Zu Hause ist niemand. Selbst Lady scheint nicht anwesend. Ich finde sie weder in meinem Zimmer noch sonst wo. Alles ist ruhig und still. Der Samstag ruht sich aus von der eigenartigen, voll gepackten Woche. Voll gepackt wie ein Wäschekorb mit Bunt-, Weiß- und Schmutzwäsche. Noch nicht sortiert.
Ich suche meine Mundharmonika, plündere den Kühlschrank, finde Bestechungsleckerlis für Masseltow, Gott sei Dank, ich erbeute Reste von Poms geliebter Blutwurst, einen Zipfel Leberwurst und ein etwas angegammeltes Schnitzel, vergessen und ein paar Tage alt.
Ich könnte noch Musik hören, ich könnte Bonjour Tristesse weiterlesen, ich könnte Lady bezaubern, die plötzlich von irgendwoher auftaucht, Mathe üben (auf keinen Fall ...), ich könnte mich auf den Balkon setzen, die Augen schließen und versuchen, ruhig zu werden. Es gelingt einfach nicht.
Ich packe alles ein, was ich brauche, und beschließe, durch den Tag zu radeln. Und um drei werden David und ich bei Ötte sein! Mal sehen, wie wir die Begegnung der besonderen Art hinkriegen. Drei Menschen und ein Hund. Drei besondere Menschen und ein sehr besonderer Hund.
Und der Blues. Und der Sommer.
Und ein Problem. Ein dickes. Oder mehrere. Bei Masseltow weiß man nie ... Voll das Leben eben. Volles Programm Buntwäsche. Mit Flecken und Schweiß und Grauschleier. Und mit Schleudergang.
Die Sonne hat über dieses mickerliche Tröpfeln heute Morgen gesiegt. Es ist warm und dunstig mit diesem sanften, milchigen Licht. Ich habe zum Glück meinen Fotoapparat eingepackt und radle zum Schlosspark, dort kenne ich so ein paar verwunschene Orte, Feenorte. Ich werde nachsehen, was dieses Licht mit ihnen macht, vielleicht gibt es ein, zwei Momente, die ich einfangen kann, ein paar Feen, die bereit sind, mit diesem Licht zu tanzen und dabei in meinen Apparat zu lächeln.
Ich entdecke kleine Zauberbilder, zwei Tauben, die im Gegenlicht auf der Schlossmauer turteln, ein spielendes Kind, völlig versunken am Rand des Schlossteichs, hinter ihm eine neugierige, den Hals reckende Ente, die alten, ausgebleichten Bohlen der kleinen Brücke mit dem schiefen Geländer und den Spinnweben zwischen den Holzpfosten, die verstreuten Abfallreste um einen umgekippten Abfallkorb, mittendrin ein glitzerndes Bonbonpapier, als hätte das alles jemand im Gras hübsch angeordnet, und immer wieder das Licht-und-Schatten-Spiel unter und zwischen den Bäumen.
Und dann, ich wusste nicht, dass ich sie wirklich entdecken würde, eine tanzende Gestalt in einem breiten Streifen Licht, das schräg durch das Laub fällt, und mein Auslöser kommt vielleicht eine Millisekunde zu spät, und vielleicht war es nur Zigarettenrauch, der im Licht schwebte, vielleicht nur meine sehnsüchtigen Mirjam-Augen, vielleicht aber wirklich und wahrhaftig eine Fee ... Ich werde warten müssen, was das Foto zeigen wird. Warten? Würg! Stöhn! Seufz! Warten konnte ich noch nie!
Ich erschrecke, es ist kurz vor drei, David wird am Bahnhof stehen, und ich Trödelschnecke vermurkse den Nachmittag. Mit Feen. Ausgerechnet mit Feen. Ich bin doch schon am Durchknallen!
Ich spurte los, radle so schnell ich kann, ich japse, weil diese Luft schwer zu atmen ist, ich beschwöre David zu warten, dann sehe ich ihn vor dem Haupteingang und schreie: «Hier! Hier bin ich!»
