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Tante Greta! Ein paar Tage später ruft sie an, ich soll mal vorbeikommen, sie hätte was für mich. Und sie schenkt mir drei wunderbare Dinge: ein Lederband mit Glöckchen, das kann man sich ums Fuß- oder Handgelenk binden und im Takt schütteln, ein Tamburin mit Schellenrand, man kann es einhändig bewegen oder so vors Handgelenk schlagen, dann klimpern alle Schellen. Oder man schlägt den Rhythmus mit der anderen Hand. Und noch eine Kallebasse mit irgendwelchen Körnern oder Samen drin, die rasseln so schön! Gutgutgut!

Sie meint, das könnte den Sound verstärken, und dabei zwickt sie mich ein kleines bisschen in die Nase, so wie früher. Das war immer unser geheimes Zeichen: Du weißt schon, wovon ich rede. Wenn alle anderen um uns herum in irgendetwas noch nicht eingeweiht waren ...

Ich nehme diese Schätze mit zu Friend, den ich in letzter Zeit etwas vernachlässigt habe, seit Ötte und ich den Blues entdeckt haben. Wie immer weiß Friend schon Bescheid, dass ich komme, und erwartet mich. Er ist niemals nachtragend, das schätze ich sehr an ihm, Lady ist da eher eine beleidigte Leberwurst. Ich füttere ihn mit Liebe und mit zwei Frikadellen und einem Brötchen vom Mittagessen. Er ist gerührt und rollt sich satt neben mir zusammen und findet das Leben rund. Finde ich auch.

Ich packe die Geschenke aus. Bei der Mundharmonika hat Friend am Anfang immer etwas gejault, besonders bei den hohen Tönen, aber jetzt ist er schon abgehärtet und macht auf cool. An die Schellen und die Glöckchen und den Schlag des Tamburins muss er sich jedoch erst gewöhnen. Er zuckt heftig zusammen, prescht davon und kommt nur zögerlich zurück und legt sich in einiger Entfernung sehr nervös und wachsam ins Gras. Er beobachtet mich sichtlich verstört und ist nicht einverstanden mit dieser Erweiterung des Musikprogramms. Und als es mich dann auf einmal überkommt, zuckt er heftig zusammen und setzt sich aufgeregt und wachsam hin, beide Ohren spitz nach oben.

Ich muss wohl aussehen wie ein Derwisch. Oder wie das heißwütige Rumpelstilzchen bei seinen Vorfreude-Runden ums Feuer. O ja, ein Feuer wäre jetzt das Schärfste überhaupt! So indianer-like. So schamanenmäßig. Ein richtiges Ritual. Mit Musik. Mit Totemtier. Mit Sonne, Mond und Sternen (jetzt erst mal mit Sonne). Und mit Wasser und Erde. Na klasse, das haben wir doch alles dabei! Und das Totemtier gleich mit dazu. Na, denn mal los!

Ich springe auf wie von tausend ausgehungerten Bremsen verfolgt, immer im Kreis, natürlich um dieses besagte Feuer, ich stampfe heftig auf, wieder und immer wieder, ich liebe es zu stampfen, ich spüre meine ganze Kraft dann in den Beinen, das macht mich lebendig, und es ist, als ob die Erde das auch liebt, sie drückt irgendwie fest zurück, ich trommle, ich rassle, die Glöckchen toben, ich lalle, seufze, schluchze mit meiner Stimme, ich suche Töne ohne Worte, und meine Mundharmonika findet jetzt eine Melodie, sehr fremd, sehr eigenartig und sehr hartnäckig. Es wird zu einem Mantra, es wird ein magischer Singsang, eine Endlosschleife, und zwischendurch pfeife ich durch die Zähne, summe fiepe und singe immer wieder:

HO-A HO-A HO

Heute bin ich froh

Das ist nicht immer so

Das ist nicht immer so

Doch heute bin ich

Doch heute bin ich

Doch heute bin ich froh

Jetzt kommt eine Mundharmonikaeinlage, wild, froh, ziehend, hüpfend, dann das Tamburin, die Kallebasse und immer die Glöckchen. Dann der zweite Teil:

