Seit David aus London zurück ist, ist er ruhiger geworden. Da er eventuell eine Klasse überspringen kann, sitzt er nun immerzu in seiner Wohnung und büffelt. Bei seiner Tante ist es ihm einfach zu laut. Ich muss ihn ab und zu herauslocken, und wir treffen uns am Kanal mit Friend oder machen lange Spaziergänge durch den Grugapark. Und als ich ihm in der großen Pause erzähle, dass ich mich nachmittags mit Ötte treffe, um mal wieder, nach langer Zeit, unseren Blues zu üben, bekommt David einen seltsam fernen Blick. Er murmelt etwas, was ich nicht entschlüsseln kann. Hat er vielleicht Lust mitzukommen? Ich traue mich nicht, ihn ohne Öttes Zustimmung einzuladen, aber dann fällt mir ein, dass David bei unserem ersten Treffen seine Klarinette erwähnt hatte und Ötte hin und weg war. Klar kann David mitkommen, abgemacht, aber bitteschön mit seiner Klarinette – Ötte würde vor Begeisterung Herzklabaster kriegen!
Ötte und ich haben bereits angefangen, ein höchst kompliziertes Stück von Jimmy Reed zu üben, der Text ist klasse: Oh I feel so good but my tears are rolling out the door. Wir haben den Text noch nicht ganz entschlüsselt, mein Englisch wächst zwar in ungeahnte Regionen, ist aber mit solchen Texten immer noch hoffnungslos überfordert. Ötte sowieso, und Masseltow kennt eh nur zwei Begriffe: Sweetheart und Darling. Nein, auch noch Honeykiss.
Wir verzweifeln gerade, weil wir beide finden, dass wir dem ganzen Kunstwerk weder mit Gesang noch mit den beiden Mundharmonikas gerecht werden und auch noch immer an der Übersetzung knabbern, da kommt endlich David mit einer halben Stunde Verspätung. In seinen Augen liegt die Schwärze einer mondlosen Nacht. Irgendetwas muss passiert sein, aber er sagt keinen Ton, auch keine Entschuldigung, und ich schlucke meine Fragen herunter. Ötte, der selber eine Mimose ist, fühlt mit und fragt auch nicht.
Masseltow tobt wie ein durchgeknallter Alien-Dog. Aber er erkennt in letzter Sekunde seinen neuen Freund vom Planeten Erde und beruhigt sich, da dieser ein geradezu außerirdischer Hundekenner ist und ein hart gekochtes Ei in der Tasche hat, Masseltows Lieblingsdelikatesse. Kerlokiste, David Liebermann, du bist doch erstaunlich, woher wusstest du ...? Masseltow ist hingerissen, er pellt und pellt, seine spitze Nase zittert vor Aufregung, er ist der sorgfältigste und pingeligste Eierpeller in unserer Galaxie, aber er braucht dafür Stunden und ist erst mal beschäftigt, voll genial von David.
David holt seine Klarinette heraus und sagt: «Also, das letzte Mal, dieses Stück mit der treulosen Tomate ...»
«Untreue Kartoffel», verbessere ich empört, also wirklich!
«Ja, das mit diesem untreuen Kartoffelknilch, das könnte man mit der Klarinette, also an einigen Stellen, glaube ich ...» Seine Stimme wird immer leiser, vielleicht ist er gerade zu dem bekloppten Verdacht gekommen, dass er uns nervt und sich irgendwie aufdrängt. Aber das hatten wir doch schon alles, das ist grauer Schnee von gestern. Kokolores, sozusagen.
Ötte klopft ihm beruhigend auf die Schulter. «Mensch, Kumpel, leg einfach los, wenn du meinst, das wäre ’ne gute Stelle, gib nur vorher ein Zeichen, dann übernimmst du. Hab selber keinen Schimmer, ob sich Klarinette und Mundharmonika irgendwie vertragen, werden wir schon mitkriegen. Also, keine Panik, mach einfach!» Masseltow würde sagen: Gib alles, Kumpel, aber der sitzt unterm Campingtisch und knackt den Jackpot.
Am Anfang ist David ungenau, er verhuschelt die Melodie, holpert neben dem Gesang her, Masseltow hat feine Ohren, er lässt das Ei links liegen und knurrt ein wenig, aber dann ist David drin. Ich singe mit Ötte das Geschimpfe und Gespött, und David umrundet uns, mal schrill, mal sanft, mal kreischend, mal zärtlich, als wolle er die zankende Frau Lügen strafen. Und natürlich hat er recht, denn unter diesem Gezeter liegt ihre ganze Liebe begraben, begraben unter tausend Seufzern, das lässt er immer wieder durchklingen. Und ich schimpfe und schluchze, ich wusste gar nicht, dass ich singend so schluchzen kann. Ötte gibt seine tiefen Töne dazu, die jetzt passenderweise schön mürrisch klingen, und dann stellen wir fest, dass sich unsere Mundharmonikas tatsächlich mit der Klarinette vertragen. Eine eigenartige Kombination, sehr eigenartig, aber gut.