Und David winkt. Er hat sein Rad mitgebracht, das ist weitsichtig von ihm, wir fahren nebeneinander, schauen uns hin und wieder an und lächeln. Er ist blass wie immer, sein grünweißgeringeltes T-Shirt zu seiner weißen Jeans gibt ihm aber etwas Freches, Lebendiges, es steht ihm teuflisch gut. Sein Rabenflügelhaar glänzt in der Sonne.
Als wir uns Öttes Bude nähern, gebe ich ihm ein Zeichen. Wir halten an.
«David», sage ich, «bleib mal hier und warte. Dort drüben, dieser kunterbunte Kiosk, das ist Öttes Bude. Ich will dir Ötte vorstellen und Masseltow, aber ich muss erst einige Vorbereitungen treffen. Weil ... weil, naja ... Masseltow ist ein etwas schwieriger Kumpel! Lieb ausgedrückt ...»
Mehr will ich nicht verraten. Hoffentlich kann David Hunde leiden, Katzen waren ja nicht so sein Ding gewesen. Aber dann fällt mir Friend ein, ich bin tatsächlich schon wieder dabei, mir überflüssige Sorgen zu machen. Das hab ich echt gut drauf. Das ist eine Begabung von mir!
«Masseltow macht Probleme?», grinst David, der ein tierisches Vergnügen an diesem Namen hat, aber noch nicht weiß, dass sich dahinter ein überaus komplizierter Hund verbirgt, dessen einziges Glück (Masseltow eben) Ötte ist. Und ich. Ich auch. Vielleicht irgendwann auch David ... so Gott, nein, so Masseltow will.
«Wart’s ab», sage ich vage.
Ich lasse David stehen und nähere mich Öttes heiligem Ort. Keine Kundschaft. Na, das ist ja wohl ein gutes Omen!
Masseltow wittert meine Ankunft, springt an der Theke hoch und winselt entzückt mit einem wissenden Blick auf meine Tasche mit dem Bestechungsgeld. Ötte hebt ihn hoch, und jetzt tänzelt er auf seiner Bühne, seine spitzen, harten Krallen ratschen über das Holzbrett, das schon viele tiefe Spuren trägt.
Ich kraule und kraule und gebe mein Bestes, Ötte zwinkert mir zu und reckt seinen dünnen Hals nach draußen, um einen Blick auf meinen «Freund» zu werfen, aber David steht in einem gebührenden Abstand im Schatten, kaum zu erkennen. «Masseltow, du allerbester und schlauster Kumpel», schleime ich mich ein, und Masseltow blickt skeptisch, er durchschaut mal wieder alles! «Ich habe die feinsten Leckerlis der Welt für dich, damit du satt bist und meinen neuen Kumpel nicht als Appetithappen verspeisen wirst. Und ein bisschen Freundlichkeit wäre auch allerliebst, du verstehst?»
Masseltow versteht. Erst die Leckerchen, sagen seine dunklen Augen.
«Und dann? Was geschieht dann, du Freude meines Herzens?»
Keep cool, Baby, werde seh’n, was sich machen lässt ... Zu mehr ist Masseltow nicht bereit.
«Okay, Sweetheart», sagt Ötte und nimmt Masseltow auf den Arm. «Mirjam holt jetzt diesen schönen Unbekannten, und du zeigst deine Sonnenseite, die unser aller Herz erfreuen wird. Gebongt?»
Gebongt!, nickt Masseltow.
O Freude, schöner Hundekuchen!, juble ich. Ich gehe zu David rüber und reiche ihm die Judas-Leckereien.
Er zieht eine Augenbraue hoch, lächelt und meint: «Ist das dieser wundersam hübsche Köter da drüben, den ich bezirzen soll?»
Ich nicke beklommen. Das Wort «Köter» muss David sofort und auf der Stelle aus seinem Wortschatz streichen. Ich sage es ihm.
Er grinst. «Aye, aye, Sir. Ich habe kapiert. Diese strahlende Schönheit hat ein überaus empfindsames Gemüt, wenn ich das recht verstanden habe. Ein Fall für Freud und Jung und Adler zusammen, hab ich recht?»