HO-A HO-A HE

Heute tut es weh

Heute weint mein Herz

Da ist ein tiefer Schmerz

Da ist ein tiefer

Da ist ein tiefer

Da ist ein tiefer Schmerz

Dann wieder die Mundharmonika, jetzt in Moll, seufzend, klagend, wimmernd, aber dann mit vollem Karracho die Trommel und der Wechsel ins Frohe, juchhu! Und – rumms – wieder von vorne! Und das annähernd tausendmal! So ganz am Rande streift mich eine Ahnung, was Trance ist. Alles dreht sich. Immer und immer wieder. Innen und außen. Bäume Wasser Hund Ich Steine Wiese Füße Kopf Hände Augen Augen Augen

Und

ich kann nicht

ich kann nicht

ich kann nicht

damit aufhören.

Bis mir die Beine einfach wegknicken. Von ganz allein. Peng! Ich lande auf der Wiese und schaue benommen in einen Himmel, der kreist und kreist und kreist. Ich schließe die Augen, und in dem Schwarz dahinter rast eine buntwitzige Rakete mit hundertachtzig Sachen wilde Achten in mir rum, in den Kurven zischt und sprüht sie, und ich muss mich heftig kneifen, um da irgendwie wieder herauszukommen. Ich liege auf dem Rücken, Arme und Beine weit von mir gestreckt, und so habe ich die Erde und den Himmel und mich dazwischen noch nie gespürt.

Dann leckt Friend meine Hand, lieb und vorsichtig und beunruhigt. Und ich rase mit einem Affenzahn aus dem Universum, in das ich mich weit hinauskatapultiert habe, zurück in Mirjam – plopp! –, die im Gras liegt auf einem Planeten, den man Erde nennt, und lande: in meinem Kopf! Was sagt der prompt?

Jetzt wirste wirklich plemplem!

Na und. War klasse!

Pass nur auf!

Pass DU nur auf!

ICH pass immer auf.

Eben. Ganz schön doof!

Plötzlich dreht sich Friend um und knurrt. Seine Augen schauen angespannt und konzentriert in die dichten Sträucher hinter mir. Und dann höre ich es auch. Ein Knacken und Schritte. Friend steht auf, und seine Nackenhaare stellen sich hoch, meine auch. Guter Hund, gefährlicher Hund. Na, hoffentlich!

Und dann höre ich Applaus! Als ich mich aufrapple, vorsichtig, mit der nun langsamer werdenden Rakete in meinem Kopf, und hinter mich blicke, trifft mich der Schlag. Ich falle vorsichtshalber erst mal ins Koma. Vor Schreck. Vor Peinlichkeit.

DAVID kommt die Böschung herunter, rutscht im feuchten Gras fast aus und stolpert, klatscht heftig Beifall, statt sich abzufangen, und grinst wie ein fetter, satter Kater vor der verbliebenen Mäusesippe im Mauseloch! Ein schräges Katergrinsen. Lady wäre hin und weg.

David! Zwei Klassen über mir. David, der Schöne. Der Unnahbare. David, der Intelligenzbolzen. Der mit der besonderen Aura um sich rum. David, der mit keinem redet. David, das große Geheimnis. Der Schülerzeitungsboss.

Himmel und Hölle und Möwenschiss! Reicht mir eine Tarnkappe! Bitte!

Nein?

Nein!

Öffnet schnell die Erde einen Spalt breit und lasst mich unauffällig darin verschwinden!

Nein?

Nein!

Na gut. Ihr habt’s ja so gewollt. So musste es ja kommen, wenn man so plemplem ist und am helllichten Tag hemmungslos durchknallt. Gut, dann sterb ich eben. (Im besten Alter ...)

Aber ich sterbe nicht! Ich bleibe festgenagelt auf diesem Stückchen Wiese sitzen, erstarrt wie Lots Weib, und denke nur ein einziges Wort, das sich wie die kleinen, ordentlichen Stiche auf Lenas Nähmaschine zu einer Naht reiht, die in die Unendlichkeit führt: Shit-shit-shit-shit-shit ... Friend steht steifbeinig und knurrend an meiner Seite, sein Blick ist wach, aber ich will nichts mehr sehen von dieser Welt, die mich verriet.

Dann steht David neben mir, nein eher so halb vor mir, und sagt: «Beißt er, dein Bewacher?»

«Versuch’s», sage ich.

Ich spreche, also lebe ich! Nochmals shit-shit-shit!

