Keine Ahnung, wie ich ins Bett gekommen bin, wie und wann die Jungs und Masseltow sich verkrümelt haben, keine Ahnung, wer mich ausgezogen und ins Bett gelegt hat. Ich flehe sofort um einen handfesten Gedächtnisverlust, der alles wegwischt, alle Peinlichkeiten und alles mit Pom und Kristin, denn dieses Bild von den beiden in der Dunkelheit taucht plötzlich grell erleuchtet in meinem Kopf auf.
Scheiße, jetzt bin ich hellwach und friere so heftig, dass meine Zähne anfangen zu klappern.
Durch die schrägen Dachfenster fällt die Sonne in breiten Bahnen, gelb und dick wie Honig, in mein neues Zimmer, das ich heftig verwünsche. Das ich auf der Stelle mit meinem kleineren Zimmer in unserer alten, kleineren Wohnung tauschen würde, das ich vor dieser Zeit hatte, als Pom noch ein wunderbarer, wenn auch manchmal unzuverlässiger und schräger Vater, ach, was rede ich denn da, ich meine Ehemann war.
Unter mir höre ich Geräusche, das Haus erwacht, ich weiß nicht, wie ich jemals wieder meinen Eltern in die Augen sehen kann. Zum Teufel mit dem Herbst und seiner Angebersonne, zum Teufel mit diesem neuen Haus mit seinen großen Zimmern, seinen Farben und seinem Licht, das sich als tückisches Zwielicht entpuppt hat, zum Teufel mit meiner Ex-Freundin und zur Hölle und zum Teufel mit meinem Vater, vierundvierzig Jahre alt und durchgeknallt wie ein geschlechtsreifes Erdmännchen!
Ich knirsche mit den Zähnen, steige in meine Jeans und nehme irgendein T-Shirt aus dem verrutschten Stapel, den ich noch nicht eingeräumt habe, ich ziehe dicke Socken über, denn der Holzboden ist kalt, beiße mir in meiner Wut und Überforderung die Lippen wund, aber im Bett bleiben kann ich auf keinen Fall. Ich kann da nicht liegen und warten, dass das Schicksal es schon richten wird oder der liebe Herrgott das macht, weil heute Sonntag ist. Ich werde ganz krisselig, als würde ich immerzu kleine Steinchen in mich reinwerfen, die tausend Ringe ziehen. Ich bin so nervös, dass ich glatt meine Nägel abkauen könnte, es ist nicht zum Aushalten. Und obwohl ich nicht weiß, was ich jetzt tun soll, muss ich was tun. Sofort. Und gleich.
Im Bad sehe ich ein bleiches Gesicht mit verschmiertem Kajal und verklebter Wimperntusche unter den Augen, Nosferatus Tochter lässt grüßen, der Geschmack im Mund ist zum Erbrechen, meine Haare zerrupft, und es dauert eine Weile, bis ich mich wiedererkenne, besser dufte und einen frischen Zahnpasta-Atem habe. Aber mein Kopf ist eine dumpfe, eirunde Angelegenheit, sozusagen ein angetitschtes, halbgares Osterei.
Ich schleiche nach unten. Lenas Zimmer steht weit auf, das Licht spielt mit seinen eigenen Schatten, das Grün der großen Zimmerlinde und das von Lenas riesigem Avocadobaum leuchtet in allen Nuancen und zittert auf dem Boden und auf den Wänden, die Blumen auf ihrem Korbtisch sind pralle rote Dahlien, die in ihrer Vollkommenheit fast schon unecht aussehen.
Vor ihrem Bett liegt ihre hauchzarte, sündige Wäsche verstreut, ich sehe Poms Leinenhemd über ihrem Korbsessel. Das Zimmer ist leer, und ich kriege einen Moment keine Luft.