Hast du, nicke ich. (Wer ist Adler?)
«Aber seine verwundete Seele ist reinstes Gold», hauche ich noch, als David schon in langsamen Schritten auf die Bude zugeht, die Wurst und das etwas schleimige, klein geschnittene Schnitzel in seiner Hand. Er wedelt damit sachte durch die Luft, damit diesem Ungeheuer schon mal das Wasser in seiner grottenhässlichen, giftzahnvollen Schnute zusammenläuft.
O Masseltow, verzeih mir!
David ist mit allen Wassern gewaschen, ich staune.
Schnell gehe ich ein paar Schritte voraus, stelle mich vor die Theke und warte. Ötte hält die Luft an. Ich halte die Luft an. Der Sommerwind hält die Luft an.
Masseltow sitzt kerzengerade, seine Nase und seine Augen sind unruhig, aber voller Konzentration. Er fängt an zu knurren. O shit shit shit!
David bleibt stehen. Ich schlucke. Ötte flüstert Masseltow was ins Ohr. Masseltow stutzt. Er ist still. Er wartet. David ist jetzt unschlüssig, was er tun soll. Kann er dieser verschütteten Seele im Kostüm einer Bestie seine Hand reichen?
Er kann.
Ötte staunt. Ich staune. Und Masseltow staunt auch. Da kommt ein Wildfremder daher, trägt wunderbare Köstlichkeiten in seiner Hand, hat eine Stimme wie Milch und Honig und streichelt damit Hund und Herz und Bestie. Und Bad Dog, was macht der? Er kapituliert. Kein Knurren, kein Gelbe-Todeszähne-Zeigen, kein teuflisches Gebell, nur ein tiefer Seufzer, ein tiefer Blick: Mach nicht so eine Show, Fremder! Rück endlich die Leckerbissen raus, aber dalli dalli, hopp hopp. Verstanden?
David hat verstanden, fast könnte man ihn Der-die-Bestie-versteht nennen. «Alles klar, Kumpel? Du darfst David zu mir sagen. Ich weiß, du heißt Masseltow. Ein ehrenvolles, jüdisches Wort. Genau richtig für so einen Hund wie dich. Denn es ist höchstes Glück, dich zu kennen. Ich meine, zu erkennen. Danke, dass du das zulässt!»
Masseltow legt den Kopf schräg und hört aufmerksam zu. Kein falscher Klang in der Stimme dieses Fremden. Genug der Worte, sagen jetzt seine Augen. Lass Taten folgen!
Die Taten folgen auf dem Fuß, nein, aus der Hand. Vorsichtig reicht David die Blutwurst über die Theke.
Masseltow schnappt sie sich, bevor dieser Fremde es sich anders überlegt. Aber er schnappt sich nicht Davids Hand als Zusatzangebot. Mehr, fordern seine Augen. Er kriegt mehr. Es ist ja noch genug da.
David ist geschickt, er gibt kleine Stückchen, Masseltow soll glauben, es wären ganze Berge an Leckereien, die er verteilt. Was er aber bestimmt nicht glaubt. Er ist ja nicht blöd. Aber das Spiel gefällt ihm. Er spielt mit.
Doch irgendwann ist Schluss. Masseltow wartet. Wir warten.
«Das war’s, Kumpel», sagt David. «Ich kann dir nur noch Streicheln zum Nachtisch anbieten, und mein Nachtisch hat sieben Sterne, wenn du verstehst, was ich meine ...»
Masseltow versteht. Sieben Sterne?, fragen seine Augen. Nicht gekrückt und nicht gelogen? Na, dann leg los, Fremder! Gib alles!
Er beugt ein klein wenig seinen struppigen Hals mit den verkrusteten und kahlen Stelle Davids Hand entgegen, und David serviert ein First-class-sieben-Sterne-Michelin-Dessert.
Masseltow hält still, genießt und ist überzeugt: Dieser Fremde ist okay. Gebongt.