Friend knurrt nur noch anstandshalber. O Friend, von nun an bis in Ewigkeit werde ich dich «Judas» nennen, jawoll! Er legt sich neben mich, hoch konzentriert und wachsam, aber offensichtlich nicht mehr besonders beunruhigt. Meine Beunruhigung dagegen steigt raketenhaft in mir hoch, und statt davonzuzischen, dreht sie ein paar Ehrenrunden in mir drin.

David lacht. Er lacht! Ich könnte schon wieder sterben. Aber man will mich noch nicht haben. Weder im Himmel noch in der Hölle.

Er setzt sich in die Hocke und spricht mit leiser Stimme zu Friend, der ihm zuhört, wachsam zwar, aber das Knurren verstummt. «Hunde sind auch nur Menschen», sagt David. «Ich musste ihm erst was versprechen. Und jetzt gibt er Ruhe.»

«Aha!», sage ich.

Was spricht man mit jemandem, der sich gerade völlig unerlaubt einen sehr intimen Einblick in mein Leben, in mein Ich-Sein erstohlen hat und wahrscheinlich noch zu allem Überfluss köstlich amüsiert ist? Da kann man doch nur tomatenrot oder leichenbleich werden, sterben oder verstummen. Hört man ja immer wieder, dass man bei Schock graue Haare kriegt oder die Sprache verliert oder, wie bei mir jetzt, in diese kindlichen Einwortsätze verfällt, das nennt man kindliche Regression, das hab ich mal gelesen.

Wow, denken kann ich tatsächlich immer noch, aber meine Sprache zeigt bereits alle Anzeichen einer totalen Verblödung. Na, voll genial!

David lässt sich jetzt neben mich ins Gras plumpsen, und mein Herz plumpst in den Kanal. Platsch!

Ich rücke ab, rücke zu Friend, der doch tatsächlich seinen Kopf auf seine Pfoten gelegt hat und nur noch tut, als passe er auf, und mit einem Auge ab und zu blinzelt, so als Pflichterfüllung. Ich wiederhole: Dein Name sei Judas! Von jetzt an!

David sagt nichts mehr. Ich sowieso nicht. Friend schweigt sich aus.

Die Trauerweide flüstert, und der Kanal antwortet. Worüber reden sie?

Soll ich was sagen? Muss ich was sagen? Wieso überhaupt? Er ist doch dran, er ist hier eingedrungen mit der Frechheit eines Honigbärs in eine Honigwabe. Soll ich jetzt etwas kleiner machen, größer, ungeschehen? Kein einziges Wort ist in mir drin. Ich bin leer. Aber voll Empörung, Scham und Pein. Und es ist schrecklich!

«Mirjam», sagt David plötzlich.

Herrimhimmel, woher weiß er meinen Namen?

«Hast du für eine Aufführung geübt? Es hat mich umgehauen!»

Ja, hätte es mich auch. Ein feuerspeiendes Teufelchen mit irren Augen und völlig ausgeflippten Tönen, kreischend, kreiselnd und stampfend und komplett außer sich ... Oha, außer sich! Ich entdecke gerade die Stimmigkeit dieses Wortes. Wow! Ich registriere, dass mein Denken keinen Schaden genommen hat.

«Hä?», sage ich. Na, bravo, Denken wieder zu Hause, Sprache verschwunden. Was soll das hier werden?

«Ich weiß», sagt David, «ich hätte mich bemerkbar machen sollen, aber du hättest mich sowieso nicht gehört. Und ich wollte dich nicht erschrecken. Und: Ich habe so was noch nie gesehen!»

Ja klasse, ich auch nicht. Das war eine Welturaufführung!

«Und noch nie gehört», ergänzt David.

Ich schüttle den Kopf und versuche zu sprechen. «Das war nur so ...», sage ich, und meine Stimme ist rau, das kann von meinem Singen und Kreischen sein, oder auch nicht.

«Du meinst, du hast dir das gerade eben einfach so ausgedacht?»

«So ungefähr. Nein, nicht so. Es ist mir einfach eingefallen. Nicht gedacht. Eingefallen!»

David nickt. «Verstehe», sagt er. «Das erklärt ja auch das Wort einfallen. Es fällt in dich rein, einfach so. War es so?»