Ich ziehe mich zurück. Poms Zimmertür ist verschlossen. Ich schleiche mich daran vorbei die Treppe hinunter und sehe in der Küche im Gegenlicht eine Person hantieren, Geschirrberge zusammenstellen und Schüsseln auskratzen, ich gehe näher, will Lena von hinten umarmen, da sehe ich, dass es Mone ist. Und Matte kommt gerade aus dem Garten herein, er trägt einen Korb mit den eingesammelten Gläsern, lächelt mich an, scheu und unbeholfen und meint, als er mein verblüfftes Gesicht sieht: «Das haben wir ihnen alle zusammen geschenkt, dass sie nicht aufräumen müssen. Is’ doch eine klasse Idee, findest du nicht? Klausi hat sie vorhin abgeholt und zu einem Wahnsinnsfrühstück nach Bredeney gefahren, du weißt schon, das teure, oben auf dem Berg mit der Wahnsinnsaussicht, piekfein und edel. Äh, ja, gleich kommen die andern und helfen ...»
Er hüstelt und weiß nicht mehr weiter, weil ich so stumm bin wie die Maus im Bauch einer Katze. Was soll ich sagen?
Matte kann mein fassungsloses Gesicht nicht deuten, er redet drauflos: «Also, du warst ja irgendwann nicht mehr ansprechbar, hat Ötte jedenfalls gesagt, Rotwein und so ...», er räuspert sich, «und deine Tante hat ... sich dann um dich gekümmert ... Du sollst sie anrufen, hat sie gesagt, also, die ist schon irgendwie beeindruckend, ich meine, eine richtig tolle Frau in ihrem Alter, ja, äh ...»
Matte gibt jetzt auf. Ich stehe immer noch stumm und blöd wie eine Stange Porree vor ihm. Da nimmt ihm Mone den Korb ab, küsst ihn kurz auf seine unrasierte Wange, schiebt mir einen Becher Karokaffee hin, sie hat sich gemerkt, dass ich den neuerdings trinke, und sagt: «Mirjam, mach mal in aller Ruhe, lass dir Zeit, und dann fährst du zu deiner Tante. Und wenn ihr alle wieder zurück seid, ist euer Hexenhaus wieder blitzblank!»
«War doch ’ne klasse Idee von Mone?», fragt Matte jetzt kleinlaut, aber beharrlich, weil er immer noch keine Begeisterungsschreie von mir hört.
«Ja, eine klasse Idee.» Ich nicke höflich. Hoffentlich finden Pom und Lena das auch. Ich habe zumindest eine kurze Zeitspanne gewonnen. Und Tante Greta wird mir guttun, auch wenn ich mein Geheimnis wie einen Mühlstein um den Hals trage und es dort bleiben wird.
Ich nehme Matte und Mone kurz in den Arm, gehe mit meiner Tasse in den sonnigen Garten und setze mich unter den Birken ins nasse Gras, da kommt Matte mit einem Hocker rausgeeilt, den schiebt er mir unter den Hintern, verschwindet wieder, und ich höre das Gemurmel in der Küche wie fröhliches Wasser über kleine Kieselchen laufen, und es scheint Lichtjahre von mir entfernt auf einem Planeten, den ich nicht kenne.
Als die ganze WG-Bagage anrollt, mit viel Krach und Gelächter, und erst mal in aller Ruhe eine kleine Reste-Dinner-Party macht, schnappe ich mein Rad und radle los. Ich atme in tiefen Zügen die klare Luft ein, aus, ein, aus, ein, bis ich bei Tante Greta ankomme.
Sie nimmt mich in den Arm, dann schiebt sie mich von sich weg und schaut mich eindringlich an. Ja, da kann sie schauen, solange sie will, mein Geheimnis wird sie nicht erfahren! Heißt das, dass ich es nicht tue, weil ich auf keinen Fall meinen Vater verraten möchte, diesen Verräter? Bin ich eigentlich plemplem, oder was? Aber ich weiß nur, dass ich es nicht erzählen werde. Ich kann es nicht. Als das Bild vor mir aufblitzt, wie er in der Dunkelheit so dicht bei Kristin steht und ihr eine Locke aus der sechzehnjährigen hormonheißen Stirn streicht, merke ich, wie meine Gesicht zu glühen beginnt.
