21

Am Sonntagmorgen scheint die Sonne. Ich finde Sonne heute voll bescheuert. So weit zu meinem Zustand, als ich aufwache.

Pom würde mich nach Essen fahren, aber er hat einen Auftritt in Coesfeld, bei dem heißen Wetter, mitten in der Fußgängerzone, und er ist mürrisch und flucht und stänkert rum. Wenn er so drauf ist, lassen wir ihn alle am besten in Ruhe und bewegen uns ganz vorsichtig um ihn herum. Das weiß er zu schätzen. Ich trödle rum, ich weiß nicht, was ich anziehen soll, ich probiere unentwegt Sachen aus, mein Kleiderschrank ist irgendwann leer und mein Zimmer das reinste Schlachtfeld. Aus Langeweile putze ich das Bad, und als Matte kommt, bin ich unendlich froh, dass er da ist und mich ablenkt. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Matte mag ich sehr.

Als ich in die Küche komme, staune ich nicht schlecht. Mattes lange Haare sind auf die Hälfte gekürzt, sein T-Shirt hat keine Flecken, und es hat nicht die wohngemeinschaftsgraurosa Farbe, seine Sandalen sehen neu aus, und er riecht gut, was nicht immer der Fall ist und Pom in den Wahnsinn treibt. Weil Pom der Chef ist, hat er ihn schon mehrmals unter die Dusche geschickt, bevor sie starteten. «Knoblauch und Schweiß und nicht gewechselte Klamotten, das ist in einem Auto ein anderes Wort für Hölle», hat Pom ihm erklärt, er nimmt da kein Blatt vor den Mund.

Andererseits ist Matte sein bester Kumpel, hat sein volles Vertrauen, ist leider auch oft sein Saufkumpane, was Lena in den Wahnsinn treibt. Matte ist gutmütig, hinreißend zu Kindern und ein schelmischer Schauspieler, leider ein ungenauer Puppenspieler, aber ein großartiger Musiker. Er braucht ein Instrument nur zwei Minuten in der Hand zu haben, dann entlockt er ihm schon die wundersamsten Töne.

Matte ist verträumt, manchmal recht unkonzentriert, Lena meint dann immer, man solle ihm das viele Kiffen und besonders vor einem Auftritt verbieten, aber da hält Pom sich immer raus. Keine Ahnung, warum. Matte glaubt an Engel und weiß alles über die heiligen Meister und seine geistigen Führer, er liebt Räucherstäbchen, seine Tarotkarten und Edelsteine. Irgendeinen hat er immer an einem Lederband um den Hals, das wechselt, je nach Verfassung, sagt er.

Ich liebe ihn, weil er so sanft ist, so kindlich in seiner Seele. Ein wahrhaft guter Freund, aber als Kollege, naja, ich weiß nicht, ob ich damit klarkäme. Irgendwann werde ich ihn mir schnappen und ausquetschen über den Blues. Er wird mir eine Menge dazu sagen können oder einfach seine riesige Plattensammlung durchforsten oder zur Gitarre oder einem anderen Instrument greifen. Singen kann er auch gut, mit einer sanften, melancholischen Stimme.

Jetzt schaue ich ihn an und staune. Mattes Gesicht hat einen neuen Glanz, er leuchtet. Welchen Edelstein hat er heute um? Den könnte ich jetzt auch gebrauchen, bitte sofort.

Lena nimmt Matte lange in die Arme, sie schnuppert an ihm rum und lobt seinen Duft.

«Aqua di selva», murmelt Matte. Das ist auch Poms Lieblingsduft. Aber Matte hat sich noch nie mit Düften umgeben.

«Bleib dabei», sagt Lena und gibt ihm einen Kuss auf die Wange.

Matte wird ein bisschen rot, Lena haut ihn immer um. Und Matte wird schnell rot, was ihm peinlich ist. Verlegen setzt er sich und greift nach dem Kaffeebecher, den Lena ihm rüberschiebt.

«Wie geht es Mone?», fragt Lena, und Matte wird noch röter.

Ha! Ich höre Pauken und Trompeten und Schalmeien! Und jede Menge sanfte Harfen! Jawoll, ich hab’s kapiert. Ich blöde Nuss hab’s endlich kapiert: Matte hat eine Freundin! Und die steht weder auf schlechte Gerüche noch auf ungepflegtes, zauseliges Haar und fleckige T-Shirts.

Die Glückliche heißt Mone, wie ich gerade erfahre, Lena ist wohl längst eingeweiht. Mone heißt eigentlich Monika, aber sie wird Mone genannt, und als Matte ihren Namen ausspricht, kriegt er Kinderaugen. O Matte, ich wünsche dir alles Glück dieser Welt mit dieser wunderbaren Mone, die dich bis auf diese Äußerlichkeiten aber bitteschön so lassen soll, wie du bist. Nämlich ein Schatz!

«Ich bring sie mal mit», verspricht Matte verlegen. Er spricht heute immerzu ein paar Tonlagen zu leise. Echt anstrengend. «Oder noch besser, ihr kommt nächsten Samstag zu uns, wir machen ein kleines Fest!»

«Ein kleines Fest» ist in Mattes WG ein Gelage, ein Feuerchen in dem total verwilderten Garten, Kiffen und Saufen bis zum Abwinken, und meistens meidet Lena diese kleinen Feste wie die Pest, aber Pom nimmt alles mit, was da kommt. Ich muss dazu sagen, dass die Mitbewohner von Matte alle irgendwie einen leichten Knall haben, aber alle irgendwie besonders sind. Auch besonders nett. Irgendwie. «Irgendwie» ist das Lieblingswort in dieser WG! Aber besonders von Matte.