Ich bin perplex. So war es. Und man kann mit ihm über Wörter reden. Über meine heiligen Wörter. Ein weiteres Wow!

«Ja, und dann sprang es aus mir wieder raus, rein-raus-reinraus ... so ungefähr», sage ich.

David schweigt. Friend hat sich jetzt völlig entspannt und döst. Ich werde nachher noch ein Hühnchen mit ihm rupfen ... Da öffnet er die Augen, und die sagen: Ja bitte! Ich muss plötzlich lachen. Ich lache, also lebe ich. Ja, ich lebe wieder.

«Hä?», fragt jetzt David.

«Ach, nur so», sage ich.

Die umfassende Konversation zwischen zwei Idioten, komplex dargestellt an diesem Dialog!

Wir schweigen. Aber plötzlich ist es okay, dieses Schweigen. Irgendetwas in mir drin kommt gerade zur Ruhe.

David riecht leicht nach Waschpulver, so ein winziger Hauch davon ist um ihn rum, sein weißes Polo-Shirt ist persilweiß und seine weißen Turnschuhe auch. Seine graue Jeans sitzt perfekt. Er sieht klasse aus. Seufz. Das weiß ich doch! Das weiß doch jeder! Ähem, jede! Ich sehe wahrscheinlich aus wie ein verstrubbeltes Stachelschwein oder eher wie ein zerrupftes Meerschweinchen und dazu noch völlig verschwitzt. Hiiilfe!!

«Mirjam», sagt er da, «ich wollte nicht ... äh ... es tut mir leid. Ich habe nicht gedacht, dass es so privat war. Ich dachte, du übst. Ich meine, so eine Art Probe.»

«Hä?», frage ich. Mehr Wörter scheine ich nicht mehr zu kennen.

«Für ein Theaterstück von deinem Vater», erklärt David.

Himmel, was weiß er denn von Pom? Und er hat nicht Kindertheater gesagt, so wie manche «Kinderkacke» sagen. Kerlokiste!

«Nein», sage ich, «du hast mich voll erwischt! Ich wusste bis vorhin selber nicht, dass ich so durchknallen kann.»

«Tat es gut?», fragt David.

«Jaaa!»

Wir schweigen.

«Mirjam, es muss dir nicht peinlich sein, obwohl ... Also, ich versteh schon ... aber es war ... es war ...»

Nur raus damit, sag´s mir, trau dich, das Leben hat mich soeben hart gemacht, ich werde es verkraften, denke ich.

«Eine Sensation!», sagt David. Und grinst wieder sein fettes Grinsen, hängt es sogar in seine Augen, in diese rabenschwarzen Dinger, die jetzt so schelmisch glitzern, als hätte eine Elster gerade was Funkelndes da reingelegt. Ja, er sagte: eine Sensation!

Na, Prost Mahlzeit, sagt mein Kopf. Eine Sensation. Und glaubst du es?

Ach, gib Ruhe!

Sei vorsichtig, er ist zu schön.

Du spinnst, wenn du denkst, dass ...

Na, dann warte mal ab.

Was soll er schon an mir finden?

Eine Sensation, sagte er doch ...

Du redest Hühnerkacke!

Wir werden sehen ...

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir einfach nebeneinander im grünen Licht der Trauerweide gesessen haben und still waren. Um uns herum war so viel zu hören, das Wasser, der Baum, der sich dem Wind hingab, die Insekten, ab und zu ein paar Rufe oder die Geräusche eines Kanalschleppers, Friends Schlafgemurmel und das leichte Fffffff der Wolken, wenn sie sich mit den Ellenbogen anstießen.

Ich hatte keine Lust und keinen Drang, etwas zu sagen. Und David sagte auch keinen Pieps. Der Kanal floss und floss an uns vorbei und nahm alle meine Scham und meine Verunsicherung mit. Und dieses gemeinsame Stillsein war tatsächlich nicht peinlich. Es war selbstverständlich und irgendwie vertraut.

Irgendwann seufzte Friend tief auf, schüttelte das graue, struppige Fell heftig durch, reckte sich genüsslich, nur um aufzustehen und sich dann zwischen uns zu schmeißen. Wir hatten reichlich Platz gelassen, und nun kraulten wir ihn von beiden Seiten. Und da er nicht mit der Gabe des Schnurrens gesegnet war, brummte er vor lauter Behagen mit den Schnarchtönen eines Großvaters.

