Ich fahre nach Essen. Sarah und ich wollen uns im Regenbogencafé treffen, wir lieben dieses Szenelokal, wo meistens alles nicht so richtig rund läuft, aber supergute Musik aufgelegt wird, der Kuchen kann schon mal matschig sein, aber die Bedienung ist immer gut drauf, und die verrücktesten Typen hängen hier rum. Die Uni ist nah und das Café ist immer voll. Haschduft schwebt über den Tischen, und es gibt die besten spanischen Vorspeisen der Welt. Für wenig Geld. Ihre Knoblauchmayonnaise ist berühmt. Und da es Freitag ist, wollen wir später noch ins Kino. «Männer» von Doris Dörrie läuft gerade an und soll klasse sein. Weil ich kaum was für die Schule erledigen muss, mach ich mich am frühen Nachmittag auf, dann kann ich noch vorher beim Kilotrödler in den alten Sachen wühlen und vielleicht ein paar Schätze für meine besonderen Crazy-Mirjam-Blusen und -Hosen finden. Auch an Röcke wage ich mich jetzt. Sie sind sehr schräg, ich liebe sie. Sie werden doch tatsächlich zu meinem Markenzeichen. Und den besten Tipp dafür bekam ich von Phil, der seitlich eine kleine Raffung vorschlug, und das gab dem Ganzen den absoluten Kick. Phil, ja Phil ist immer mal wieder zum Anstaunen.
Bevor ich in das menschenleere Industriegebiet abbiege, nähert sich ein dunkler VW-Käfer und fährt eine Weile im Schritttempo neben mir her. Es ist hell draußen, ich habe keine Angst, es ist einfach nur doof und peinlich. Aber irgendwann hat der Jemand genug von meinem Desinteresse und hupt. Als ich blöde Eierpflaume hinschaue, erkenne ich Aaron. Er lächelt. Mein Herz gefriert zu einem riesigen Eisblock, es würde in keine Kühlbox reinpassen. Ich bleibe abrupt stehen, und er kurbelt das Fenster runter.
«Wo willst du hin?», fragt er, seine Worte wachsen aus einer ellenlangen Gletscherzunge in meinen Kopf und frieren alle Gedanken ein.
Ich zeige diffus in eine Richtung und murmle: «Kilotrödler!» Er wird sowieso nicht wissen, was das ist.
Er beugt sich zur Tür und öffnet sie. «Okay», sagt er. «Ich bring dich hin! Steig ein!»
Und ich steige ein. ICH! STEIGE! TATSÄCHLICH! EIN!
Aaron fährt rein ins Industriegebiet, biegt in einen Schotterweg, fährt bis zu einem verrotteten Gelände mit einem verbogenen Drahtzaun und hält. Mir wird so kalt, dass ich denke, nie wieder warm werden zu können. Er zieht mich heftig zu sich rüber, hält mich mit einer Hand wie mit einem Eisenring umklammert, die andere Hand fährt unter mein T-Shirt und greift sich meinen Busen. Es tut weh, es tut weh, es tut weh. Mir schießen die Tränen vor Schmerz und vor Schreck in die Augen.
Ich winde mich, ich will schreien, da habe ich plötzlich eiskalte, steinerne Lippen auf meinen, die drücken mir die Luft weg, und ich will den Kopf drehen, da habe ich seine grobe Hand zwischen meinen Beinen, die sich wie ein Schraubstock hochschraubt, sie zerrt an meiner Wäsche, ich drehe mich, schnappe verzweifelt nach Luft, er drückt eine meiner Hände an seine offene Hose, ich keuche, ich schüttle mich heftig, er drückt meine Hand auf sein ekliges, hartes Ding. Jetzt muss ich würgen, ich bäume mich auf, und da kriege ich irgendwie meinen Ellenbogen frei und stoße fest in Ichweißnicht-was, und der Griff lockert sich. Ich höre Aaron fluchen, ich kann die Autotür öffnen, bekomme einen harten Stoß von ihm in meinen Rücken und falle auf den Schotter auf beide Knie. Ich fange an zu schreien. Ich schreie, dass die Vögel vom Himmel stürzen.
Da höre ich den Motor aufheulen und Aarons schreckliches Gelächter: «Du bist doch nur ein hässliches Blag, keine Titten und keine Ahnung! Und du willst mich anmachen? Kaum zu glauben, du Flittchen!»