Tante Greta mustert mich noch immer, und damit ich jetzt nicht dummes Zeugs erfinden muss, plappere ich drauflos, beichte meinen Rotweinausrutscher, erzähle in allen Einzelheiten von Davids Zivildiensterlebnissen in der Behinderteneinrichtung, berichte von weiteren Crazy Dogs-Plänen und quassle und quassle.
Irgendwann greift Tante Greta meine Hand und sagt: «Mirjam, was ist los? Es ist doch etwas passiert!»
Und da habe ich geradezu eine Erleuchtung. Ich will sie ruhigstellen, ich kann es ihr einfach nicht sagen, ich kann es nicht. Und was sagt Mirjam, die sich plötzlich als eiskalte, geniale Lügnerin entpuppt? «Ich hab von Aaron geträumt, ich hab alles noch einmal durchgemacht ...» Ach, du heilige, nein stinkige Ölsardine! Ich bin so verdammt abgebrüht, dass es mir selber die Sprache verschlägt, und ich verstumme.
Tante Greta erschrickt. Sie ist ohne Arg, weil diese unsägliche Geschichte mit Aaron in einer längst vergangenen Zeit fast so heftig war wie jetzt mein Kummer, ach Quatsch mit Soße, Aaron war nichts dagegen.
Sie glaubt es mir. Sie drückt mich und bohrt nicht weiter. Aber beim Abschied schaut sie eine Weile höchst konzentriert in mein Gesicht. Und ich bekomme einen Mordsschreck, dass sie vielleicht doch gemerkt hat, dass ich eine Natter bin mit einer kilometerlangen Lügenzunge.
Nun, dieses Wochenende im Oktober wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Ich denke, vielleicht werde ich später meinen Enkeln davon erzählen und hoffentlich behaupten können, dass alles, was ich damals als großes Drama erlebte, nichts weiter war als eine kleine Luftverwirbelung. Der Flügelschlag eines Fledermausbabys. Pffff, und weg.
Tja, das hab ich damals gedacht.
Als ich müde an unserem Haus ankomme, sehe ich Pom und Matte hinten im Garten sitzen, ein Feuer lodert in der kleinen Feuerstelle, sie haben Bierflaschen in der Hand, und ich höre sie reden. Sie stecken die Köpfe zusammen, und es sieht wichtig aus. Vielleicht sind sie mitten in der Endphase zu diesem neuen Stück, das nicht so richtig rund zu bekommen ist. Lena hat ihnen ziemlich viele Hinweise gegeben, woran es liegen könnte, aber sie glauben, sie müssen es allein hinkriegen. Kerle!
Ach, Lena! Wo steckt Lena?
Ich schleiche ins Haus, ich will jetzt auf gar keinen Fall Pom begegnen, in seine Augen schauen und vielleicht noch obendrein einen seiner bekloppten Pom-Sprüche hören, «Kind meiner Lenden» und so ...
Aber Lena sitzt mit Britta an unserem ellenlangen Küchentisch, den hat Klausi aus alten Bohlen gebaut, ohne einen einzigen Nagel, sie trinken Kaffee. Britta konnte gestern nicht kommen, weil ein Baby überraschend auf die Welt wollte. Sie ist im ganzen Ruhrgebiet bekannt. Mich hat sie auch auf die Welt geholt. Ach Britta, gut, dass du da bist, so habe ich noch etwas Schonzeit. Ich höre meine Mutter lachen, ja bitte, Lena, lach noch eine Weile, ehe dir das Lachen vergehen wird.
Zack, jetzt kriege ich ein Flatterherz und Luftprobleme! Schonzeit, wofür? Wofür habe ich Zeit gewonnen? Wenn ich das mal wüsste! Ich will Pom umbringen, Kristin zerhäckseln, ich will einen Vater haben, der pralle, frühreife Früchtchen zum Kotzen findet, ich will einen Pom haben, der zwar bekloppt ist, aber nicht so, unter der Gürtellinie, ha, wie stimmig! Werden alle Männer irgendwann so, etwa Mitte vierzig? Ein einziger Unterleib? Ein dickes, hüpfendes, durchgeknalltes Hormon?