Bis auf die Unordnung, die voll gepropften Zimmer, das gewöhnungsbedürftige Klo, die Staubflusen überall bin ich gerne dort. Einige kochen die unglaublichsten Zusammenstellungen, alle haben so gut wie kein Geld, alle haben irgendwelche Jobs oder auch nicht, sie machen viel Musik, schlafen höllisch lange, bleiben höllisch lange auf, verbrauchen eine höllische Menge Rotwein, manchmal auch Bier, haben immer bestes Gras aus Holland irgendwo versteckt, diskutieren die Weltgeschichte, sind alle gebildet, sehr belesen und bestens informiert, was im Kulturbetrieb so los ist, sind bei jeder Demo – fast jeder Demo –, haben ein weites, großzügiges Herz und sind der Schrecken aller Nachbarn in ihrem Viertel. Und der Presse. Ihre Leserbriefe sind gefürchtet! Und berühmt! Und immer klasse! Einen haben wir sogar mal im Politikunterricht besprochen!

Sie haben irgendwann ein runtergekommenes Haus besetzt, vier Etagen, haben es geschafft, Wasser und Strom zu bekommen, und leben dort mit der Abrissbirne im Nacken, die jeden Tag zuschlagen kann. Aber das tut sie schon seit acht Jahren nicht!

Und: Hinter dem Haus ist dieser Garten, naja, was von ihm übrig geblieben ist. Aber immerhin, er hat eine Kräuterspirale (Matte), er hat viele, viele Ringelblumen (Matte), er hat Hanf, hinter Brennnesseln versteckt (Jade, Klausi, Lulu, Herbert, Suse und Matte!), er hat ein paar vergammelte Rosenstöcke, an die sich Lena mal rangewagt hat, aber niemand hatte sie weiter gepflegt, und dazwischen überall wild wucherndes Gestrüpp und hohes Gras, das mittlerweile niemand mehr mähen will, auch nicht mit der geliehenen Sense, die jetzt schon monatelang in ihrem Flur rumsteht. Und er hat eine Feuerstelle, der Lieblingsplatz aller Bewohner und der hundert Millionen Gäste, die dort immer rumlungern. Und mit durchgezogen werden. Irgendwie ...

Also, ich bin gerne dort, weil dort alles so unkompliziert ist. «Gut drauf sein» nennt man das dort. Das ist «irgendwie» ihr Motto. «Der Schein trügt», sagt Lena dann immer, und ich glaube, sie weiß, wovon sie spricht.

Aber jetzt Mone! Klingt fast wie Zitronenlikör, sanft und sommerlich. Und erfrischend. Wie wird sie zu Matte und dieser «irgendwie» gewöhnungsbedürftigen WG passen?

Ich setze mich zu Lena und Matte an den Küchentisch, Pom kramt noch in seinem Zimmer und sucht den Stadtplan von Coesfeld, Matte seufzt und dreht seinen Edelstein hin und her.

«Sie hat eine kleine Töpferei», murmelt er.

Verflixt, kann er nicht mehr laut sprechen, macht Liebe stumm oder was? Das wird dann aber eine helle Freude heute Nachmittag in der Fußgängerzone, das wird Poms Chefherz tierisch beglücken ...

«Sie hat eine kleine Tochter», murmelt er in sein T-Shirt.

«Und wo steckt der Vater?», fragt Lena. Ja, das ist Lena, sie ist direkt. Sie fackelt nicht lange.

«Irgendwie abgehauen. Is’ jetzt in einer Kommune irgendwo in Portugal ...»

Meine Ohren tun schon fast weh vor Überanstrengung. Ich könnte Matte schütteln, kann er nur noch nuscheln oder was?

«Sprich deutlich und in ganzen Sätzen!», sage ich jetzt mit der herrischen Stimme unserer Konrektorin, und Matte zuckt zusammen und schaut auf.

Na endlich, jetzt ist Matte tatsächlich in unserer Küche, er sieht sich um, schaut Lena und mir ins Gesicht, und seine Stimme ist wieder da, laut und klar und deutlich. Und er sagt: «Tschuldigung, ich bin noch ziemlich perplex. Irgendwie völlig erschüttert. Total neben der Spur. Obwohl ... obwohl ich seit Tagen, nein, seit zwei Wochen irgendwie immer wieder die Liebenden ziehe oder die zwei Kelche.»

«Hä?», frage ich.

«Zwei Kelche, die Liebe, eine Tarotkarte», erklärt Lena.

Auch sie kennt sich aus. Matte hat ihr mal ein Spiel geschenkt, die Karten gelegt und sie ihr erklärt. Lena kann das jetzt auch, aber es macht Pom immer nervös. Das Kartenlegen findet er zu esoterisch. Davon will er nichts wissen!

«Aha», sage ich, was soll man auch sonst dazu sagen.

Deine Engel sind ja voll auf Zack, will ich gerade lästern, sage dann aber besser nix. Mit Engeln soll man sich nicht anlegen, auch nicht aus Jux. Obwohl ich fest daran glaube, dass sie Humor haben, diese himmlischen Wesen. Bitte, das habt ihr doch, oder? Jajaja, haben wir, schlagen jetzt alle synchron mit ihren Flügeln: Irgendwie schon! Haha!

«Wie sieht sie aus?», frage ich. »Und wie alt ist sie?» Eine schwere und eine leichte Frage, sollte man meinen.

Für Matte sind beide leicht. Ohne zu zögern sagt er: «Sie ist wunderschön. Irgendwie ... irgendwie wie eine Elfe ... (Pause). Sie ist siebenunddreißig. Ihre Tochter ist fünf.»

Kein Irgendwie. Na bitte, Matte. Geht doch.

Da kommt Pom in die Küche, er ist angenervt, das ist nicht zu übersehen. «Los, Kumpel, mach voran!», sagt er. «Schluss mit Interviews und Autogrammen. Und wehe, wenn du aus lauter Liebe den Text vergisst, dann gibt’s Ärger. Dicken Ärger!»

Und als Matte aufsteht, fast zwei Köpfe größer als Pom, schubst Pom ihn mit seinem kugelrunden Bauch liebevoll aus der Küche.

Wir rufen: «Viel Glück!» Und: «Toi toi toi!»

Und dann sind sie weg.

