18

In der Schule am anderen Morgen sehe ich David nicht. Weder vor noch nach der Schule. Und in den beiden Pausen ist auch kein David zu sehen. Ich wage es nicht, Simon zu fragen, der in Davids Klasse geht und den David okay findet. Ich habe Angst vor blöden Bemerkungen. So was in der Art wie: Willst wohl deinen Lover sprechen ... oder: Na, hat er dich versetzt, dein dreamboy und ähnlichen Kram.

Ich habe keine Ahnung, was die Jungs oder gar die Mädels aus Davids Klasse von unserem Zusammensein in den Pausen halten. Irgendwelche Gerüchte machen bestimmt die Runde. Ich weiß, dass es mittlerweile jeder und jede, besonders jede bemerkt hat, sogar Frau Schütte hat uns schon mit großen Augen angeblickt. Keine Ahnung, was sie denkt und was alle so quatschen. David hat nichts darüber erzählt. Aber ich kenne die Boys und Girls aus meiner Klasse, allen voran Kristin, und das reicht.

David, was ist passiert? Bist du gerade dabei, alles zu bereuen? Ich meine, deine Offenheit mir gegenüber, deine Offenheit für meine besonderen Eltern? Und deine Offenheit für Ladys Liebesbeteuerungen? Tut es dir schon leid, dass du dich bei einem crazy girl von schlappen fünfzehn Jahren ausgequatscht hast, einem blöden Babyküken, zwei Klassen unter dir? Hast du das Gefühl, zu viel von dir verraten zu haben, an jemanden, der dich vielleicht verrät?

Plötzlich höre ich David, wie er sagt: Bei dir fühle ich mich sicher ... Und jetzt ist tatsächlich Schluss mit dem altbekannten Geschiss in meinem Kopf. Ich weiß mit Bestimmtheit: Irgendetwas muss passiert sein.

Ich suche in der nächsten Telefonzelle im großen Ruhrgebietstelefonbuch nach Davids Nummer in Essen. Mist, Mist, Mist! Es gibt da über vierzehn Liebermanns. Na klasse! Und jetzt?

Ich beschließe, nach Hause zu fahren, für vierzehn Nummern reicht mein Kleingeld nicht. Und, o Glück, Pom ist zu Hause und weiß Davids Straße. Er stellt keine Fragen, macht keinen seiner besonderen Pom-Scherze, die so oft in die Hose gehen, er blickt nur kurz hoch, als ich ihn in seinem Zimmer finde, er schreibt irgendetwas an seinem neuen Stück und sagt: «Das war die Stremelstraße!» Und schreibt weiter.

Kusskusskusss, Pom!

Ich finde einen Liebermann in einer Stremelstraße und wähle. Keiner nimmt ab.

Gerade als ich enttäuscht auflegen will, höre ich eine Frauenstimme «Hallo?» sagen. Und ich höre einen furchtbaren Lärm im Hintergrund, laute Stimmen, eine helle Kinderstimme dazwischen, Geschirrklappern, einen Radiosprecher, und jemand ruft: «Nimm mal die Milch vom Herd und seid mal einen Moment ruhig!» Und die Frauenstimme schreit: «Verflixt und zugenäht, kann man denn in diesem Haus nicht mal telefonieren ...» Es wird ruhiger. Aha, man kann!

«Liebermann», sagt die Frau. Und um ihre Stimme formt sich das Bild einer runden, vom Kochen und den vielen Menschen um sie herum etwas aufgelösten Frau, ich sehe sie vor mir mit einer Schürze, mit etwas feuchten Haaren in der Stirn, die Haare sind übrigens dick und schwarz, und sie hat energische, sympathische Augen.

«Kann ich David sprechen?», frage ich. Und schnell füge ich noch hinzu: «Hier ist Mirjam. Mirjam Engels!»

«Oh», sagt da die Frau. Und eine Weile nichts mehr.

Im Hintergrund beginnt gerade wieder der Lärm zu toben, und ich drücke den Hörer fester ans Ohr.