Wir schauen uns hinterher mit großen Augen an, Masseltow hat sein Ei fast fertig, wir hören die kleinen Knackgeräusche und das Wegspucken der winzigen Schalensplitter, und eine Mutter ruft nach ihrer Schantalle. Da schnappt sich Ötte David und hält ihn fest, ich glaube, er wäre sonst auseinandergefallen, so seltsam und angestrengt sieht er aus. Aber dann kann er schon wieder sein schiefes Katerlächeln ins Gesicht hängen.
«Okay?», fragt er zaghaft, dieser Kerl von ein Meter fünfundachtzig, und wir nicken und nicken.
Da kommt eine ältere Frau mit einer höchst seltsamen Frisur und runtergerollten Seidenstrümpfen um die Ecke geschlurft, in der Hand ein klitzekleines Kinderportemonnaie, eins von diesen Dingern aus rotem Plastikleder mit dem altmodischen Klickverschluss, den sie immerzu auf- und zuschnappen lässt. Die Haare sehen aus wie ein ausgedienter Wischmopp, ihre Bluse hängt halb aus dem Rock, den hat sie sich fast bis unter die Achseln gezogen, und die Schuhe sind eine Nummer, nein eher zwei, zu groß, sie kann darin nur schlappen, aber das tut sie gekonnt, sie hat Übung.
Sie geht in einer geraden Linie auf Öttes Bude zu, als würde sie an einer Schnur näher herangezogen, dann lässt sie das kleine rote Plastikding aufschnappen, holt ein Markstück heraus, reicht es über die Theke und sagt: «Für euch. Macht weiter so, Jungs!»
Dann sieht sie meine Mundharmonika und lächelt, sie zeigt dabei die tollkühnsten falschen Zähne, die ich je aus der Nähe gesehen habe, und meint: «Und du, Täubken, hasse aber Glück mit diesen strammen Kerls. Bis’ wohl so ’n richtiger Glückspilz, Kleene!»
Und sie stupst mich verschwörerisch und liebevoll in die Seite. Sie hat blassblaue Augen mit einem Sternenkranz von Falten. Ihre Augen sind warm und fröhlich, und wenn sie lächelt, hüpfen ihre Falten in ihrem Gesicht herum. Meine Augen lächeln auf der Stelle zurück.
«Und ein Capri!», sagt sie in Richtung Theke, dabei zeigt sie auf Öttes Eisplakat und wartet. Ötte holt das Eis und reicht ihr schnell einen Hocker heraus, als er sieht, dass sie sich unsicher umdreht und davonschlappen möchte.
«Moment, junge Frau!», ruft er, «für ’ne Mark gibt’s noch was dazu!»
Und ich stelle den Hocker blitzschnell etwas weiter in den Schatten, damit Masseltow die Klappe hält.
Die alte Frau zeigt jetzt ihr schönstes Lächeln, sie rafft kokett ihren Rock etwas in die Höhe, nimmt umständlich Platz, lutscht an ihrem Eis und wartet, sie hat alle Zeit der Welt. Für eine Mark soll sie einen Nachschlag kriegen. Eine Mark ist viel Geld.
Wir sind gerührt. Aber dann müssen wir erst mal beraten. Wir haben ein jiddisches Lied im Programm: A Rätenisch (ein Rätsel). David kann es kaum glauben, er kennt es gut. Und er darf beginnen.
Die Klarinette ist frech und fröhlich, und Ötte und ich singen. Ötte beginnt:
Du Mejdele, du scheins,
Du Mejdele, du fains,
Ijch well dir eppes fregn, a Rätenisch, a klejns:
Wos is hächer far a Hois, un wos is flinker far a Mois?
Ich antworte:
Narischer Bocher, narischer Tropp!
Du host nit kejn Ssejchl in dain Kopp!
Der Roich is hächer far a Hois,
A Katz is flinker far a Mois!
... und so geht es noch eine Menge Strophen weiter, ziemlich viele, aber wir können nur die ersten sechs, das heißt, jeder ist dreimal dran. Wir werden noch weitere dazulernen. Mir macht das Jiddisch großen Spaß.
Dann spielen wir die Melodie, und – Herrimhimmel! – jetzt singt David. Er hat eine kräftige Stimme, ungeschult, aber sauber, und er singt einfach mit Ötte zusammen die Rätselfragen an das Mejdele. Und unser Gesang, jetzt mit drei Stimmen in drei verschiedenen Tonlagen, klingt nun viel interessanter und kräftiger, na logisch!
Die alte Frau strahlt von einem zum anderen, wir nehmen sie mit diesem Lied in unsere Mitte. Sie wird köstlich verlegen. Und ihr Lächeln, ihr Lächeln ...