Etwas hing zwischen uns, das war still und weich und ruhig, das Wort Frieden würde es am besten treffen. Und er floss in mich hinein wie dicker, süßer Sirup. Das Erstaunlichste war, dass ich auf einmal keine Spur von Beklemmung oder Verwunderung hatte, hier mit diesem David zu sitzen. Und kein Gedanke, ob er mich blöd findet, hässlich, hübsch oder so lala, langweilig oder dumm oder durchgeknallt und was weiß ich noch alles. Und jetzt auch keine Beunruhigung mehr: Das ist doch dieser schöne David, der Besondere, der Unnahbare, der Traum fast aller Girls an unserer Schule. Kein Gedanke!

Ab und zu berührten sich unsere Hände in Friends Fell, und das war weder peinlich noch unangenehm, noch schlug der berühmte Blitz ein. Es war, was es war: eine Berührung unserer Hände im Fell eines Hundes.

Irgendwann stand David auf, gab mir die Hand (!) und fragte: «Darf ich wiederkommen?»

Ich war weder überrascht noch stolz, noch verlegen. Ja sicher, welche Frage. Warum nicht? Und Friend schaute nur hoch, und seine Augen gaben eine klare Antwort: Alles okay.

Nach den anfänglichen heftigen Turbulenzen waren wir in ruhigere Zonen getrudelt, in leichte, wundersame Luftschichten, in denen wir gemeinsam und lautlos herumgeglitten waren. Selbst unsere Landung war uns geglückt. Sicher und mühelos. Erstaunlich. Aber warum auch nicht? Wenn man nicht anfängt, irgendwelches Zeugs hineinzuinterpretieren, war alles möglich.

Als er ging, schauten Friend und ich ihm nach. Das Weiß seines T-Shirts leuchtete noch eine Weile in den Büschen, bevor es verschwand. Ich wusste, meinem Leben war gerade etwas Besonderes hinzugefügt worden. Etwas Magisches war geschehen. Und ich musste es nicht benennen, geschweige denn beurteilen oder gar analysieren. Und noch etwas wusste ich sicher, ohne es überhaupt nur eine Sekunde zu bezweifeln: David würde nirgends und keinem von meinem irrwitzigen Hexentanz erzählen. Ich wusste es einfach. Und mein Herz tobte nicht in mir herum, es war eher so etwas wie ein sattes, zufriedenes Baby. Mein fünfzehnjähriges Herz ruhte sich aus.

Und ich ahnte schon mit einem kleinen Schmerz in mir drin, dass das keine Sache für Kristin und mich werden würde. Keine Sache für unsere Freundschaft. Das machte mich traurig. Und so kam es denn auch. Es war traurig.

Und noch etwas: Ich hatte keine Ahnung, wann David an meinem Platz am Kanal auftauchen würde und ob ich dann da war. Aber es drängte nicht. Ich musste es nicht wissen. Und ich merkte: Es ließ mich frei!

Kristin und ich (Erster Versuch einer Verständigung)

David? Du meinst DEN David?

Ja. Den DAVID!

Waahnsinn! O Gott, ich wär gestorben ...

Bin ich auch!

Ja, merke ich.

Kristin? So blöd ist der gar nicht.

Wer sagt, dass er blöd ist?

Na alle!

Na alle! (Sie äfft mich doch tatsächlich nach!) Das sagen die ALLE doch nur, weil sie es BLÖD finden, dass er sich um niemanden und nix kümmert. Alle bewundern ihn, diesen Einsiedlerkrebs!

Bewundern?

Ja, bewundern. So wie der aussieht. Und schlau noch dazu. Geradezu unheimlich!

Schlau?

Sag mal, hat es dich schon so erwischt, dass du mich nur noch blöd wiederholen kannst?

(Sehr witzig!) Warum bist du so stinkig?

Bin ich nicht!

Na, dann ist ja gut.

Mensch, Mirjam, mach es doch nicht so spannend.

Was?

Nun erzähl schon!

(Nie im Leben, ich merke gerade, dass ich schon viel zu viel ... ich muss doch von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, ich Oberdussel. Nein, Kristin, das wird so nix!)

Mirjam, bis du noch da?