Dann wendet er, dass ich nur knapp seinen Reifen entkomme, ich wälze mich zur Seite, der Schotter spritzt, Staubwolken plustern sich auf, und er ist weg. Und in mir ist niemand mehr zu Hause. Nirgendwo ist jemand. Ich habe keinen Kopf, kein Herz, keinen Körper, kein Nichtsmehr. Ich habe nur einen Schmerz, der bis zum Himmel reicht und runter bis in die Hölle. Ich liege auf dem Boden und wimmere und wimmere. Ich spucke Staub und huste und winde mich wie ein Wurm. Und als der erste zaghafte Gedanke auftaucht: Mirjam, steh auf, geh von hier fort, da hört es auf und ist vorbei.
Ich friere immer noch heftig, aber mein Kopf ist wieder da. Ich suche meine Tasche, die liegt im Gebüsch, er muss sie wohl noch rausgeschmissen haben, ich krieche dort hin, stehe dann auf, und meine Beine kriegen einen solchen Zitteranfall, dass ich mich schnell wieder hinsetze. Ich klopfe mechanisch meine Sachen ab, hole aus meiner Tasche ein Tempo, wische mir das Blut von den Knien, wische mit Spucke mein Gesicht sauber und richte mich in voller Größe auf, das Zittern hat nachgelassen. Ich humple zur Bushaltestelle. Mein Herz ist ein Eisklumpen, aber meine Gedanken sind klar: Ich will nach Hause. Ich will keinen sehen. Ich will mich waschen. Ich will mich waschen. Ich will mich waschen. Und hoffentlich haben wir genug Seife im Haus!
Keine Ahnung, wie ich es mit Bus und Zug und zuletzt mit dem Fahrrad nach Hause geschafft habe. Der Körper ist schon erstaunlich. Was ist der Körper, der gerade mit Gewalt und Hohn verletzt worden war und nun, nur etwas später, vielleicht waren es knappe zwanzig Minuten danach, wieder voll funktioniert? Ich gehe, ich trete in die Pedale, ich greife zum Portemonnaie, ich nicke, ich schaue, ich erinnere, ich öffne die Haustür, ich atme, ich lebe. Ich fühle, ich schmerze, ich erbreche. Ich erbreche mich so gründlich, dass mein Magen sich krümmt und auswringt und zu schäumen anfängt. Ich stehe drei Jahre und sieben Jahrhunderte in der Dusche, wasche meinen Mund tatsächlich mit Seife aus, reibe mein Gesicht und sehe danach aus, als hätte ich eine heftige Erdbeerallergie.
Und als Lena und Pom nach Hause kommen, liege ich im Bett mit unseren beiden Wärmflaschen und mit Lady dicht neben mir, die mich beäugt und nichts fragt. Und alles weiß. Und meine beiden Eltern machen das, was alle Eltern tun, sie messen Fieber, sie wollen mir Wünsche erfüllen, das Bettzeug wechseln, Antworten haben, mich in den Arm nehmen und den Arzt holen.
Ich höre das Telefon und weiß, dass es Sarah ist. Sarah, die gewartet hat. Sarah, die Ahnungslose, Sarah, meine Freundin. Sarah, die Schwester von Aaron.
O Sarah, ich werde dich nie wiedersehen! Denn wie soll das gehen??
Ich muss eingeschlafen sein. Als ich wach werde, ist es dunkel, aber Lena sitzt an meinem Bett. Sie streicht mir die Haare aus der Stirn und fragt: «Was ist passiert?»
Da endlich kommen die Tränen. Und Lena hebt meine Bettdecke und schlüpft zu mir ins Bett, sie nimmt mich in die Arme und wiegt mich. Sie sagt nichts, sie drängt nicht, sie liegt nur neben mir. Sie ist meine wunderbar stille, sanfte Mutter und leidet mit. Sie weiß, dass diese Krankheit kein Virus und kein Bazillus ist, sie weiß es einfach. Und ich liebe sie heftig. Ich bin so unendlich froh, dass sie da ist. Und dass sie es ist, die versteht, und nicht Pom, denn ihm könnte ich es nicht erzählen. Pom würde zum Killerwal. Zu einer ganzen Herde davon.
Ich will reden. Und dieser Drang ist so heftig, dass ich es auch schaffe. Ich rede und Lena hört zu. Ich spüre, wie auch sie einfriert, ihr ganzer Körper wird steif, aber sie unterbricht mein Gestammel nicht, sie liegt ruhig und hält mich fest.