Lena und ich räumen den Tisch ab, wir hängen beide unseren Gedanken nach, ich bin noch ein paar Sekunden bei Matte und seiner Elfe, aber dann packt der Sonntagnachmittag mit spitzen Krallen mein Genick und schüttelt mich hin und her. So in etwa. Irgendwie.

Da kommt Lena in mein Zimmer und sagt: «Mirjam, fahr mal mit dem Fahrrad zum Fußballplatz, dahinter auf der Wiese wachsen wilde Blumen, jede Menge. Pflück einen dicken Strauß und wickle ihn stramm in feuchtes Zeitungspapier. Wiesenblumen sind gut für ein verletztes Herz! Und jetzt hör endlich auf, dich verrückt zu machen! Du schaffst das schon. Lass endlich mal los. Lass es auf dich zukommen!»

Dann ist auch sie fort, weg in ihre Werkstatt, weil sie irgendwelche Dinger lasieren muss.

Klasse! Ich könnte heulen. Mal wieder voll mein Mirjam-Programm!

Aber Lena hatte recht. Wiesenblumen sind immer gut. Das Blumenpflücken beruhigt. Blumen sind so. Blumen können das. Irgendwie.

David holt mich vom Bahnhof ab, Gott sei Dank ist er pünktlich. Der Essener Bahnhof ist mir immer etwas unheimlich mit seinem Durcheinander, er ist voller Lärm und Unruhe, voller Eile und Gesichter, die oft grau und abgehetzt aussehen. Abfall liegt überall herum, obwohl ständig ein paar mürrische, alte, dünne Männer zwischen den Beinen der hastenden Menschen und drumherum fegen.

Ich halte meinen Blumenstrauß fest an die Brust gedrückt, meine Bluse ist vorne schon ganz feucht, aber die Feuchtigkeit tut gut, besonders wenn ein Luftzug sie streift.

Davids Gesicht ist verschlossen; wie meins aussieht, kann ich nur ahnen. Wahrscheinlich mache ich gerade dieses bekloppte Hilflos-dämliche-Maus-Gesicht, denn David schaut mich lange und aufmerksam an.

«Angst?», fragt er.

Und ich will gerade loslegen und tröten: Ne, ne, hab ich nicht. Ist alles gut! Tu ich aber nicht, ich staune. Ich kann nur beklommen nicken, und David flüstert: «Ich auch!»

Ich drücke seine Hand, die ist kalt und feucht. Wir müssen die Straßenbahn nehmen, einmal umsteigen und noch knappe zehn Minuten laufen. Die Sonne brennt ein Loch in meinen Verstand, der wie eine kaputte Schallplatte in der immer gleichen Rille festhängt: Dasgehtschief dasgehtschief dasgehtschief dasgehtschief ... Und Schweiß rinnt mir am Körper runter.

Die Eingangshalle der Klinik ist hell und luftig, keine Düsternis, kein Krankenhausgeruch, nur sanfte Farben, Blumen und Pflanzen und zarte Aquarellbilder an den Wänden. Auf dem Boden ein wunderschönes Yin-und-Yang-Zeichen aus kleinen Mosaiksteinchen.

Ich staune und atme tief durch. Was hatte ich erwartet? Den Vorhof der Hölle? Lauter in sich zusammengesunkene Gestalten in Rollstühlen, die vor sich hinsabbern und wilde Gesten machen oder an einem rumzupfen und stöhnen?

Mirjam, du bist voll plemplem. (Ich weiß, ich weiß ...)

David nimmt meine Hand und lässt sie nicht los. Der Fahrstuhl bringt uns in den zweiten Stock, auch hier Licht, helle, zarte Farben, Pflanzen, ich höre Geschirrgeklapper. Es ist Kaffeezeit. Die Zimmertür hat die Nummer 35.

Davids Schritte werden langsamer. Kurz vor der hellgrünen Tür drückt er heftig meine Hand und lässt sie dann los. Er beugt sich etwas zu mir runter und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Das soll wohl eine Beruhigung sein. Okay, akzeptiert.

Er geht voraus, drückt die Klinke, bleibt im Türrahmen stehen und schaut ins Zimmer. Dann nickt er mir zu, und wir treten ein.

Das Erste, was ich sehe, ist das große, helle Fenster mit viel, viel Himmel. Dann sehe ich das Bett, darin liegt eine Gestalt mit verbundenen Handgelenken, ich kann nicht erkennen, ob sie am Bett festgebunden ist, es scheint so. Ich sehe einen Tropf, einen Teewagen mit Fläschchen, Blumen, Büchern, mit Kleenex, einem kleinen Radio und Krimskrams. Dem Bett gegenüber, auf der hellgelb gestrichenen Wand, ein Bild von Gauguin, eine Südseeschönheit mitten in ihrem Paradies, leuchtend, voller Leben, wie passend. Über dem Bett van Goghs Sonnenblumen. Zwei Freunde schauen auf diese Kranke herunter. Schicken ihr Sonne, Licht, Schönheit. Da hat aber jemand richtig nachgedacht.

Ich schlucke. Ich verschärfe jetzt meinen Blick und zoome die Gestalt zwischen den Kissen näher heran. Sie hat die Augen geschlossen. Sie hat goldbraunes, zerzaustes Haar, es müsste dringend gekämmt werden, sie hat ein bleiches Gesicht wie ein seltsames Nachtschattengewächs, fast durchscheinend, wie ein Nebelgehauch, ich kann blaue Schatten und Adern erkennen, einen leicht geöffneten Mund, der ein wenig zittert, die Lider flattern und auch die weißen Hände, als David ans Bett tritt, ihr eine Strähne aus der Stirn streicht und «Mutter?» flüstert.

Ich merke, wie ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe, und jetzt muss ich dringend Luft holen, es klingt wie ein Seufzer, und ich erschrecke. Er hängt in dem Raum, schwebt kurz über dem Bett und fällt in das mondbleiche Gesicht, das nun die Augen öffnet und verwundert die gegenüberliegende Wand betrachtet.