Nach unserem Gesang erhebt sie sich, kommt angeschlurft und schnappt sich David. Sie schüttelt seine Hand, bis ich glaube, dass sie gleich abfällt. Sie sagt keinen Ton, dann dreht sie sich noch einmal um, ruft ein leises «Schüsskes» und schlappt nach Hause.
Masseltow, der wieder auf der Theke sitzt, hat noch gelbe Stippen an seiner spitzen Schnute und schaut zufriedengestellt in die Runde.
Ötte reicht zwei Capris über die Theke, ein weiteres für Masseltow, der gerade glaubt, dass dieses Jahr das Weihnachtsfest in den Sommer gefallen sein muss. Ötte selbst lutscht seine geliebte Vanillewaffel. Mehr gibt es im Moment nicht zu sagen. Mehr gibt es im Moment nicht zu tun. Eisschlecken, sich wundern und genießen, das reicht.
David räuspert sich, nachdem er unser Eispapier eingesammelt und in den Papierkorb geworfen hat. Er streichelt Masseltow, schaut nicht zu Ötte, schaut nicht zu mir, schaut nur in Masseltows Augen und meint: «Wenn ihr wollt, aber nur wenn ihr wirklich wollt ...»
«Mensch, David, hör auf mit dem Kokolores», fällt ihm Ötte ins Wort, «wir sagen schon, was wir wollen. Leg los, mach nich so’n Getue!»
David nickt und schaut auf den Boden. «Also, ihr wisst ja, ich habe zurzeit eine riesige Wohnung und ich bin ja allein, ich meine, in dieser Wohnung. Wir könnten dort spielen und üben, dort stören wir auch keinen, wir würden auch nicht immer unterbrochen, und äh ... Fehler wären auch nicht so peinlich. Außerdem ist die Klarinette alles andere als leise hier draußen ... Und mein Cousin Phil, du kennst ihn ja schon, Mirjam, der ist ganz klasse mit der Gitarre, also, wenn ihr wollt, wenn ihr Lust habt und das geht, ich meine mit Masseltow, der kann gerne mit ... Wär das okay?»
Ötte schweigt. Masseltow grunzt, David schaut hartnäckig an uns vorbei, und ich denke nach. Sofort schreit mein Kopf: He, was soll das hier werden? Das gibt doch nur Stress. Bis jetzt war alles nur just for fun. Soll das jetzt so eine richtig ernste Sache werden? Und das willst du haben, Mirjam Engels? Sicher??
Keine Ahnung. Nein! Und irgendwie doch. Warum können wir nicht in Davids Wohnung auch just for fun spielen? Und wenn wir dabei außerdem noch besser werden, was wäre daran so falsch?
Und Ötte? Hat der überhaupt so was wie ein Privatleben? Bis auf das eine Mal in unserer Wohnung mit den preisgekrönten Fotos und dem Kalender von diesem Wikinger in einem anderen Leben habe ich Ötte noch niemals außerhalb seiner Bude getroffen. Und überhaupt, wie soll das mit Masseltow gehen?, zetert mein Kopf.
David wartet. Ötte schweigt hartnäckig. Der Nachmittag hängt in der Luft.
Aber mich reizt es auf einmal, es kribbelt richtig unter meiner Haut, klar, klar, klar, das machen wir, unser Blues wird wachsen. Und David, dem wird es guttun, für ihn wird es der reinste Balsam sein. Ötte, sag doch was, bitte!!
Ich blinzle zu ihm rüber. Ötte blinzelt zurück. Wir blinzeln David an. Wir nicken.
«Prima Idee, Kumpel!», sagt Ötte, seine Stimme ist sonderbar fiepsig, und Masseltow spitzt die Ohren. Da hat Ötte sich ihn schon geschnappt und schmeichelt mit sanfter Stimme: «Und du, meine Herzenswonne, wirst wieder etwas von der Welt sehen, du fährst doch so gerne Auto! Also, watt sachze?»
Masseltow reißt bei Auto die Augen auf. Autofahren liebt er. Jetzt blinzelt auch er. Alles Paletti, bin dabei, sagen seine Augen.
David schaut auf, endlich wagt er, uns anzusehen. Ein Anflug seines Grinsens zeigt sich unsicher auf seinem Gesicht. Wir strahlen uns an, es ist besiegelt, der Blues soll wachsen, er soll sich sogar bis nach Essen ausdehnen. Ja, Samstagabend neunzehn Uhr ist okay. Nach Öttes Feierabend. Alles paletti. Na bitte, geht doch!
Und David ist auf dem Weg der Genesung. Naja, mal nicht übertreiben, aber er hat einen Anflug von Farbe auf dem Gesicht, und in seinen nachtschwarzen Augen schimmert etwas Mondlicht. Na, wenn das nicht Massel ist, oder, David? Mit Masseltow mittendrin.