«Entschuldigung», sagt die Frau. «David ist zurzeit nicht hier. Rufen Sie doch mal diese Nummer an», und sie nennt mir eine andere Nummer. Und ich ahne nun, dass diese Frau Davids Tante ist und dass sie David zurzeit wohl in der Wohnung seiner Eltern vermutet.

Ich sage «Danke» und «Hoffentlich hab ich nicht gestört», aber da lacht sie bloß, und ich stelle fest, dass ich ihr Lachen mag.

Ich wähle die andere Nummer.

David hebt ab.

«Gut, dass du anrufst», sagt er.

Kopf, hast du gehört? Gut, dass du anrufst, sagt er.

«David, was ist passiert?»

«Meine Mutter», sagt er. «Meine Mutter will nicht mehr leben. Die Klinik hat angerufen, und ich musste hin!»

«Ich komme», sage ich.

Und lege auf.

Da ruft David zurück und sagt: «Nein, warte. Wir treffen uns in einer Stunde am Kanal.»

«Am Kanal», wiederhole ich.

Aus dem Telefon höre ich das Leerzeichen. Da ist niemand mehr drin. So wie in meinem Kopf. Nur sich wiederholende Leerzeichen.

Ich setze mich zu Lady auf mein Bett und nehme sie auf den Schoß. Mir bleibt nichts zu tun als zu warten. Und als ich Ladys warmen Körper fühle, ruckeln sich Kopf und Herz wieder zurecht. Und ich kann wieder atmen. Das hatte ich nämlich fast vergessen.

Ich stehe auf und packe in Windeseile meinen Rucksack: ein paar Leckerbissen für Friend, eine Flasche Wasser mit ein paar Spritzern Zitrone, eine Decke, zwei Äpfel, Kleingeld und ein Taschentuch. Ich gebe Pom einen schnellen Kuss auf seine feuchte Stirn, er schaut gar nicht von seinen Papieren hoch, ich lege Lena einen Zettel auf den Küchentisch:

Bin mit David am Kanal, warte nicht mit dem Abendbrot. KUSS!!,

ich schwinge mich aufs Rad und bin weg.

Wie immer ahnt Friend, dass ich komme, taucht plötzlich neben meinem Fahrrad auf und begleitet mich das letzte Stück bis zur Trauerweide. Seine Augen leuchten auf, als er an meinem Rucksack herumschnuppert.

Ich breite die Decke aus, Friend setzt sich sehr ordentlich darauf und wartet geduldig auf die Schätze, die ich mitgebracht habe: Leberwurstbrote und zwei Hähnchenflügel. Und happ!, ist alles weg.

Ich strecke mich aus, Friend legt sich neben mich, und wir blinzeln in das Geflirr aus grünen, goldenen und blauen Streifen und Flecken über uns, die hin und her zittern, dass man im Kopf ganz schräg davon wird. Irgendwann gähnt Friend, rollt sich zusammen, legt seine graue Schnauze in meinen Schoß, atmet tief durch und macht sich auf den Weg in das Geheimnis hinter seinen Augen.

«Nix da, Freund», sage ich und kraule sein struppiges Nackenhaar. «Ich brauche einen Zuhörer, also wach werden, dalli dalli!»

Friend öffnet gehorsam ein Auge, und das sagt mir unmissverständlich: Leg los! Ich höre.

Aber das andere Auge bleibt zu. Nun gut.

Also schließe ich ebenfalls meine Augen, beide, und erzähle ihm alles, was ich von David weiß. Und was ich nur ahne. Und was ich fühle. Und was ich nicht weiß, aber gerne wüsste.

Friend ist ein guter Zuhörer. Ab und zu leckt seine Zunge meine Hand und gibt mir zu verstehen, dass er meine Gedanken teilt. Und für sich behält. Sowieso!

«Weißt du», sage ich, «mein Herz klopft voller Freude, wenn ich ihn sehe. Aber es zickt nicht in mir rum oder verhaspelt sich oder sprintet davon oder so, falls du verstehst, was ich meine.»