Ja. Er war nett.

NETT? Du hast nicht alle Tassen im Schrank. Du nennst diese süßeste Praline der ganzen Schule, die alle, ich buchstabiere: A-Ell-Ell-E!! vernaschen wollen, diese Konditormeisterklassesahnetorte: NETT?

Hm.

Nun sag schon. Aber bitte nicht NETT! Du hast es doch sonst immer so mit den Worten.

(Na klasse! Hätte ich blöde Socke doch bloß die Klappe gehalten!)

Hat er oder hat er nicht?

Was?

Mensch, Mirjam, hat er dich angemacht oder so?

Weder angemacht noch so!

Hihihi, sehr komisch. Dann ist er ja noch zu haben.

Du kannst ihn haben, liebste Freundin! (Warum sag ich so ein Zeugs?)

Danke, danke, danke! Sehr großzügig. Brave Freundin!

Wahrscheinlich hat er schon längst irgendwo eine ... (Was quassel ich denn da?)

Tausende. So wie der aussieht.

Mhm!

Und deswegen schaut er auch nie eine von uns an, noch nicht mal mit seinen Augenwinkeln. Er wird natürlich irgend so eine Göttin haben. Und die zeigt er natürlich niemandem.

Wahrscheinlich. (Ich rede nur noch Stuss, merke ich gerade.)

Und? Wie geht’s jetzt weiter?

Weiter? Du meinst, nach diesem dreiminütigen zufälligen Aufeinandertreffen irgendwo am Kanal?

(Gut, dass ich alles erst mal so zusammengerafft angedeutet hatte. Gutgutgut! O Mirjam, halt bloß den Mund! Sag gar nix mehr ...)

Habt ihr euch verabredet?

Ne! Haben wir nicht. (Nur so halb. Und doch irgendwie. Aber nein, Kristin, was denkst du denn ...)

(Um dieses ganze Gespräch wächst ein tiefes, hohles Gefühl, das wurzelt in meinem Bauch und rankt sich wie eine ausufernde Schlingpflanze in mir hoch und hat schon mit den ersten Ausläufern mein Herz erreicht. Mein Herz rückt weit von Kristin weg! Dieses komplett blöde, überflüssige Geplänkel, und ich bediene es auch noch, ist ohne Verstehen und Teilen und Austausch. Und ohne Vertrauen, wie ich jetzt merke. Sorry, Kristin.)

Kristin? Ich muss jetzt Schluss machen. Pom kommt gerade nach Hause! (Lüge! Lüge! Lüge!)

Okay. Dann träum mal schön von dieser Zuckerschnecke. Hihihi.

David!! Und ganz nett!! O Mirjam!

(O Desdemona! Hätte ich bloß geschwiegen!)

Kristin? Tschüss bis morgen.

Ja, tschüss, du Glückskind!

Blöder geht’s nimmer! Verdorrich! Ich könnte mich selber in den Hintern treten. Konnte ich nicht die Klappe halten? Fünfzehn Jahre und so blöd wie eine Wäscheklammer!

Kristin und ich (Zweiter Versuch einer Verständigung)

Kristin? Ich muss mit dir reden.

Wüsste nicht, worüber.

Ach, jetzt komm, das weißt du recht gut.

Red doch mit deinem neuen Freund.

Neuer Freund? Wer war denn der alte?

O Mann, du mit deinen Wörtern!

Hm! Kristin, ich war ganz einfach böse auf dich.

Du auf mich, hahaha! Ich lach mich schlapp. Wer hätte denn allen Grund, sauer zu sein?

Verrat’s mir!

Ja, wer erzählt denn seiner besten Freundin: Da war nichts, nicht das kleinste Fitzelchen, und dann steht ihr turtelnd in der Pause auf dem Schulhof. Noch dazu in der hintersten Ecke.

Ich weiß, das ist gemein, da konntest du und die anderen gar nicht richtig sehen, was los war.

Na, sag ich doch. Und ich soll nicht sauer sein!

Ach Kristin, wir haben geredet.

Wir haben geredet.

(Sie äfft mich schon wieder nach, Herrgottnochmal!) Ja, geredet. Menschen haben die Sprache zum Zweck der Konversation erfunden. Klasse. Wusste ich bis eben noch nicht.

Wir haben geredet.