Und jetzt? Was soll ich jetzt tun? Soll ich was tun? Muss ich überhaupt was tun?

David greift die Hand seiner Mutter und hält sie. Aber er steht stocksteif an ihrem Bettrand, und sein Gesicht ist starr.

Wie steht er denn da, Herrgottnochmal, wie eingefroren sieht er aus! Erfüllt er gerade Sohnespflichten oder was, er ist eine einzige, gottverfluchte Höflichkeit, das ist doch glatt zum Verrücktwerden ... Na klasse, wie passend und wie peinlich, Mirjam ... Es ist nicht zum Aushalten! Und: Ich halte es nicht aus.

Ich gehe auf die andere Seite des Bettes, nehme die andere Hand, erschrecke, weil sie so leicht ist und heftig zittert, und hauche: «Ich bin Mirjam, ich bin eine Freundin von David. Guten Tag.»

Ich denke an Mattes Gehauche heute Vormittag und spreche etwas lauter: «Draußen ist wunderschönes Sommerwetter, alles ist bunt. (Pause.) Es ist ein warmer Streichelwind ... die Linden blühen, ich habe Ihnen einen Strauß Blumen gepflückt, eine ganze Wiese voll, damit Sie den Sommer hier drin haben ... (Was red ich nur?!) Ich zeig Ihnen mal, was ich meine ...» Ich wickle die Blumen aus, das hätte ich schon längst draußen tun können, Herrgottnochmal!

«Sehen Sie, wie schön die sind! Lena – das ist meine Mutter –, die hat mir den Tipp gegeben, die hat so einen sechsten Sinn, nein, eher schon den achten Sinn für schöne Dinge, meine Mutter lässt Sie grüßen, mein Vater auch ... Ich hab auch eine Katze, die heißt Lady, weil, naja, weil sie eine Lady ist, irgendwie ... Sie werden es nicht glauben, aber David hat sie gestreichelt, nachdem sie ihm das Herz gebrochen hat ... Aber ich glaube, er hat eher Ladys Herz gestohlen ... Wussten Sie, dass Ihr Sohn David jetzt zu einem Katzenfreund geworden ist, ja wirklich, nicht gelogen, das ist doch erstaunlich, aber Lady wickelt alle um den Finger, die würde sich jetzt glatt auf Ihrer Bettdecke zusammenrollen und Sie trösten ...» (Herrgott, Mirjam!) «... Wenn Sie wollen, also, äh, ich meine, falls es Sie interessiert, werde ich Ihnen mal ein paar Fotos mitbringen, ich fotografiere nämlich, immerzu muss ich so besonderen Lichtmomenten hinterherjagen, ist das normal, ich meine, ich hab keine Ahnung, warum, aber Licht ist ... irgendwie ...»

(Pause.)

«Manchmal hab ich in den passendsten Momenten keinen Film, das ist völlig blöd ... David und ich werden zusammen Musik machen, vielleicht lieben Sie Musik, ich habe jede Menge Kassetten ... Ich könnte Ihnen das Haar kämmen, wenn Sie wollen, das kann ich gut, Lenas Haare habe ich früher immer gebürstet mit meiner kleinen, knallrosa Barbie-Bürste ...» (Spinn ich jetzt total? Keine Ahnung, aber das Zittern ihrer Hand hat aufgehört ...)

Ich rede und rede, ich plappere und plappere, erzähle von David und seinem plötzlichen Auftauchen mitten in meinem Rumpelstilzchen-Tanz, ich erzähle von Tante Greta, von Masseltow, ich erzähle ihr von dem Leben draußen, diesem besonderen Leben, das möglich ist. Ich denke nicht, irgendetwas schubst meine Wörter immer weiter nach, sie fallen einfach heraus, ich erschrecke zu Tode, als ihre Hand plötzlich zudrückt und ihre Augen sich zu mir rüberdrehen!

Himmel Himmel Himmel! Sie schaut mich an! Ich habe sie ins Leben zurückgeredet. Hab ich das? Oder fleht sie gerade, dass ich um Himmels willen endlich aufhören soll?

Wir sehen uns eine Weile in die Augen. Ihre Augen sind so honigbraun wie ihr Haar. Aber ein dunkler Schatten macht sie trüb. Sie wandern unentwegt in meine Augen, ganze Wagenladungen voll Winter hat sie in ihren Augen, und ihre Hand drückt schmerzhaft, aber viel schmerzhafter ist dieser Blick, ich könnte Rotz und Wasser heulen, mich tief unter einer dunklen Decke verstecken, ich könnte sie in den Arm nehmen und ihren Schmerz wegstreicheln. Ich traue mich und streiche sanft die bleiche, dünne Haut ihrer Hand, ihre Augen flattern, ihre Lippen zittern heftig, ihre Hand drückt mit einer Kraft die meine, dass ich zusammenfahre und wieder Mirjam werde, die alles infrage stellt, die Geschiss denkt, fünfzehn ist und blöd!

Ich lasse sie los, räuspere mich und sage mit einer Stimme, die sich anhört, als hätte ich Fell im Mund: «Ich komme wieder. Und ich bringe Fotos mit. Vom Sommer. Vielleicht auch von einer Fee im Schlosspark ... oder Musik, ja Musik wäre gut ... und meine kleine rosa Bürste ...»

Oje, was soll man davon halten?

Ich drehe mich um, stehe draußen auf dem maiengrün tapezierten Gang und bin orientierungslos. Wer bin ich, und wo bin ich, und was mach ich hier?

David kommt zwei Minuten später heraus, er schaut an mir vorbei, holt eine Vase, geht ins Zimmer zurück, und etwas später schließt er leise die Tür.

«Sie schläft», sagt er. «Oder sie tut so ...»

Oder sie tut so! Ist es denn zu fassen!

