Morgen am Kanal, so um vier, hatte David gesagt. Also war ich dort. Mit zwei Butterbroten für Friend. Und mit Vorfreude auf David.
Aber David kam nicht.
Friend und ich lagen in den tanzenden Lichtflecken unter der Trauerweide und warteten und taten so, als ob wir nicht warteten. Mein Kopf gab sofort sein volles Programm: Schmerz, schrie er, Verrat, wart’s nur ab, du wirst noch an mich denken. Ich wusste schon im Voraus, was er noch so alles draufhatte. Er weiß nämlich haarscharf, wie er mich fertigmachen kann.
Und irgendwann war ich es leid, ich hatte null Bock mehr auf dieses blöde, blöde Spiel, das ich da mit mir selber spielte. «Tschüss, Kopf!», sagte ich laut, und Friend hob seine graue Schnauze, gähnte und blickte in meine Augen. Mach weiter so, Kumpel, sagten sie.
Und ich umarmte Friend. Wir wussten, dass es einen Grund gab, einen besonderen Grund, dass David nicht kam. Und dieser Grund hatte nichts mit uns zu tun. Am allerwenigsten mit uns.
Und was sagte der Kopf? Der blieb still.
Als ich nach Hause kam, saßen Pom und Lena in der Küche über Poms Manuskript für das neue Stück gebeugt und schauten kaum hoch. Sie waren so nah beisammen, dass kein Platz mehr für mich war, und ich zog mich in mein Zimmer zurück.
Lady lag auf meinem Bett und knibbelte mit den Augen. Als ich sie streichelte, begann sie zu schnurren, streckte sich und hielt mir ihren weichen Bauch entgegen. Ja, das war es. Die Lösung. Sie hieß: Vertrauen! Und genau das war doch das Geschenk, das ich mit David bekommen hatte. Sich sicher fühlen. So hatte er es genannt.
«Vertrauen und keine Erwartungen! Dann bist du frei!», dachte ich. Das könnte doch glatt von Tante Greta sein oder so ein Kalenderspruch aus der Bäckerblume! Ich grinste, aber ich glaubte fest daran.
Wenn du da nicht mal schief gewickelt bist, sagte mein Kopf prompt.
Verpiss dich, sagte ich. Verpiss dich und kapier, dass es mit David ganz anders ist.
Und wenn nicht?
Verpiss dich!
Lady sprang auf, als das Telefon klingelte. Ich wusste, dass es David war. Ich wusste es sofort.
Davids Stimme war müde und sehr weit weg.
Mirjam?
Oh, David! Was war los?
Bist du sauer?
Nein!
Wirklich?
Ja!
Oh gut!
–
–
David, bist du noch da?
Es hatte nichts mit dir zu tun.
Ich weiß! David? Ist alles in Ordnung?
–
David?
Nein, es ist nichts in Ordnung.
Oh!
Ich, ich werde es dir erklären. Irgendwann. Wenn ich es kann.
Ja!
Lass mir Zeit.
Ja, sicher.
Mirjam, Danke. Und bis morgen.
Ja, David, bis morgen. Und einen Gruß von Friend.
Ich, ich ... Grüß ihn zurück.
Okay. Okay. Am besten, du sagst es ihm irgendwann selber. Er wird sich freuen ... Und ich mich auch.
Ja, und ich auch. Glaube mir, ich auch.
Als ich kurz vor dem Einschlafen heftig mit meinen Beinen zuckte, hatte ich das gewaltige Gefühl, von einer Brücke in ein tiefes Gewässer zu fallen. Es war nur eine Sekunde, aber ich wusste bereits im Sturz, es würde mich auffangen und irgendwo anspülen. Und es würde ein guter Ort sein.
Vor dem Unterrichtsbeginn am nächsten Morgen sah ich David nur kurz, er nickte mir zu und lächelte. Sein Gesicht war weiß wie Milch, und das schwarze Haar war noch schwärzer als sonst. Seine Augen leuchteten kurz auf, dieses mir schon vertraute Aufleuchten reichte mir. Und es machte mich nicht unruhig, so wie es bei Arnt gewesen war vor ein paar hundert Jahren und ich mich selbst nicht mehr halten konnte. Als mein Körper eine einzige riesengroße Antenne gewesen war, die unentwegt Signale, auch die winzigsten, einfangen wollte, aber nichts als blödes Rauschen empfing. Und die unentwegt Signale hinaussandte und dabei eine mächtige Dauerstörung erzeugt hatte. Eine bitzelige, hoch nervöse Unruhe. Ein brisantes Stromfeld. Naja, lange her ... Ewigkeiten ...
In der großen Pause wartete ich im Schatten der alten Robinie. David kam kurz vor dem Pausenende, legte wieder seinen Arm einen Moment auf meine Schulter, es war mehr als ein Händeschütteln und weniger als eine Umarmung, und ich mochte diese Geste, die ein bisschen scheu und ein bisschen kühn war.
«Mirjam», sagte David.
Ich mochte es, wie er meinen Namen aussprach. Er klang auf einmal so wie das, was er ist: biblisch. Alt. Ehrwürdig. Nie zuvor hatte ich mir diese Art von Gedanken über meinen Namen gemacht.
«David», sagte ich erstaunt, «weißt du, dass wir beide zwei alte, biblische Namen haben?»
Etwas in Davids Gesicht verschattete sich, als wäre eine Wolke über das Licht geglitten, aber es war nur für eine Millisekunde, sodass ich mir nicht sicher war, vielleicht bildete ich es mir nur ein.
«Ja», sagte David, «ich weiß.»
Schweigen.
«Ich habe Samstagnachmittag Zeit. Ich würde gerne mit dir über etwas reden. Treffen wir uns bei Friend?»
Also, dachte ich kurz, ich hätte gesagt, treffen wir uns am Kanal, aber David sagte, treffen wir uns bei Friend. Das rührte mich geradezu. Aber ich konnte nicht kommen. Ich wollte mit Ötte weiter den Blues erkunden und wir wollten ...
«Hör mal, David», sagte ich, «wenn du willst, möchte ich dir jemanden vorstellen, naja, eher zwei, und ich möchte was ausprobieren. Und dann später zu Friend. Ist ja Samstag und Wochenende. Meinst du, das geht?»
David dachte nach. «Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will.»
Von Davids Ehrlichkeit konnte ich noch was lernen! Ich hätte nur blöd höflich und unsicher drumherumgequatscht ...
«Mit dir und Friend, das geht in Ordnung, das ist was anderes, aber noch mehr Menschen ...»
He? Ich war irritiert. «Was hast du gegen Menschen?»
David schwieg. Dann sagte er leise: «Einiges!»
«Oh! ... Aber Ötte ist ein ganz besonderer, alter Freund, den wirst du mögen, und Masseltow ist gar kein Mensch, sond...»
«Masseltow?», fragte David. «Hast du Masseltow gesagt?»
«Ja, ich weiß. Das ist ein seltsamer Name, vor allen Dingen für einen Hund, und es ist jiddisch und heißt ...»
«Ich weiß, was Masseltow heißt», sagte David. Und dann grinste er sein Katergrinsen. «Okay, ich komme. Diese Art von Masseltow muss ich mir ansehen!»
Da beendete der neue Schulgong die Pause. Und auf einmal wusste ich nicht mehr, ob das eine gute Idee war. Das mit Ötte, Masseltow und David und mir. Wir waren immer die Dreierbande. Und nun? Was sollte das werden?
Vergiss es, sagte mein Kopf. Das geht total in die Hose!
Wir werden ja sehen, sagte ich. Wir werden ja sehen.