Und dann die einzige wirklich wichtige Frage in meinem Leben: Wie kommen wir wieder heraus aus diesem Schlamassel? Und kommen wir überhaupt wieder heraus?
Ja, verdammt noch mal, Pom soll in der Hölle schmoren! Und wenn Sarah morgen zurück ist, brauche ich ihren Rat. Wie gut, dass Lena nichts weiß! Und dass morgen Montag ist, da kann ich Kristin die Haare ausreißen, jedes einzelne ihrer gefärbten Härchen, ich werde ihr die Augen zerkratzen und ihre prallen Angeberbrüstchen zu Mus zerquetschen. Zu klebrigem Apfelsinenbrei.
Ich muss nur höllisch aufpassen, dass ich nicht alles vermassle. Es gibt sogar ein jiddisches Wort dafür: Schlimassel. So nennt man, glaube ich, die Person, die das alles angerichtet hat. Ein neuer Name für meinen Vater: Pom Schlimassel.
Ach, wie gerne wäre ich wieder zwölf, dann würde ich dieses Wort in mein Heft von Tante Greta schreiben, ich würde voller Freude auf Pom warten, dass er endlich mit dem Theaterbus nach Hause kommt. Ich würde ihm entgegenlaufen und quietschen, wenn er mich schnappt und herumwirbelt. Das waren noch Zeiten! Vor tausend Jahren.
Ich hauche ein kleines «Hallo» in die Küche, schicke ein «Hab noch was für die Schule zu tun» hinterher und schleiche nach oben. Ich schmeiße mich zu Lady in meine Kissen, schaue in den Himmel über mir, ein Fenster ist direkt über meinem Bett. Und dann geht es los. Einfach so. Aus dem Hinterhalt.
Ich kriege die erste Panikattacke meines Lebens.
Und unten sitzt Britta, die wüsste auf der Stelle, was zu tun wäre. Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht schreien, ich kann nicht richtig atmen, ich bin ein tonnenschwerer Betonklotz, der mich in die schwärzeste Stelle in mir hineindrückt, tief, tiefer, am tiefsten, er drückt mich an diesen Ort, wo die Angst und die Kälte ihre Käfige haben, die mich sofort gefangen nehmen. Ketten rasseln und Schlösser schnappen zu, und ich kriege keine Luft. Ich möchte mich winden, möchte auf meine Brust schlagen, dass sie die Luft wieder freigibt, möchte nach Lena rufen, aber ich kann es nicht.
Als ich zu mir komme, klappern meine Zähne, und ich friere so sehr, dass ich heftig zittere. Mein Bett, meine Haare, mein T-Shirt, alles ist klitschnass. Lady sitzt auf meiner Brust und hat die Nackenhaare gesträubt, ihre Augen sind tief und aufmerksam, jetzt leckt sie vorsichtig meinen feuchten Arm ab. Und ich bin so schrecklich erschöpft, dass ich noch nicht mal aufstehen kann, um frische Sachen anzuziehen. Aber ich kann mich wieder bewegen und bekomme wieder Luft. Ich streichle Lady und streichle sie. Das holt mich wieder zurück. Es ist vorbei. Am Montag fehlt Kristin in der Schule, und ich bin erleichtert. Eine Gnadenfrist ist mir gewährt. Und ihr auch.
Als die Schule endlich aus ist, sehe ich David, er hat heute Spätschicht, und wir setzen uns hinten auf dem Schulhof in den Schatten. Er blickt mich an, und ich schaue auf den Boden. Was soll ich sagen?
«Kannst du es nicht erzählen?», fragt er.
Ich nicke betröppelt ein Nein und hoffe, dass er versteht. Das tut er, er kennt sich ja darin aus. Wir reden über alles Mögliche, über das gelungene Fest (haha), über unseren grandiosen Auftritt (jawoll) und über unser schönes, lichtes Haus (ne, ne, kein Licht mehr, nur noch tiefste Schwärze).