Friend versteht. Auch Ötte hatte das verstanden. Oder? Tante Greta würde das auch verstehen. Pom hat es sofort verstanden, und Lena sowieso.

«Aber ich verstehe das nicht», sage ich. «David ist ein Junge. Ich bin ein Mädchen. Und er ist der Dreamboy aller Girls unserer Schule ... Aber, Friend, das ist genau das, was daran gut ist. Eigentlich! Wir sind uns nah ohne den ganzen kompletten Herzfirlefanz und Stromstoßtumult. Ich wusste bisher gar nicht, dass so was geht. Ich meine, dieses besondere Nahsein zwischen Jungs und Mädchen ohne Verliebtheit.»

Das geht, sagt Friend, ohne was zu sagen.

«Erstaunlich. Aber gut. Und beruhigend. Oder? Sollte ich beunruhigt sein, Friend?», frage ich, weil ich es selber nicht weiß. «Wo doch alle an unserer Schule glauben, dass wir zusammen den Herzkoller kriegen, wenn wir auch nur ein Atom voneinander in der Sommerluft wittern ... Kann das noch kommen? Und ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will. Ehrlich und nicht gelogen», flüstere ich. Ich denke kurz an Arnt und bekomme sofort Herzklopfen. Aber nur kurz. «Also, Freund, kann das noch kommen?»

Friend seufzt. Tief und lang. Als ich die Augen öffne, schaue ich direkt in seine, die sagen: Kann sein. Muss nicht sein. Was willst du haben?

«Keine Ahnung», sage ich, «absolut null Ahnung. Eigentlich ist es mir so, wie es ist, gerade recht. Es ist so, so ... so unaufgeregt. Eigentlich ist es nur aufgeregt, ich meine, angestrengt oder anstrengend, wenn ich denke, was die andern wohl denken. Und das ist doch Kappes, würde Ötte jetzt sagen.»

Kappes, genau, nickt Friend.

Aber dann spitzt er seine Ohren, springt auf und läuft den Hang hoch.

David kommt. Friend springt an ihm hoch, wedelt, bellt und ist ein Hund voller Freude. Das tut David gut, das kann ich sehen. Sein Gesicht ist bleich wie Mondlicht, und seine Augen sind dunkel, schwarz, am schwärzesten.

Ich fröstle und richte mich auf. David setzt sich zu mir auf die Decke, legt kurz einen Arm um meine Schulter und sagt: «Wie gut, dass es euch beide gibt!»

Ich seufze, Friend seufzt, David lächelt ein kleines, zaghaftes Lächeln. Seine Hand auf meiner Schulter ist kalt. Ich nehme sie in meine, lege alle meine Finger um sie und versuche sie zu wärmen.

Ich warte. David muss erst ankommen, und Friend hilft ihm dabei. Die beiden schauen sich lange an, dann legt Friend seinen Kopf auf Davids Knie und verströmt seine unerschütterliche Zuneigung. Er wird sozusagen ein einziges großes Pflaster für Davids erschütterte Seele. (Voll der Kitsch, höre ich Ötte sagen. Mhm, mhm. Kitsch kann ich leiden.)

«Es war heute Morgen», flüstert David. «Ich wollte gerade zur Schule, da kam der Anruf von der Klinik. Meine Mutter hatte versucht, sich die Pulsadern zu öffnen, aber sie wurde gefunden. Sie hatte noch nicht viel Blut verloren, trotzdem war sie nicht ansprechbar. Als ich zu ihr kam, wusste sie nicht, wer ich war. Sie tat, als wüsste sie nicht, wer ich war ...»

Lange Pause.

Ich schlucke an der Bemerkung, sie tat, als wüsste sie nicht ... und will gerade fragen, ob er sich da sicher sei, da tritt David voller Wut vor seine Tasche, dass Friend zusammenzuckte und wachsam wird. «Kann sie nicht einfach Mutter sein?! Eine Mutter! Und nicht diese gekränkte, sich tot stellende, fremde Frau, die einen Mann verloren hat, aber einen Sohn hat mit Fragen und Trauer und Verzweiflung.»