Ich könnte jubeln und Masseltow mit äquatorlangen Würsten umkränzen. Ötte hat kugelrunde Augen und staunt. Seine große Liebe hat ihm wieder mal eine neue Seite seines unergründlichen Herzens offenbart. Er küsst Masseltow gerührt auf die Nase, hebt seine Pfote, schüttelt sie und sagt stolz: «Danke, Kumpel, du bist der beste Freund der Welt!»
Sowieso, sagt Masseltow und gähnt. Dann springt er von der Theke, rollt sich unter dem Campingtisch zusammen und schläft. Oder tut so.
Wir schweigen einen Augenblick. Einen wundersamen Moment lang gibt es nichts zu sagen. Wir stehen beieinander, und alles ist richtig. Dann streckt Ötte seine Hand über die Theke, reicht sie David und grinst. «Bin Ötte», sagt er.
«David», grinst David zurück.
Sie schütteln sich auf Männerart die Hände, und es ist besiegelt: Der Freund von Mirjam ist okay, denkt jeder von ihnen.
Wir schauen uns um. Keine Kundschaft weit und breit. Sollen wir ...?, fragen Öttes Augen. Lass es uns versuchen, blinzle ich zurück und krame in meiner Tasche nach meiner Mundharmonika. David zieht erstaunt eine Augenbraue hoch, sagt aber nichts. Naja, bei unserem ersten Aufeinandertreffen hat er sie ja schon gehört. Meinen wilden, ungezähmten Hexentanz hat er bestimmt noch nicht vergessen, unterstützt durch meine improvisierte Mundharmonikabegleitung.
Ötte holt drei Hocker aus der Bude, und wir setzen uns davor, in die Sonne.
Mensch, Ötte, du wirst mir langsam unheimlich, du wirst ja geradezu tollkühn. Wenn uns jetzt einer hört?, denke ich.
Null Problemo, zwinkert Ötte.
«Na denn, mal los!», sage ich.
David rückt seinen Hocker ein wenig zurück in den Schatten.
Und eins und zwei und drei und vier. Ötte beginnt. Er steht auf, und im weichen Licht leuchtet sein Kükenflaum, er zieht mit seiner Mundharmonika den Tag in die Länge, die Töne hängen einen Moment in der warmen Luft, schillern wie Seifenblasen und zerplatzen in meinem Kopf. Sehnsucht, Sehnsucht, Sehnsucht, flüstern sie.
Diesen Blues haben wir noch nicht lange im Programm. Meinen Part kann ich so recht und schlecht, aber was soll’s. Ich werde keinen Zipfel eines Gedankens mehr an dieses Geschiss verschwenden! Ich summe die Melodie, bevor ich zu singen beginne, mein Summen kann sehr kräftig ausfallen, es ist mein ganzer Stolz.
Ich schaue in das Licht unter den Linden, doch dann sehe ich die weiten gelben Felder unter einer heißen Sonne vor mir, ich schaue mich weit fort an einen anderen Ort, ich singe diese Zeilen, die den Sommer loben, die Früchte, den Mond und den warmen Regen, ich singe die unerfüllte Liebe einer jungen Frau, die wartet und wartet, obwohl ihr Herz längst erkannt hat, dass der Liebste eine untreue Kartoffel ist. Eine untreue Kartoffel, jawoll!
Ich liebe solche Texte. Ich höre, wie eine schwarze Frau voller Liebe und Geschimpfe ihre Trauer und ihren Zorn ausdrückt. Ich liebe die untreue Kartoffel, also, nicht die Person, nein, die bestimmt nicht, aber diese Metapher, sie ist doch einfach zu komisch und stimmt genau. He, Mirjam, was weißt du schon von untreuen Kartoffeln? Keine Ahnung. Aber ich weiß das alles, wenn ich davon singe.
Dann bin ich dran mit der Mundharmonika, Ötte übernimmt den Gesang, und David richtet sich kerzengerade auf. Ich verschlucke mich ein wenig in der Melodie und holpere zwei Takte, aber dann bin ich wieder drin.
Ja, David, da kriegst du große Augen – ich meine Ohren! Ötte, der singt, ist einfach eine Wucht in Tüten. Mein Ötte. Ich bin gerührt, und ein Schluchzen schleicht sich in meine Töne.