Irgendwann sagt sie: «Das ist jetzt unsere höchst eigene Frauensache! Morgen werden wir beide Tante Greta aufsuchen. Und wir werden einen Plan machen. Und ich schwöre, er wird es bereuen!»
Das ist meine Mutter. Sie fühlt, was los ist, sie beschützt mich, sie liebt mich. Und sie kann sogar reden, wenn es nötig ist.
Ich kuschle mich fest an sie, und wir schlafen zusammen ein.
Am anderen Morgen, es ist Samstag, bringt Pom seinen beiden Zuckerschnecken mit viel Trara und Trörö ein Frühstück ans Bett, das ist allererste Sahne, er setzt sich uns gegenüber ans Bettende, und Lady rollt sich auf seinem Schoß zusammen. Er meint, ich sähe schon viel besser aus. Gestern hätte ich ausgeschaut wie eine fünf Wochen alte Wasserleiche. Und wir lassen ihn Pom sein, Pom, der voll danebenliegt. Aber immer wieder ertappe ich meinen Vater, dass er an seinem Brötchen kaut und sehr aufmerksam und hoch konzentriert in mein Gesicht blickt und nachdenkt. Pom ist auf einer Fährte. Und das kann gefährlich werden.
Ich dusche fast eine volle Stunde und höre erst auf, als Pom an die Tür klopft und wissen will, warum das Wasser so lange rauscht und ob ich vorhabe, mit der Wasserrechnung uns alle in die Pleite zu jagen, haha. Er wird irgendwie immer misstrauischer. Als er endlich mit Matte nach Ascheberg aufbricht, wo sie Schappikowski und die Katzenbande spielen sollen, atmen Lena und ich durch.
Lena macht noch ein paar Anrufe, und ich staune, wie lange am Stück sie reden kann. Dann darf ich auf ihr kleines Motorrad klettern, und wir brausen zu Tante Greta. Die Fahrt tut mir gut, ich liebe es, mich an Lena festzuhalten und die Maigerüche um mich herum zu beschnuppern.
Als wir bei Tante Greta ankommen, weiß ich, alles wird gut. Nichts wird mehr sein wie vorher, aber alles wird gut. Ich bekomme wieder genügend Luft in meine Lungen, die sich seit gestern einfach zusammengefaltet hatten auf die Größe eines Bonbonpapiers, und drücke Lenas Hand.
Als wir auf dem Balkon sitzen, mit einem Krug Eistee zwischen uns, und Tante Greta mich auffordert zu erzählen, erschrecke ich so sehr, dass – schnapp! – meine Lungen sich wieder zusammenkrumpeln und ich Atemnot bekomme. Da klingelt es, Tante Greta verschwindet und kommt etwas später mit Mone und Britta zurück. Ich verschlucke mich und muss husten und keuchen, und jede Einzelne nimmt mich in den Arm und drückt mich liebevoll. Vier Frauen an meiner Seite, was soll da noch schiefgehen? Frauenpower for ever!
Und ich schaffe es, mit schluchzenden Unterbrechungen und kleinen und großen Pausen, jedes, tatsächlich jedes Detail zu erzählen, und bin danach so leer wie ein ausgekippter Eimer mit Schmutzwasser. Alle schweigen. Tante Greta ist ganz blass, Mone und Britta schauen in die Kastanie, und Lena hält meine Hand.
Tante Greta steht auf. «Wir lassen wegen David und Sarah seine Familie aus dem Spiel. Aber ihm machen wir die Hölle heiß. Er wird es nie mehr vergessen!»
Ihre Stimme ist klar und energisch. «Ich habe da eine Idee. Und die Mädels in meiner WG werden sich die Hände reiben und mitmachen. Je mehr, umso besser!»
Und ich kann meinen Kopf heben, in die Sonne blinzeln und eine neue Hoffnung in mir wachsen lassen. Und ich flehe: Lieber, lieber Gott, lass nichts zwischen Sarah, David, Phil und mir treten! Ich bitte dich inständig. Danke!
Drei Wochen gehen ins Land. Lena und ich haben heimlich ein volles Trainingsprogramm. Tante Greta weiß Bescheid, Pom nicht. Unsere Trainingsstunden müssen wir um seinen Terminkalender legen, damit er nichts merkt. Ich habe den Verdacht, dass er längst alles weiß. Keine Ahnung, wieso und woher. Und keine Ahnung, wieso ich diese Ahnung habe. Vielleicht hat er auch mitgekriegt, dass wir Frauen das allein regeln, weil es eine Frauensache ist, und hält sich zurück. Kann sein. Kann nicht sein.