Und ich bitte David, Sarah auszurichten, dass sie mich anrufen soll, ich trau mich immer noch nicht wegen Aaron. Da erzählt David plötzlich punktgenau, dass Aaron überraschend beschlossen habe, in Bologna zu studieren, dort sei er seit September. Er kann perfekt italienisch, er hat eine Naturbegabung für Sprachen, dieses Frettchen. Und er berichtet, dass Sarah jetzt seinen VW hat. Den hat er vorher noch burgunderrot lackieren lassen. Keiner weiß, warum. Sarah hätte ihn auch in Schwarz genommen.
Jetzt, bei Aarons Namen, schleicht sich eine weitere Panikattacke auf leisen Fellpfoten an, ich beginne schon zu zittern, da schaut David auf seine Uhr, erschrickt, weil er los muss. Er muss zur Uni und Bücher zurückbringen. Und schon sprintet er davon und kriegt nichts mit. Ich atme durch, sauge die Luft tief in mich rein, tue das immer wieder, und es ist vorbei.
Aaron schrumpft auf ein Läuse-Ei zusammen. Aaron ist weit weg. Nur ruhig Mirjam, kein weiteres Problem. Krieg dich wieder ein.
Nach der Schule fahre ich bei Ötte vorbei, ich kann jetzt nicht nach Hause. Und er freut sich so sehr, dass ich drauf und dran bin, ihm von Pom zu erzählen. Aber Ötte würde sofort losziehen und ihm die «Fresse polieren», also lass ich es, aber ich war drauf und dran, weil ich es endlich loswerden möchte. Masseltow oder Friend, denen könnte ich es erzählen, Lady sowieso, aber würde mir das helfen? Also knubble ich Masseltow bloß kräftig durch, gehe mit Ötte noch einmal unseren Auftritt durch, tue auf peinlich berührt, als der Rotwein erwähnt wird, und mache mich wieder davon.
Und das Schicksal will mich wohl wirklich noch etwas schonen. Als ich zu Hause ankomme, ist unser Haus leer. Selbst Lady scheint ausgeflogen, sie ist irgendwo auf der Pirsch. Ich stehe vor unserem Hexenhäuschen, das wirklich wunderbar heimelig geworden ist, fast wie auf einer Kitschpostkarte. Und – wusch! – da ist wieder diese Ahnung mit ihren schwarzen Flügeln, da ist wieder die Beklommenheit, dass irgendwo die Hexe lauert und unten im Keller ein paar Falltüren sind. Die erste hatte sich ja schon geöffnet, und Pom war voll reingefallen. Im vollen Bewusstsein. Oder? Ja, ein riesiger Reinfall! Haha!
Plötzlich habe ich den starken Wunsch, mit Phil darüber zu sprechen. Was ist das für eine Sache mit der Liebe, mit Verliebtheit, mit Affären, mit Herzschmerz und Herzgetöse und diesem Drama des ganzen elenden Drum und Dran?
Ich verstehe ja leider gar nichts davon, bis auf meinen ersten und einzigen verballerten Versuch, die Liebe zu erforschen, vor einem Jahrhundert oder so, als ich einen Schritt hineingewagt hatte. Und das war ein Schritt in ein gefährliches Gebiet gewesen, ein Stacheldrahtverhau voller Tellerminen. Und ich war voll reingelatscht. Das reicht mir erst mal.
Ich übe einen abgrundtiefen Seufzer, so Masseltow-like, wenn er nicht sofort seine Fleischwurst kriegt, ich mache mir ein Butterbrot in unserer zusammengebastelten Küchenecke, schnappe mir die Kanne mit dem kalten Zitronentee, die noch vom Frühstück auf dem Tisch steht, und gehe nach oben auf mein Zimmer. Unser enger Hausflur ist der bunteste Hausflur aller Zeiten, jede Stufe, jeder Winkel, jede Geländerstrebe hat eine andere Farbe, das waren Lena und Mone. Und Matte hatte zur Feier des Tages eine Lichterkette um das komplette Geländer gewickelt, die will Pom jetzt unbedingt dranlassen, wo die Tage schon heftig kürzer werden und er das Lichtgeschimmer so schön «wuschigmuschigkuschelig» findet.
