles. Alles, was bisher niemand weiß: das von Ötte und mir. Von meiner Mundharmonika und unserem Üben.

Die Musik gerade macht, dass ich mich traue. Ich habe eine so tiefe Zuversicht in mir durch diese Musik bekommen, dass ich die Mundharmonika heraushole und mich wirklich traue, zum ersten Mal jemandem vorzuspielen, nicht Lady und nicht Friend, nicht Masseltow und nicht Ötte, diesen vier Eingeweihten.

Ich wähle, ohne nachzudenken, den Bob Dylan-Song: Just like a woman. Meine Mundharmonikatöne zittern zu Anfang noch, und wenn ich singe, klingt es flach. Aber dann ist plötzlich das Lied laut und fordernd in meiner Stimme, und ich lasse es zu. Ich schaue auf Tante Gretas wilden, bunten Blumenstrauß auf ihrer Kommode und auf den Blumenstrauß dahinter im Spiegel, ich schicke die Töne hinüber in die Farben, und dann bin ich irgendwo, ich weiß hinterher nicht mehr, wo das war, irgendwo tief in mir drin und ganz weit draußen. Gleichzeitig. So ist das immer mit der Musik, beim Spielen oder beim Singen, wenn ich nicht denke. Wenn ich auf gar keinen Fall denke und nicht im Kopf bin. Nur dann.

Als ich fertig bin, schaue ich zu Tante Greta rüber. Sie sitzt auf dem Sofa und ist sehr still. Sie sagt lange gar nichts. Und ich habe keine Angst, dass sie sich jetzt nur nicht traut, was Unangenehmes zu sagen.

Dann steht sie auf, kommt auf mich zu und nimmt mich in die Arme. «Danke!», sagt sie. Ihre Eulenaugen sind tief und sanft. «Mirjam, das ist ein Geschenk!»

Ich nicke. «Ja, Ötte hat das auch gewusst.»

Tante Greta lächelt. «Ja, Ötte! Ötte ist auch so ein Geschenk! Und du musst einfach üben, immer weiter üben und dich trauen, draufloszusingen. Du musst dich einfach nur trauen!»

Gemacht, nicke ich.

Und Ötte und ich werden uns jetzt mal zusammen trauen. Na, hopp hopp! Es wird Zeit. Denn: Zeit ist auch ein Geschenk. Und du, Billie Holiday, und du, Bob Dylan, ihr seid es sowieso.