Schweigen.

«Die, die ... die könnten wir doch teilen», sagt er nach einer Weile.

«Teilst du ihren Schmerz?», frage ich und könnte mir auf der Stelle die Zunge abbeißen.

Na bitte: David schaut mich wütend an. «Wie denn? Sie tut so, als ob ich ein Fremder wäre.»

«Und du tust so, als ob sie das alles tut, um dir wehzutun. Vielleicht hat sie ihre Wahrheit und ihren Schmerz und du die deinen!»

David schweigt. «Ich dringe einfach nicht zu ihr vor! Und mit dieser Wut schaffe ich es sowieso nicht.»

Genau, nicke ich. «Wahrscheinlich erwartet sie irgendeinen Zauberspruch von dir, und du erwartest ein Wunder von ihr. Und beide seid ihr gekränkt, dass der andere das nicht liefert ... Vielleicht, vielleicht ist das so», füge ich hinzu, denn sicher bin ich mir nicht. Ich habe da nur so eine Ahnung. «Wart ihr euch sehr ähnlich, dein Vater und du?»

David nickt zögernd. «Aber nur im Aussehen. Mein Vater ist, äh, war ziemlich anders als ich. Offen. Heiter. Aber in den letzten Monaten nicht mehr, da war er völlig verändert, es war, als hätte er alle Türen zugeschlagen, weder meine Mutter noch ich hatten Zugang zu ihm. Er war völlig verschlossen, verhärtet, eingekapselt in etwas, das düster und kalt war. Als wäre er schon in einer Gruft. Und kein Lebenszeichen für uns. Kein Zeichen von Wahrnehmen, von Mitteilenwollen, kein Zeichen mehr von seiner Lebenskraft. Ich habe ihn immer um seine heitere Lebenskraft beneidet.»

«Haben sie sich geliebt?»

David überlegt lange. Zu lange.

Also eher nicht, denke ich.

«Kann sein, kann nicht sein, ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Da war jedenfalls eine Nähe, die sie teilten, Verantwortung, ihre Bildung, meine Mutter half meinem Vater in der Kanzlei. Aber wenn du meinst, ob sie ..., ob sie sich nahe waren so wie deine Eltern, also wirklich Freude aneinander hatten oder sich mal in den Arm nahmen und solche Dinge, dann kann ich nur sagen, davon gab es keine Spur!»

Ich schlucke. «Haben sie dich in den Arm genommen?» Jetzt sitzt etwas Kaltes in meiner Brust wie ein faustgroßes Hagelkorn.

«Nein. Meine Mutter war immer sehr fürsorglich, wenn ich mal krank war. Sie blieb sogar an meinem Bett sitzen. Aber eine Umarmung, einen Kuss, ein Streicheln, das gab es nicht. Von meinem Vater gab es immer diese männlichen Handschläge. Aber ich weiß, also, ich weiß, dass er mich sehr ...» David bricht ab.

«Ich glaube, dass sie eben ihre ganz eigene Art hatten, ihre Gefühle zu zeigen», vermute ich. «Das heißt nicht, dass sie keine Liebe für dich hatten. Oder haben», sage ich schnell. «Manche Menschen können da einfach nicht aus sich rausgehen. Ob sie wollen oder nicht. Ich weiß das von Tante Gretas Eltern. Aber sie hat daraus gelernt und nicht diese Art übernommen. Weil sie gespürt hat, wie schmerzlich das ist. Für beide Seiten ...»

Wir schweigen lange.

«Und du, David, fällst du in dieselben Verhaltensweisen, obwohl du erkannt hast, wie die sich anfühlen? Kalt. Und einsam. Und manchmal verletzend.»