Mone, Britta und drei Mädels aus Tante Gretas WG machen mit. Schaden kann es auf keinen Fall, sagen sie. Man weiß ja nie. Britta, Lenas beste Freundin, die Heilpraktikerin und Hebamme ist und mich auf die Welt geholt hat, hat in ihrem Geburtshaus in Dortmund einen großen Raum für Schwangerschaftsvorbereitung, für Yogakurse, Mutter-Kind-Gymnastik und seit jetzt auch für eine Selbstverteidigungsgruppe. Wir sind insgesamt zehn Frauen und haben einen Trainer: Louis.
Louis ist das Herzstück unserer Gruppe. Er ist fast fünfzig, kommt aus dem Kamerun und ist so schwarz wie ein Kohlestück. Und ich glaube, wenn wir an ihm knabbern dürften, würde er wie eine dunkle Kaffeecremepraline schmecken. Er ist einfach wunderbar. Alle, ich schwöre, würden das liebend gerne mal heimlich tun. Nur so ein winziges, flohgroßes Häppchen ...
Aber nix da! Er ist im Training so unbarmherzig streng, dass wir noch nicht einmal wagen, in unseren verzweifeltsten Momenten flach zu atmen und betreten zu Boden zu blicken. Flachatmung, betretenes Blicken, verzagte Körperhaltung, entsetztes Quieken, peinliches Berührtsein oder gar feiges, kraftloses, dem Peiniger bloß nicht wehtunwollendes Abmindern unserer Schläge, das alles wird erbarmungslos in unseren Köpfen, in unserem Körper ausgerottet. Wenn Gefahr droht, muss gehandelt werden. Unverzüglich, reflexhaft. Und diesen lebensnotwendigen Reflex, den wir aber nicht haben, den man uns leider, leider ausgetrieben hat wegen unserer blöden Erziehung zu «lieben Mädchen», wie Louis meint, den bläut er uns ein.
Wir vergießen Schweiß und Tränen (ehrlich, wir Frauen tun uns lieber selber weh), und wir üben, üben, üben. Und wir schaffen es! Louis verlangt eine Abschlussprüfung, und wir schleudern, verdrehen, quetschen, werfen und treten zielgenau, wir sind großartig, wir sind wild und gefährlich! Alle.
Und dann feiern wir, was das Zeug hält. Louis ist das reinste Tanzwunder, mir wirbelt jetzt noch der Kopf, aber seitdem kann ich den perfekten Hüftschwung und das Hinterngewackel beim Salsa und das wunderbare Stampfen bei den afrikanischen Tänzen, die ich liebe. Ich glaube fast, ich bin schon wackelnd, stampfend, hinternschwingend auf die Welt gekommen. Louis meint, ich sei eine Naturbegabung. Und ich sollte das Bauchtanzen ausprobieren, auch dafür gibt er (!) Kurse.
Ich will versuchen, Sarah zu überreden, bei diesem Tanzkurs mitzumachen, damit ich normalen Umgang mit ihr üben kann. Mit David und Phil habe ich es geschafft, mit Sarah tue ich mich immer noch schwer. Bei ihr zu Hause bin ich seit diesem unaussprechlichen Keine-Worte-dafür-Tag nicht mehr gewesen, obwohl mich ihr kleiner Monsterbruder immer wieder eingeladen hat. Sie natürlich auch. Aber ich erfand immer irgendeine Ausrede. Irgendwann mal, glaube ich, werde ich ihr alles erzählen. Wenn ich kann. Und wenn es dann noch notwendig ist. Aber im Moment kriege ich das nicht hin. Und wenn ich an ihre wunderbare Mutter denke und ihren Vater, weiß ich erst recht nicht, was ich machen soll.
Dann kommt der Rundruf von Tante Greta. Wir ziehen in den Kampf. Wir gehen ins Matratzenlager!, so würden die Mafiosi es nennen. Unsere Besprechung ist ein konzentrierter Kriegsrat, wir werden zu Amazonen, zur Kriegsgöttin Athene und zur schwarzen Göttin Kali in einem. Wir sind zusammen acht Frauen. Acht Frauen gegen einen Mann, der keiner ist, der das bloß meint. Und der acht Kriegs- und Rachegöttinnen verdient hat. Und der von allem nichts weiß. Das ist das Beste.