Und da bin ich wieder voll da. Mich packt eine plötzliche, heftige Wut, die stärker ist als dieser Kampf mit den Tränen, die hinter meinen Augen warten. Ich werde ganz kalt. Heiliger Sankt Martin, ist es denn zu glauben?! Ich fasse David an seinen Schultern, ich schüttle ihn, ich fauche: «Du hast nicht alle Tassen im Schrank, David Liebermann, bist du blöd oder was? Was soll dieses Getue mit dem Sie tut so, du spinnst doch wohl! Meinst du denn, sie hat auch nur ein Fünkchen von Kraft in sich, so zu tun als ob, du bist wirklich ein Holzklotz erster Güte, du bist ...»

David lässt mich mit meinem Gekeife stehen und geht. Und ich stehe vor diesem Zimmer mit seiner Mutter, die so tut, als wär es schlimm, und heule jetzt wirklich Regentonnen von Tränen! Ich rutsche an der Wand lang, bis ich auf dem Boden vor dieser Tür auf dem Hintern sitze, und heule und heule, mit dem ganzen nassen Zeug könnte man alle Flure und Treppen in diesem Haus wischen.

Eine Schwester kommt und zieht mich hoch, sie sagt etwas, keine Ahnung, was, aber da steht plötzlich David neben mir, fasst meinen Arm, und sagt: «Ich mach das schon, sie gehört zu mir!»

Und er führt mich zum Ende des Ganges, dort steht eine Sitzgruppe, die weich und bequem aussieht, und ich falle in den Sessel. David kauert vor mir, er greift meine Hände, sagt keinen Ton, und als ich in seine Augen blicke, geht das ganze Geheule von vorne los. Voll klasse, super super super ... Phh, mir doch egal!! ...

«Ich geh noch mal rein», haucht David, «ich sage ihr auf Wiedersehen ...»

Fast hätte meine Lotterzunge ein «Wenn sie mal gerade nicht so tut, als ob sie nichts mitkriegt ...» gelottert, aber ich verschlucke mich an meiner Bosheit und nicke.

Ich sitze und warte. Helle Flecken tanzen über die Wände und über die Blätter der riesigen Zimmerpflanze in einem hübschen Tonkübel, geschmackvoll, alles geschmackvoll, ich sehe Besucher mit Blumen ankommen, die betretene Gesichter haben, aber beim Niederdrücken der Klinke ein Lächeln hervorholen wie die mitgebrachte Schokolade, Schwestern huschen mit Tabletts und Vasen hin und her, es gibt tatsächlich jemanden im Rollstuhl, man schiebt ihn in den Fahrstuhl, ein Kind lacht, ja, tatsächlich, hier wird gelacht, na bitte, ich greife zu einer Zeitschrift und blättere, ich erfahre, dass Frauenmantel bei Frauenbeschwerden hilft (wie neu!), dass grüne Regenschirme zu meiden sind, weil man darunter wie ausgekotzt aussieht (wie konnte ich ohne dieses Wissen bisher leben ...), die Toskana immer noch in ist, pinkfarbener Lippenstift out (na hoffentlich!), Kalbfleisch kauft man am besten beim Metzger seines Vertrauens, Lady Di hat einen zu tiefen Ausschnitt, die Queen ist empört, die Nordsee ist verseucht, das Wetter ...

David zupft an meinem Ärmel. «Lass uns gehen», sagt er.

Wir gehen.

Wir gehen die Treppen runter, kein Fahrstuhl, wir gehen durch die Halle, wir gehen über den knallheißen Vorplatz mitten durch das blendende Licht, wir gehen durch den Schatten der leeren Straße zur Haltestelle, wir gehen, ohne ein Wort zu sagen. Es ist okay.

Und Davids Gesicht hat etwas Farbe. Und es ist anders, irgendwie anders. (Ich weiß, Matte, ich weiß, aber «irgendwie» ist gerade irgendwie das passende Wort.)

Als die Straßenbahn kommt, greift David meine Hand.

Die Straßenbahn ist so gut wie leer, nur eine verschwitzte Mutter mit zwei kleinen, matten Kindern sitzt hinter dem Fahrer und kramt nach einem Keks in den Tiefen ihres monströsen Rucksacks. Wer fährt schon an einem heißen Sonntag mit der Straßenbahn? Draußen liegt ein erschöpftes Licht auf staubigen Bürgersteigen, es sind kaum Menschen da, wir schauen uns nicht an, wir blicken aus dem Fenster, aber unsere Hände halten sich fest, das tut gut, das reicht.

Ich bin eingeladen, und Davids Tante rechnet fest mit meinem Kommen. Aber ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht. Ich schaffe das nicht. Nicht jetzt, bitte, bitte, nicht jetzt.

Warum hört mich denn keiner?

Weil du wie immer nichts sagst, du blöde Kuh!!

Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht!

Na gut, wenn du deine dämliche Klappe nicht aufkriegst, musst du da eben durch, Mirjam Engels. Und jetzt kein Rumgejammere mehr. Das ist einfach eklig. Entweder du kriegst die Zähne auseinander oder du trägst es mit Würde, okay?

Mhm!

Wir biegen in eine ruhige, schattige Straße, auf jeder Seite sind dunkelrot geklinkerte Wohnblocks mit vielen Balkonen, die alle eine altmodische, halbrunde Form haben, innen sind sie weiß gestrichen, und die meisten haben kunterbunte Blumenkästen. Vor jeder Haustür ist ein vorgemauerter Eingang, der etwas Schützendes und Heimeliges hat. Das kenn ich von englischen Häusern aus englischen Filmen.

Die Haustür öffnet sich, und eine alte Dame mit silbrigen Löckchen (schöner und zarter als Miss Marple ...) lässt sich von ihrem Hund ausführen, der uns keines Blickes würdigt, seine Augen sind fest auf den Baum vor dem Bürgersteig gerichtet.

David grüßt, die Dame grüßt zurück, sie wirft einen kleinen, neugierigen Blick in mein Gesicht und eilt der Leine hinterher, die heftig an ihr zieht.