David schweigt. Ich lege jetzt meinen Arm um ihn und drücke ihn an mich. Er ist mein Freund, mein Bruder, mein Vertrauter, mein Gefährte. Ich kann das ohne Zweifel tun. Und David lässt es geschehen.

«Ich habe Angst, dass ich genauso bin. Oder genauso werde», flüstert er.

«Nein!», sage ich mit Bestimmtheit. «Was man erkannt hat, kann man ändern. Also übe. Übe an deiner Mutter. Gib nicht auf. Gib ihr die Kraft und den Trost, den sie jetzt braucht, nimm sie in die Arme, halte sie ... Damit hältst du dich. David, glaub mir, ich weiß es!» Ich weiß es tatsächlich so gewiss, wie die Nacht einen Morgen hat.

Wir sitzen eng nebeneinander, David lehnt sich an mich, mein Arm ist um ihn, ich spüre sein Herz klopfen, seine Unruhe, seine Wut und seine Hilflosigkeit. Und da ist auch eine Sehnsucht nach Trost, nach Nähe, nach Sicherheit und Wärme.

Ich weiß, was mir dann immer guttut. Ich beginne, ihn zu wiegen. Ich wiege ihn in meinen Armen und halte ihn fest. Und als David zu weinen beginnt, legt sich Friend noch enger an ihn ran, und ich wiege weiter, reiche ab und zu mein Taschentuch, halte ihn fest und denke an gar nichts.

Irgendwann schüttelt David sich, richtet sich auf, und ich nehme meine Arme von ihm. Er atmet tief aus und wischt sich das Gesicht ab.

«Mirjam», fragt er, «würdest du mitkommen? Ich meine, in die Klinik. Würdest du?»

Ich würde. Klar, nicke ich. Das geht in Ordnung.

Und mein Kopf ist sofort zur Stelle. Und was schreit er?

Na hoffentlich, Mirjam Engels, na hoffentlich hast du deine Klappe nicht zu weit aufgerissen!

O Gott, das kann sein! Ja, dann Prost Mahlzeit und Gratulation!

Ich bringe David zum Bahnhof, er schnappt sich mein Fahrrad, und ich sitze hinter ihm, denn ich selber kann kein Gleichgewicht halten mit jemandem auf dem Gepäckträger, keine Ahnung, warum. Ich sitze hinter David im altmodischen Damensitz, die Beine zu einer Seite, sie hängen in der Luft, ich zapple und wackle hin und her und genieße Davids blauen Polohemdrücken, der stark aussieht und zuverlässig.

Da der Zug erst in dreißig Minuten kommt, trödelt David durch ein paar Nebenstraßen, und ich entspanne mich, halte mich an ihm fest und gebe hin und wieder kleine Quietschlaute von mir, wenn er einige tollkühne Kurven nimmt.

Und, na klar, wen treffen wir vor der Eisdiele am Bahnhofsplatz? Kristin! Mit zwei Girls aus der Nachbarklasse. Ja supersupersuper. Volle Hühnerkacke!

Sie bekommt eiskugelgroße Augen, winkt dann lässig, und David und ich winken lässig zurück, wobei ich heftig ins Schwanken komme und prusten und quietschen muss.

Als ich mich umschaue, sehe ich, wie alle drei Mädels die Köpfe zusammenstecken und das Ereignis besprechen. Am Bahnsteig sagt David: «Da wird das Telefon heute Abend wieder heißlaufen. Alle Drähte werden glühen!»

Ich schweige. Ich denke an Kristins Tratsch beim letzten Mal. Irgendwie ist das alles lange her und lässt mich sonderbar kalt. Sollen sie doch! Die Geschichten, die sie jetzt erfinden, muss das Leben erst mal schreiben. Oder nicht. Es sind nicht unsere Geschichten. Unsere würde sowieso keine von ihnen glauben.

Ich schaue David ins Gesicht und kann cool, obercool sagen: «Lass sie doch! Das ist doch alles kalter Kaffee ...»

Da kneift David mich kurz in die Seite, grinst und meint: «Sowieso!»