Ötte, die untreue Kartoffel, singt jetzt eine Handvoll spöttischer Worte, welche die schwarze Schönheit in den Wahnsinn treiben, hier müsste jetzt jemand die Musik übernehmen, hier müssten wir jetzt so ein Durcheinander-Duett schluchzen und spötteln, aber das schaffen zwei nicht! Wir umkreisen uns noch einige Takte, Gesang und Mundharmonika, dann ist es vorbei.
Masseltow hockt auf der Theke – wo kommt der denn plötzlich her?
David sitzt wie angenagelt auf seinem Hocker, der Wind spielt mit meinem Rocksaum und hebt ihn einen kecken Moment in die Höhe, Ötte räuspert sich und schaut in die Wolken. Ich schaue auf David. Wir warten.
Warten, bis David uns beide anschaut. Seine Augen sind noch schwärzer als sonst. Geht eigentlich gar nicht, ist aber so. Er steht auf und umarmt Ötte, dann ganz lange mich. Und ich könnte schon wieder heulen. Das ist jetzt schon so was wie mein Standardprogramm.
Aber Masseltow rettet die Situation und winselt: Hehe, vergesst mal nicht euren besten Kumpel, und Ötte wendet sich verlegen ab und kümmert sich um ihn.
David sagt: «Gratulation, ihr beiden!»
Und Ötte dreht sich grinsend um und sagt: «Is’ mir eine Ehre!»
Und was sagt Mirjam? Gar nichts. Mirjam sucht in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und strahlt.
Von irgendwoher ruft eine Frauenstimme: «He, ihr da unten, könnt ihr nich’ noch so’n bissken watt drauflegen?»
Und ich suche erschrocken nach ihr, da sehe ich sie. Sie ist schon mindestens sechzig oder mehr, aber ich verschätze mich immer, sie hat ein dickes Kissen auf ihrer Balkonbrüstung liegen und ihre dicken Arme darauf verschränkt wie Frau Suhrbier in einer Ruhrpott-Komödie, ein, zwei, drei Lockenwickler hängen schief über ihrer Stirn (ich schwöre), und sie winkt. Und ich glaube, sie würde sogar glatt ein paar Groschen locker machen, sie in Zeitungspapier wickeln, so wie früher, als Tante Greta noch jung war, und nach unten werfen, für uns Musikanten.
Ich bin verlegen, ich bin gerührt, ich winke und brülle: «Okay, wird gemacht!»
Und Ötte schreit: «Alles paletti! Nur noch ’n kleinen Moment.»
Wir müssen erst mal überlegen, aber in den Häusern gegenüber quängelt die Frauenstimme jetzt hartnäckig und fordernd: «He, ihr da unten, kommt ma’ inne Pötte. Ziert euch nich wie ’ne Jungfrau.»
Und dann spielen wir unseren What-a-wonderful-world-Blues. Und es gibt Applaus. Neben der Dame thront jetzt ein spindeldünnes Männchen im Unterhemd mit Zigarette. Das strahlt und ruft: «He, ihr Schätzekes, ihr seid ja so richtige Ruhrpottperlen!»
«Sowieso!», schreit Ötte begeistert zurück. «Das geht runter wie’n kühles Dortmunder», sagt er und winkt heftig. Aber da kommt ein Kunde, und Ötte muss arbeiten.
Als wir wieder vor der Bude sitzen, Ötte und David mit einem Bier, ich krieg ’ne Limo, da sagt David plötzlich: «Hätte ich doch bloß meine Klarinette dabei ...!»
Ötte zieht scharf die Luft ein, ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke, ich kriege den Mund nicht mehr zu, schaue wahrscheinlich aus der Wäsche wie ein dämlicher Karpfen auf der Fischtheke kurz vor Ladenschluss, aber David übersieht das alles und sagt: «Also, wenn ihr wollt, nur wenn ihr wirklich wollt natürlich, könnte ich euer Duo noch ein bisschen aufpeppen. Natürlich nur an den Stellen, wo es passt ...»
Natürlich. Natürlich. Natürlich. Hat er einen Knall?