Der Hausflur ist angenehm kühl, die Treppe ist ungewöhnlich breit, das Treppengeländer ein Traum von einer Rutsche, samtbraunes, glattes Holz. Auf dem Zwischenabsatz steht eine Galerie von Kakteen, igitt, würde Pom jetzt sagen. David geht vor, und ich steige hinterher. Die Flurfenster haben buntes Glas mit schönen Ornamenten, das könnte Jugendstil sein. Tante Greta würde das wissen.

Der nächste Treppenabsatz steht voller Schuhe, ein wildes Durcheinander von Kinderschuhen, Turnschuhen, ein Paar feuerrote Pumps (!), klobige Wanderschuhe, Riemchensandalen mit Strass (irgendwer hat hier einen exquisiten Schuhgeschmack), ich sehe Gummistiefel, blank geputzte schwarze Herrenschuhe in Größe achtundvierzig, mindestens, und Schlappen wie aus einem Gesundheitslehrbuch, alles ist vertreten.

«Wir sind da», murmelt David, doch ich hätte es auch so gewusst, hinter der Tür höre ich denselben Krach, den ich beim Telefonieren bereits öfter mitbekommen habe. Aber er hört sich fröhlich an, etwas nervig laut, aber fröhlich. Kein Gezanke! O Gott, das hätte ich jetzt nicht ausgehalten!

Bevor David klingeln kann, wird die Tür aufgerissen, und ein kleiner Junge schaut an mir runter und wieder hoch und brüllt dann nach hinten in den langen Korridor: «David hat ’ne Chinesin mitgebracht!»

Ich könnte im Boden versinken. Aber dann muss ich doch grinsen, er hätte ja auch brüllen können, dass da draußen vor der Tür eine bescheuerte Plumpskuh oder eine Zimtzicke steht, eine Tussi oder so eine Tusnelda.

Dann brüllt er: «Die sieht ganz nett aus!»

Na holla! David kneift den Burschen ins Ohr, dass er kreischt und brüllt (und brüllen, das kann er!): «Mamaaaa, David fängt schon wieder an!»

Aber seine Mutter schubst ihn nur liebevoll in den dunklen Korridor. «Ab mit dir in die Küche!», sagt sie energisch.

Und dann stellt sie sich vor David und mich und schaut uns aufmerksam ins Gesicht, sie sieht etwas, aber sie fragt nichts. Na wunderbar!

«Du bist bestimmt Mirjam. Wir kennen uns ja schon, sozusagen ...», sagt sie.

Sie hat ein rundes, sehr hübsches Gesicht mit warmen, dunkelbraunen Augen, etwas zerstruppte dunkle Haare mit einigen eisgrauen Strähnen dazwischen, weiche, runde Arme, und ist überhaupt eine runde Person, die man auf Anhieb mag. Ich jedenfalls.

«Mein Jüngster ist wie immer unpräzise in seinen Beschreibungen!», lächelt sie und schiebt mich ein Stück von sich weg. «Sieht ganz nett aus ist doch eine handfeste Untertreibung!» Sie lacht. Das Lachen rollt einfach so aus ihr heraus wie eine dicke, saftige Frucht, eine Frucht aus dem Paradies, und die rollt jetzt in mein Herz. Plopp! Angekommen.

Vielleicht doch ganz gut, dass ich mitgekommen bin, denke ich zaghaft.

«Mirjam, ich bin Davids Tante. Und du musst irgendeinen Hunnen in deiner Familie haben, einen wilden asiatischen Reiter oder Drachentöter, einen Kung-Fu-Meister oder Attilas Nachfahrin höchstpersönlich sein ... bei diesen Augen. Wunderbar!»

Mehr davon, denke ich. Das tut gut. Guuut!

David grinst sein Katergrinsen, ich grinse zurück.

Diese Frau mit dem herrlichen Namen Isabella, der sich so anhört, wie sie ist: rund, weich und sanft, hat es in Nullkommanix geschafft, dass ich aus meiner Beklemmung herausfalle wie eine glänzende, pralle Kastanie aus ihrer dunklen, engen, stacheligen Hülle. Ich atme durch.

Sie geht voran, ich stelle fest, dass sie eine winzige Spur kleiner ist als ich.

«Kommt mit in die Küche, da wartet der Rest der Mischpoke!», sagt sie, und wieder rollt dieses Lachen aus ihr heraus. Die reinste Therapie für mich. Davon kann ich nicht genug kriegen.

Das Erste, was mir auffällt, als ich diese große Küche betrete, ist das Licht, diese Stimmung, diese Besonderheit, ein Geschenk für eine Lichtsammlerin, aber mein Fotoapparat ist irgendwo zu Hause in meinem Zimmer, und überhaupt, ich hätte jetzt niemals sagen können: «Moment mal, Leute, nicht wackeln, ganz still halten, dieser heilige Augenblick muss eingefangen werden!» Und klick! Das kleine Monster hätte bestimmt sofort losgebrüllt, dass Davids Besuch, der zwar ganz nett aussieht, nicht alle Tassen im Schrank hat, und so ’ne richtig blöde Tussi ist, ’ne durchgeknallte Ische ...

Aus dem Fenster fällt goldenes Licht in den Raum. Auf dem Herd dampfen ein paar Töpfe, im Gegenlicht steigt der Dampf hoch, ein köstlicher Geruch schwebt über allem, alles sieht verwunschen aus, wie die Küche einer schusseligen, liebenswürdigen Hexe. Auf dem riesigen Tisch steht jede Menge Geschirr, drum herum sitzen eine Handvoll Leute, die alle in meine Richtung schauen, neugierig, etwas verschwommen in diesem Licht. Welch ein Foto! Wow!!

Davids Tante nimmt wieder meine Hand, ihre ist warm und wunderbar stark. Ich könnte mich darin einrollen.

«Das ist Mirjam», sagt sie, und der Lärm schweigt für einige Sekunden.