O ja, diese Auster, die nie auch nur ein Sterbenswörtchen an ein anderes sterbliches Wesen richtet, vielleicht höchstens zu Hause an den Goldfisch, und schon mal gar nicht an die kleinen Kinder zwei Klassen darunter, der kann plötzlich reden.

Die!

Hä?

Die kann reden. Die Auster. (Ich bin blöd! Oje, bin ich blöd!)

Und worüber, bitte schön, wenn ich das mal als beste Freundin fragen darf, reden Austern so, ich meine, DIE Austern, wenn sie mal den richtigen Tag oder den richtigen Menschen dafür erwischen? Oder darf ich so was Intimes nicht fragen?

Werd nicht blöd.

Dann sag’s doch.

Wir ... wir haben uns unterhalten.

Klar, nachdem ihr euch zufällig am Kanal begegnet seid und knappe drei Minuten übers Wetter gequatscht habt.

Ja, so ungefähr. (Herr, verzeih mir, sie will es nicht anders haben!)

Mensch, Mirjam!

Du hast ja noch nicht mal zu deiner besten Freundin Vertrauen.

(Genau, genau. Jetzt sowieso nicht mehr ...)

Aber das passt ja auch irgendwie zusammen.

Hä?

Zwei Einsiedlerkrebse: Einsiedlerkrebs und Einsiedlerkrebsin.

(Kristin, du weißt gar nicht, wie gut mir dieses Bild gefällt. Und: Du hast gerade eine Metapher benutzt. Einen richtigen Volltreffer. Congratulations! Ogott, Mirjam, du bist blöd und arrogant!)

Sag was!

Vielleicht hast du recht.

Womit?

Mit den Krebsen.

Himmel, Mirjam, hör auf mit diesen verdammten Krebsen, ich bin stocksauer auf dich!

Du hast doch überhaupt keinen Grund. Wenn einer sauer sein kann, dann doch wohl ich!

Bitte?

Wir wiederholen uns. Ich bin böse auf dich, weil du getratscht hast!

Getratscht? Was denn, bitteschön, wenn es doch gar nichts zu tratschen gab! WIE DU SELBER GESAGT HAST. Drei Zufallsminuten am Kanal ...

(Warum reitet sie auf diesen drei Minuten so rum?)

Ja, aber ...

Was aber?

Die ganze Schule wusste Bescheid, als ich heute Morgen eintraf.

Nun übertreib mal nicht maßlos.

Tu ich nicht. Alle wussten es.

Was?

Na, das mit David.

Klasse, das mit David, das doch überhaupt nichts war.

Eben. Und warum hast du es ihnen dann brühwarm erzählt? Sodass sie uns angestarrt haben und auf irgendwas Sensationelles gewartet haben, wie auf die Ankunft der Aliens auf dem Schulhof kurz vor acht, um herauszufinden, ob sie tatsächlich grün sind oder blau kariert oder den Pimmel auf dem Kopf tragen? (Oh, Kacke!)

Du redest schon von Pimmeln?

Herrgott, Kristin! Ich erzähl dir als Freundin was, und am anderen Tag weiß es die ganze Schule. Du musst ja gestern stundenlang rumtelefoniert haben. Die Leitungen in der ganzen Stadt haben geglüht! (Welcher Schutzengel hat mich davor bewahrt, ihr Einzelheiten zu erzählen? Himmlischen Dank!) Das war peinlich, megapeinlich ...

Wo doch überhaupt nichts war und ihr euch auch deswegen begrüßt habt wie zwei alte Kumpel, die alles voneinander wissen ...

(Mensch, Kristin, manchmal bist du aber doch erstaunlich!)

Und die die Köpfe zusammensteckten, und ich stand doof da.

Du standst doof da? Weil du nicht alles erzählen konntest?

(Oweia! Wie auch?)

Genau! Ach, leck mich doch!

Ne, meine Liebe, das mach ich ganz bestimmt nicht.

Ich lege auf. Und ich ärgere mich schief und krumm, dass ich ein so verblödeter Obertrottel gewesen war und sie angerufen habe. Und dieses Gespräch kann man doch nur auf die Müllhalde kippen. Sowieso, würde Ötte jetzt sagen. Voll der gesammelte Schrott. Hau ihn inne Tonne!