Ötte fasst sich als Erster. «Mensch, Kumpel, ich werd nich mehr, das wär allererste Sahne, sozusagen die Kaffeekrönung, ich fass es nicht!»
Er scheint es tatsächlich nicht zu fassen. Ötte hat gerade ich gesagt. Zweimal! Er muss wirklich ganz aus dem Häuschen sein.
Und ich? Ich bekomme Herzklopfen und kleine Schweißausbrüche. Meine Mundwinkel kriegen einen Dauerkrampf, weil sie immer nach oben lächeln, ich kneife David in die Seite, ich nicke, bis mir fast der Kopf vor die Füße fällt, und kann es nicht glauben. Ich glaub es einfach nicht. David und die Dreierbande. Davids, Öttes und Mirjams Bluesband. Mit Masseltow. Als Go-go-Girl, ähem, Go-go-Dog. Wir, die crazy dogs! Die crazy dogs?? DIE CRAZY DOGS!!
Holla, die Waldfee! Ein Name wurde gerade geboren. An einem Samstag um kurz nach vier. Und: Das würde ein Fest geben! So viel steht fest!
Das Leben! Das Leben: Schmutzwäsche rein. Drehen. Drehen. Schleudern. Wäsche raus. Sauber! Ich fass es nicht. Das Leben ist wirklich nicht zu fassen. Aber manchmal, in besonderen Momenten, so wie gerade jetzt, ist es zum Knutschen.
Am Bahnsteig stehen wir eine Weile schweigend nebeneinander, David lehnt an seinem Rad, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er könnte noch mit zu mir nach Hause kommen, aber er will nach Essen, seine Tante hat irgendwas Wichtiges mit ihm zu besprechen, und es sieht so aus, als ob ihm das quer im Magen liegt.
Und morgen, morgen werde ich nach Essen fahren, um mit David nach seiner Mutter zu schauen, ich habe fest zugesagt, ich würde es gerne noch schnell rückgängig machen. Ich würge an den passenden Worten, da kommt auch schon der Zug, David nimmt mich kurz in die Arme, klettert mit dem Rad in den Gang zwischen den Abteilen, meine Worte hängen irgendwo fest, ich winke verkrampft, und in meinem Magen toben die schwarzen Vögel. Die kenne ich schon.
Der Zug verschwindet, und ich könnte fluchen und heulen und mich auf die Schienen schmeißen. Würde das was helfen? Nein? Gut, dann werde ich jetzt krank. Auch nicht? Nun, wenn ich nicht krank werde, dann sterbe ich eben. Das ist immerhin die beste Ausrede, die ich je hatte. Haha!
Als ich mich in die Wohnung schleiche, sitzen Pom und Lena auf dem Balkon, sie freuen sich, dass ich da bin, und stutzen, als sie mein Gesicht näher betrachten. Pom steht auf, die Zeitung rutscht von seinem Schoß, Lena fängt sie geschickt auf, er nimmt mich in die Arme und hält mich einfach fest.
Ich flüstere: «Ich soll mit zu Davids Mutter, aber ich kann das nicht!»
Und mein Vater sagt nur sein «Schsch, schschsch, mein kleine Krokusknospe, schsch ...!»
Lena stellt sich dazu, sie halten mich fest, mir kann nichts passieren. Ich werde nicht sterben, beschließe ich. Nicht mit diesen Eltern. Nicht mit fünfzehn Jahren. Nicht in diesem Sommer.
Wir sitzen noch lange auf unserem Balkon.
«Mirjam», sagt Pom. «Du musst nichts hinkriegen morgen! Das Hinkriegenmüssen macht dir viel zu viel Druck. Nix da! Geh einfach mit David zu ihr, sei an seiner Seite und lass alles auf dich zukommen!»
«Du schaffst das schon!», sagt Lena wie heute Morgen Tante Greta.
Fast kann ich es glauben.
Und in der Nacht träume ich, dass ich Davids Mutter, die so groß ist wie eine Barbie-Puppe, in Ladys Körbchen lege und in die Sonne stelle. Und Lady leckt sie zärtlich ab.
Na, was ist davon zu halten?