Als der Zug kommt, legt er schnell seinen Arm um mich und sagt: «Bis morgen Nachmittag. Unser Treffen mit deinen Kumpels, das gilt doch noch?»

Ach, du dicker Kaktus, das hatte ich glatt vergessen! Ötte und Masseltow und der Blues. Und unsere Begegnung der dritten Art alle zusammen in Öttes Bude.

«Na klar», strahle ich. «Unbedingt! Lass dich überraschen! Einer der Kumpels ist geradezu überwältigend.» Und ich weiß selber nicht so genau, ob ich jetzt Masseltow oder Ötte meine. Jeder ist überwältigend, beschließe ich daher schnell.

Dann ist David weg, der Bahnsteig leert sich, überall liegen Kippen und Zeitungsfetzen. Der Wind greift sich Papier, Abfallreste, Staub und fegt alles in kleinen Spiralen über die alten, rissigen Steine. Die Sonne ist weg. Vor dem Bahnhof hängt der Himmel wie ein grauer Müllsack über der Stadt.

Ich schnappe mir mein Fahrrad und fahre winkend und breit grinsend noch mal an der Eisdiele vorbei. Na, Girls, da staunt ihr? Dann mal ans Telefon! Aber hopp hopp!

Weil ich noch keine Lust habe, nach Hause zu fahren, mache ich einen Schlenker an Öttes Bude vorbei. Kein Kunde weit und breit. Masseltow sitzt auf der Theke und schaut spitznasig in den diesigen Abend. Als er mich sieht, klopft sein Schwanz heftig sein Bong Bong Bong an die Gläser mit den Zuckerstangen und den bunten Weingummischätzen.

Ich lehne mein Rad an die Seitenwand und rubble Masseltow gründlich und gekonnt durch. Ötte steht hinter ihm in seiner Bude und sagt immerzu: «Na, is’ das nich gut? Na, is’ das nich gut?» Und grinst.

«Komm her», sage ich, «dann kriegst du auch ’ne Portion ab!»

Und Ötte hält mir doch tatsächlich seine Kükenflusen hin, und ich wuschle sie vorsichtig durcheinander. «Mensch, Ötte», sage ich, «ihr zwei tut so bedürftig, als wär ich die Wohlfahrt!»

«Biste doch auch», meint Ötte und bringt seine Flusen wieder in Ordnung. «Könnten wir doch glatt jeden Tag vertragen. Oder, Kumpel?»

Jeden Tag, nickt Masseltow.

«Gut, könnt ihr haben. Und morgen vielleicht sogar im Doppelpack», sage ich zu Masseltow. Ich hebe sein verkrustetes Ohr hoch und flüstere dort hinein: «Du weißt doch noch, dass ich morgen einen Freund mitbringe, he?»

Masseltows Augen schauen unergründlich.

«Und du weißt auch noch, dass du nett sein wolltest, oder?»

Nett?, sagen Masseltows Augen. Wer? Ich?

«DU!», sage ich bestimmt. «Und wehe, du lässt mich im Stich, Freundchen, dann gibt’s Saures!»

Saures? Seine Augen flackern misstrauisch.

«Streicheln fällt dann weg und Leberwurst und Blutwurst und ...»

Masseltow rutscht unruhig auf der Theke hin und her. Er hat verstanden. Okay, okay, krieg die Kurve, sagt er. Ich gebe mein Bestes.

Ich küsse ihn kurz auf die Nase, winke Ötte zu und radle davon.

«Nicht vergessen», rufe ich. «Morgen, um drei. Lasst euch überraschen!»

Mein Herz hat sich erholt. Masseltow ist der reinste Balsam. Und Ötte sowieso. Ich beschließe, zu Tante Greta zu fahren und sie einzuweihen. Ohne David zu fragen, beschließe ich das. Denn Tante Greta muss jetzt sein. Und wenn er sie erst mal kennt, wird er wissen, warum. Ich brauche sie jetzt. Aber sie ist nicht zu Hause.