Es war ein Freitag. Wie Tante Greta all die Einzelheiten herausgefunden hat, die nötig waren, dass unser Plan gelang, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass sie aus ihrer Berufszeit als Journalistin eine Menge Verbindungen hat. Sogar weltweit. Wir fuhren mit Brittas Toyota und mit Mones klapprigem Opel Corsa. Mone fuhr vorneweg, sie brachte uns zum Uni-Gelände in Essen. Für mich ein Labyrinth mit unlösbaren Geheimnissen. Mone aber kannte sich hier aus und fand mühelos den Parkplatz, dessen Plan 007 wohl Tante Greta in ihren geheimen Postkasten geworfen haben musste. Bis auf Tante Greta waren wir alle unauffällig angezogen, T-Shirt und Jeans. Lena hatte ihr schönes Haar unter einer Baseballkappe versteckt, ansonsten trugen wir unsere Sportschuhe und Sonnenbrillen. Und – Amazonen hin und her, Kampfgeschrei und Kampfgelüst im Herzen – wir waren aufgeregt. Genau das, was Louis uns auszutreiben versucht hatte. Ich hätte ihn jetzt gerne bei uns gehabt, aber das hier war eine reine Frauensache. Acht Frauen zogen in den Krieg.
Ich sah Aarons schwarzen Käfer schon von Weitem, er stand ziemlich allein, so spät an einem Freitagnachmittag waren die meisten Studenten bereits im Wochenende. Guter Zeitpunkt. Wir parkten etwas entfernt ihm gegenüber. Tante Greta hatte den ersten Part. Dann würden wir dazukommen.
«Wenn er nach Seminarschluss sofort nach Hause will, wird er gleich kommen», meinte sie. Sie schaute mit ihren Eulenaugen über den Parkplatz. Ich musste Bescheid sagen, wenn er kam. Keiner der anderen wusste, wie Aaron aussah, aber natürlich hatte ich ihn beschrieben. Mittelgroß, dunkelhaarig, fast gut aussehend, aber nur fast, weil sein Gesicht jetzt schon ein wenig schwammig war. Kann aber sein, dass meine Augen da nicht fair waren. Jedenfalls konnte er in keiner Weise mit seinem jüngeren Bruder Phil oder mit Sarah mithalten. Und David schlug sowieso alle in Punkto Schönheit ...
Als ich ihn kommen sah, drückte eine Riesenfaust mein Herz auf Erbsengröße zusammen, und ich gab einen Klagelaut von mir. Tante Greta griff meine Hand. Und ich hörte Louis’ Mahnung: ‹Im Kopf bleiben, Mädels! Denken! Nicht fühlen!› Das half.
Aaron ging müde und langsam. Er war tatsächlich allein und so gut gekleidet wie immer. Teure Jeans und ein Leinensakko, italienische Schuhe und eine prachtvolle Ledertasche. Er ging zielstrebig auf sein Auto zu. Er sah erschöpft aus und kramte lange nach dem Schlüssel.
Tante Greta steigt aus. Sie hat ihren eleganten Sommerhut mit der breiten Krempe aufgesetzt und trägt ihr fliederfarbenes Seidenkleid mit kleinem Jäckchen. Selbst ein Stoffel von Mann würde ihre Eleganz erkennen. Sie geht über den Weg auf Aaron zu, der sie noch nicht bemerkt hat. Erst als ihr Schatten vor sein Auto fällt, blickt er auf. Er ist sichtlich überrascht. Und arglos.
Tante Greta bittet ihn um Feuer und fragt ihn etwas, keine Ahnung was. Aaron ist zur Höflichkeit erzogen worden, er tut sofort auf «Mann von Welt» und steht betont lässig vor ihr. Sie sind fast gleich groß. Tante Greta beugt sich zum Feuerzeug und muss dabei irgendetwas gesagt haben, denn Aaron weicht plötzlich zurück und schaut sich um. Jetzt steigt Lena aus, die anderen drei folgen. Alle tragen ihre Sonnenbrillen. Nur ich soll keine tragen. Und: Ich soll noch warten.
Ich will aber raus, mit sirenenschrillem Kampfgeschrei in sein Gesicht mit dem Hohngelächter springen und dann volle Lotte dieses höhnische Grinsen herunterkratzen. O Louis, das hast du uns nicht beigebracht, sorry. Und ich will mich tief unter der Erde in einer dunklen, sicheren Höhle verkriechen. Beides! Mone ahnt, was in mir los ist, und drückt mich kurz.