Stühle rücken, ich erkenne einen großen, hageren Mann, der entfernte Ähnlichkeit mit David hat, eine junge, etwas mollige, hübsche Frau in einem Seidenhemdchen in tiefem Rot. (Die Schuhsammlerin? Klar, die Schuhsammlerin!) Dann noch ein Junge in meinem Alter, ein rundes Gesicht mit Koboldaugen, die fröhlich blinzeln. Den ganzen Kopf voller wilder Locken. Ganz seine Mutter. Und natürlich der kleine Brüllaffe, der zurzeit die Klappe hält. Und David, Davids Tante und ich. Das macht sieben.

«Aaron fehlt», sagt David.

Aha, acht. Ohne mich sieben. Ganz schön viele. Daher der Lärm, na klar.

Händeschütteln ohne Ende, das Monster starrt in mein Gesicht und sagt: «Wieso hast du so komische Augen?»

Brüllende Stille!

Ich sage: «Das geht anders. Das heißt: ‹Großmutter, was hast du für komische Augen?› Und dann sagt die Großmutter: ‹Damit ich dem Jäger gefalle, du blöder Wolf ...›» (Mirjam, hast du ’nen Knall, oder was?)

Aber alles lacht, der Kleine lacht sogar schallend mit und kichert: «Du bist komisch!»

Ich werd nicht mehr, ich habe seinen Humor getroffen. Und offensichtlich kennt er das Märchen vom Rotkäppchen, na bitte.

Ich sitze neben David, die Teller und das Besteck werden verteilt, ich bekomme ein Glas mit einer milchigen, eiskalten Flüssigkeit, ein Zaubertrank, so viel steht fest, denn er ist köstlich und erfrischend. Ich frage, was das ist, meine Stimme ist klar und nicht verhuschelt, kein Fell mehr in meinem Mund. Es ist Holunderblütensirup mit Eiswasser und Zitronensaft aufgefüllt, muss ich unbedingt Lena erzählen, der Lärm geht wieder los, er hüllt mich ein wie eine warme Decke, ich möchte nichts weiter tun als hier sitzen, mitten unter diesen fremden Menschen, David an meiner Seite, mit diesem Licht, diesen Geräuschen und diesem Essensduft um mich herum. Und ab und zu dieses Lachen hören, das rollt und rollt und heilt, wie eine von Hand zubereitete Gesundheitspille. Nach einem alten Geheimrezept. Ich könnte vor Begeisterung glatt mit den Augen rollen – wie Masseltow, zu knurbeln anfangen und wegdremeln ... Wie gut, dass David in dieser Familie sein kann!

Ich schrecke zusammen, meine Gedanken haben mich einen Moment aus dieser Küche herausgehoben, aber die junge Frau mit Bergen von schwarzen Haaren mir gegenüber, die Sarah heißt, reicht mir mehr von dem Eiswasser, beugt sich weit über den Tisch, und als ich mich ihr mit meinem Glas entgegenbeuge, flüstert sie: «David hat noch nie jemanden mitgebracht, dieser Eremit. Du tust ihm gut, ist dir das klar?»

Manchmal ja, manchmal nein, denke ich, und höre noch mein Gezeter in der Klinik. Ich zucke mit den Schultern.

Ihre Augen sind sehr wach, haben jede Menge Wimperntusche, aber kein Gramm davon nötig, sie riecht gut, wenn ich mich trau, werde ich sie danach fragen, denn Lenas Parfüm passt eben nur zu Lena ...

Sarah hätte ich gerne als ältere Schwester, da sagt sie: «Ich habe mir schon immer eine Schwester gewünscht. Zwischen all diesen Affen ...» Ihre Augen blicken dabei liebevoll schnell nach rechts und links, ich weiß, was sie meint.

Ich nicke und traue mich zu sagen: «Ja, eine Schwester hätte ich auch gern!», da grinst sie, und ich schwöre, sie hat das gleiche Katergrinsen wie David, es muss ein Liebermann-Gen dafür geben.

«Gemacht», flüstert sie, weil gerade alle Affenohren zu uns rüberschlappen.

Das kleine Monster schreit auch prompt: «Mama, die flüstern, das ist gemein ... Ich hab gar nichts verstanden!»

Gelächter! Seine Mama winkt nur ab und schaut zwischen uns hin und her. Sie strahlt erst Sarah an, dann mich. Sie scheint etwas zu ahnen ...

Davids Onkel hat tiefe Furchen rechts und links neben der Nase und auf der hohen Stirn, ich hätte ihm niemals einen so kleinen Sohn wie diese Nervensäge (nett gemeint, wirklich, ich schwöre ...) zugeordnet. Sein Haar ist eisgrau, sehr dicht und ordentlich nach hinten gekämmt. Seine Augen sehen müde aus, aber trotzdem sehr aufmerksam, eine Spur zu ernst, und mit dem Reden ist er sparsam. Aber er sitzt zwischen seiner Familie und genießt das Zusammensein, so viel steht fest. Und an den Lärm scheint er gewöhnt zu sein, so wie alle hier, da wird man bestimmt irgendwann total abgehärtet ...

Ich versuche, mir Davids Vater vorzustellen, der war jünger, wie ich weiß. Und daneben Davids Mutter. Das hätte ich besser lassen sollen. Das ist jetzt Obermurks. Ich sehe ihre bleichen, zittrigen Hände mit den dicken Mullverbänden und spüre wieder ihren schmerzhaften Druck. Der wird gleich weitergereicht an mein Herz. Klasse! Volle Lotte ein Eigentor! An diesem Tisch sehe ich keinen Platz für sie, ich kann sie mir nicht mal sitzend vorstellen, ich sehe nur dieses weiße Gesicht in den Kissen.

Da wird eine Schüssel auf den Tisch gestellt, und es bricht lauter Jubel aus. Es ist ein Granatapfel-Hühnchen, und den Namen dafür habe ich sofort wieder vergessen, Aber nicht, wie es schmeckt: fremd, fruchtig, irgendwie auch nach Zimt. Und sehr lecker. Und ein rundes, knuspriges, honigbraunes Brot wird gebrochen, es ist noch duftend warm.