Aaron verschränkt beide Arme vor der Brust und ist bis zu seinem Auto zurückgewichen. Er kennt Lena nicht, vielleicht weiß er bis jetzt noch nicht einmal, worum es hier gerade geht. Meine beherzte Mutter stellt sich vor ihn, fasst ihm derb in den Schritt, dass er quiekt wie ein Schwein, und als er beginnt, um sich zu schlagen und zu treten, sind Britta und Klara zur Stelle, schnappen ihn mit geübtem Griff, biegen seine Arme nach hinten, und Lena und Sheila öffnen seine Hose und ziehen sie herunter. Aaron ist so blass wie eine Scheibe Ziegenkäse. Er jammert und winselt, sein grobes Gefluche ist ihm wohl in seine Unterhose gerutscht. Er strampelt und strampelt, aber er hat keine Chance, Louis sei Dank. Jetzt schubst mich Mone aus dem Auto. Ich hole tief Luft, so wie Louis es uns gelehrt hat, straffe mich und lasse jeden Mitleidsgedanken hinter mir. Rechts und links an meiner Seite sind Mone und Emma. Emma ist so breit und kraftvoll wie zwei Amazonen zusammen. Sie macht Eindruck, mächtig viel Eindruck. Wir gehen betont langsam auf Aaron zu, im Western käme nun eine grandiose, aufputschende, spannungsgeladene Gänsehautmusik.
Aaron windet sich, aber er ist machtlos. Als er mich erblickt, werden seine Augen ungläubig. Sie werden messerscharfe Schlitze und scharfkantiges Packeis.
Ich kann lächeln. ICH! KANN! LÄCHELN!
Ich darf seine Hose gänzlich herunterziehen, dann seine Unterhose, karierte Boxershorts. Sein männliches Beweisstück hat sich gerade vor lauter Schiss verkrümelt. Soll mir recht sein. Ich zeige jedenfalls darauf, und wir brechen in ein Hohngelächter aus. Tante Greta nimmt ihm den Autoschlüssel ab. Lena hat eine pinkfarbene und neongrüne Sprayflasche dabei und sprüht genüsslich, gekonnt und schnell Mädchenschänder auf die eine Seite des Wagens und auf die andere: Ich bin ein Schwein. Dann drückt sie mir die grüne Sprayflasche in die Hand, und ich sprühe einen großen, giftgrünen Fleck über all seine Kronjuwelen, und es sieht aus, als hätten seine Kostbarkeiten eine teuflische Eiterung oder einen ekligen Schimmelbefall bekommen.
Aaron kreischt jetzt. Wir sehen uns an. Tante Greta beugt sich noch einmal zu ihm hinunter und sagt: «Das war’s, Herr Liebermann. Sollte irgendetwas von Ihrer Seite folgen, werde ich höchstpersönlich die Polizei und Ihren Dekan informieren. Überlegen Sie es sich gut, was Sie nun tun werden.»
Sie winkt huldvoll, und wir setzen uns in Bewegung, provozierend langsam und hoch aufgerichtet. Seine Hosen nehmen wir mit, und den Autoschlüssel wirft Tante Greta ins wilde Gestrüpp hinter dem Parkplatz.
Dann steigen wir ein und fahren los. Aaron hockt vor seinem Auto, hält sich die Hände vor sein froschgrünes, wie heißt es doch immer so schön: sein «Gemächt» und ist ein einziges Häufchen Elend.
Tante Greta lächelt bitter und sagt: «Würde mich schon interessieren, wie er nach Hause kommt.» Klar, das ist ja der zweite Teil unserer Rache, das wird ihm noch übel zusetzen, aber unser Part ist vollendet. Und außerdem wollen wir auch nicht mehr in seiner Nähe sein. Natürlich wüssten wir zu gerne, welche Erklärungsversuche er irgendwem irgendwann später geben würde. Aber man kann nicht alles haben. Vielleicht würde ich was von Sarah erfahren. Und wenn ja, dann wäre es an der Zeit, ihr alles zu erklären. Dann würde ich es gerne tun.
Bei Tante Greta gab es einen Umtrunk, wir waren alle seltsam still. Jede wollte für sich sein. Wir nahmen uns zum Abschied in die Arme und gratulierten uns. Aber wir waren auch beklommen. Rache ist nicht immer süß.
In zwei Dingen waren wir einig und ganz sicher: Das würde Aaron nie vergessen. Und: Frauen, die zusammenhalten, sind unschlagbar. Yeah! Und noch ein Drittes fiel mir später ein: Louis hatte uns stark gemacht. Genau für diese Notfälle des Lebens. Danke, Louis aus dem Kamerun!