Weitere Schüsseln folgen. Für jede gibt es Geschrei und Applaus, und meine Zunge lernt neue Köstlichkeiten kennen, deren Namen ich mir unbedingt merken muss. Aber das kann ich vergessen. Ich behalte sie einfach nicht. Pom will das bestimmt alles ganz genau wissen. Und Tante Greta, die würde wunderbar in diese Runde passen. Und meine speziellen Eltern auch. Lena würde mit großen Augen um sich schauen. Sie würden alles aufsaugen, die Farben, die Stimmung, das Licht, die Besonderheiten jedes Einzelnen, den hübsch gedeckten Tisch, den wunderbaren Kerzenleuchter mit den sieben Armen, das Porzellan und den fröhlichen Lärm ... Und Pom würde alle Köstlichkeiten in sich reinfüllen, seinen Bauch reiben und sein «Mehr, mehr davon» quietschen. Wie ein kleiner, fetter, nimmersatter Mönch. Und das Monster würde fragen: «Wieso bist du so dick?» Pom würde grinsen und sagen: «Komm her und lass dich fressen, dann weißt du’s!» Und die gesamte Mischpoke würde kreischen. Das Monster sowieso.

O David, ich komme öfter! Wenn ich darf.

Und ich gehe tatsächlich nur ungern wieder fort.

Als wir in der Dämmerung am Bahnsteig stehen, legt David seinen Arm um meine Schulter. Ich lehne mich an ihn, ich bin froh, dass er mich hält. Eine große Mattigkeit bleibt von diesem Tag zurück und viele Bilder, graue, schwarz-weiße, grellbunte und milchig-sanfte ...

«Danke», flüstert David.

«Danke», flüstere ich zurück.

Da dreht David mein Gesicht zu sich und blickt mich mit seinen schwarzen Winteraugen lange und nachdenklich an. «Du bist schon ein erstaunliches Mädchen», sagt er. Seine Augen sind warm und aufmerksam. Und schön. Die schönsten Augen der Welt.

(Naja, in einer anderen Zeit, vor dem Verschwinden der großen Flugdinosaurier oder so, da gab es noch jemanden mit schönen Augen, äh, ja, mhm, mhm ... Mensch, Mirjam, krieg jetzt mal schnell die Kurve, das ist doch eine längst vergessene Geschichte! Okay! Okay!)

David streicht kurz über mein Gesicht, da kommt der Zug, ich drücke ihn einfach ans Herz, wir winken noch lange, dann schrumpft er sich weg und ist fort.

Als ich zu Hause ankomme, stehen Pom und Lena auf dem Bahnsteig. Sie nehmen mich in ihre Mitte, und wir gehen zusammen durch den warmen Abend.

Sie stellen keine Fragen, sie haken mich unter, bringen mich zurück in mein Nest, ihr Junges hat den ersten, mutigen Alleinflug in eine unbekannte, gefährliche Welt gewagt, und sie sind stolz: Es ist zurück. Und: Es lebt! Ein paar Federchen sind zerrupft, aber sonst sieht es unbeschadet aus. Und: Es piepst und piepst und piepst. Ja, ich rede und rede, und die Enge in meiner Brust verschwindet über den Dächern ins Irgendwo.

Wir beschließen, dass ich mir David vornehmen muss. Ich werde ihn schubsen, ich werde ihn drängen. Du, David Liebermann, du wirst deiner Mutter helfen, weil du dir damit selber hilfst, ist das klar? Das wirst du tun, David, dafür werd ich sorgen! Ich sei «erstaunlich», hast du gesagt? Ja, genau das wirst du erleben, Bürschchen, da wirst du aus dem Staunen nicht mehr rauskommen, wenn ich, Mirjam Engels, erstaunlich bin und dir deine hübschen Ohren langziehe ... erstaunlich lang!

Und dann muss ich Pom alle Einzelheiten über Davids Verwandtschaft erzählen, alles über diese Familie, die vor Leben überquillt, die bunt, laut und köstlich ist, aber auch still und aufmerksam ... Und die für David das Beste ist, was ihm im Moment passieren konnte.

Seine Tante Isabella habe ich tief ins Herz geschlossen. Und ich habe eine Schwester, wahnsinnige neunzehn Jahre alt, die gerade ihr Abitur gemacht hat. Sie riecht köstlich und hat die abgefahrensten Schuhe der Welt. Und auch schon einen Führerschein! Gemacht, hat sie gesagt, als wir unsere Schwesternschaft beschlossen. Und einen kleinen Brüllaffenbruder hab ich gleich mitgeliefert bekommen. Freche sechs Jahre alt. (Na, der wird sich freuen ... eine Schwester wird ihm bestimmt reichen!) Und den Sohn Aaron, den ältesten, der schon studiert, den muss ich noch kennenlernen.

Und da gibt es noch Phil, auch eine Spur mollig, der so alt ist wie ich. Der ist ein kleiner Witzbold, ein Kobold, der will mal Starfriseur werden, worauf alle einen Lachanfall kriegten und er die beeindruckendsten Grimassen schnitt, die ich je gesehen habe.

Und dazwischen die Herren: David Liebermann und sein Onkel, Herr Albert Liebermann. Beide sehr ruhig. Beide wissen etwas, das sie zurzeit nur ahnen. Beide tragen etwas mit sich rum, das ist dunkel, lähmend und unergründlich tief und ... traurig ...

Kann sein, kann nicht sein, ich hatte immer schon so eine überbordende Fantasie. Aber vielleicht bin ich einem Familiengeheimnis auf der Spur. Tante Greta nennt es inneres Wissen. Lena nennt es Intuition. Pom nennt es Gespür. Alle drei haben eine Menge davon, ich weiß nicht, welch dicke Portion sie mir vererbt haben, und ich bin nicht sicher, ob ich nicht lieber das Erspüren lassen soll. Man kann damit nämlich total danebenliegen. Oder auch nicht.