«Scheiß drauf, Pom», sage ich grimmig. «Scheiß auf dein wuschigkuschelig, schmier dir das in deine dünnen Haare!»
Ich mache die Lichterkette an und denke: Ja, ein wenig Kitsch hoch zehn, ein wenig Knusperhaus und ein wenig schräg, ein wenig Matte und Mone und ganz viel Lena. Auch ein wenig Pom, Mirjam und Lady. Und der dunkle Zauberspruch einer zerstörerischen Hexe.
Als ich an Poms Zimmer vorbeikomme, ist die Tür nur angelehnt, und ich stoße sie auf. Ich betrachte sein ganzes Chaos, das mal wieder vor und auf seinem Bett verstreut ist. Pom hat ein Riesenbett, das er liebt und in dem er manchmal thront wie ein Kurfürst in seiner Pracht und Herrlichkeit. Pom lebt einen Teil seines Lebens im Bett, mit all den Dingen um sich herum, die er dazu braucht, ein Tablett mit Kaffee, Wein und Leckereien, ganz viel Papierkram, seine Bücher und Notizen, Zeitungen, die Fernbedienung für seine Musik und jede Menge Krimskrams. Und am liebsten mit Lady mittendrin. Sein großes Vorbild ist Proust, der hat wohl nur im Bett gelebt, dort geschrieben und Hof gehalten. Aber länger als eine Stunde hält Pom das nicht aus, dann springt er heraus wie ein angestochener Bär, er muss sich bewegen und schön heftig die Luft um sich herum verwirbeln. Und das Leben gleich mit dazu.
Pom hat in seinem Zimmer jede Menge schöne alte Schrankkoffer, diese Überseekoffer aus Holz, die er sammelt, da sind seine Klamotten und Schätze drin, ein kleiner dient als Nachttisch. Neben seiner Stereoanlage (teuer, teuer!) steht ein Ungetüm von Sessel, passend für den Herrscher hat Lena dunkelroten Pannésamt drübergeworfen. Vor dem Fenster steht sein großer Schreibtisch mit geschätzten siebenhundert Schubladen, voll mit Papieren, daneben ein Holzregal, bis zur Decke prall gefüllt mit Büchern, Schallplatten und Kassetten. Keine Pflanzen. Und über dem Bett das wunderbare Theaterplakat von Avignon, das haben wir auf einem Festival dort erstanden. Jetzt ist es gerahmt und mit Dübeln angebracht, darauf hat Lena bestanden, damit es nicht irgendwann auf ihren Gebieter herunterkracht. Und Pom beschädigt. Pom, diesen Oberblödkopp mit Hirnschaden.
Und natürlich riecht es jetzt schon, wie es bei Pom immer riecht: nach seinen geliebten Räucherstäbchen, nach Gras und seinem Aqua di Selva, das nun auch Matte nimmt. Eine sehr eigenwillige, unverwechselbare Mischung. Pom eben.
Und dann sehe ich, gerade als die Reste der Sonne durch das Fenster am Schreibtisch äugeln, dass dort mein Kalender steht und daneben eine schmale Vase mit einer einzelnen, tiefroten Rose, bestimmt von Lena. Ja, hier steht sie, die heilige Dreifaltigkeit: Pom, Mirjam, Lena. Und auf dem Kalender noch Lady.
Und mich packt ein solch heftiger Zorn und eine so unglaubliche Liebe gleichzeitig, dass ich die Tür zupfeffere, dass es kracht, die Treppen hochstürme und mich in meine Kissen schmeiße. Herr im Himmel, wenn so das Erwachsenwerden ist, dann hast du dir ja was Schönes ausgedacht! Volle Lotte Dünnschiss.
Am anderen Tag ist Kristin immer noch nicht in der Schule, und ich denke: Ist sie feige, oder hat sie kapiert, dass sie sich besser in Luft auflösen soll? Für immer. Und ewig. Dreifaches Amen.
Später, auf dem Rückweg nach Hause, beschließe ich, endlich das Gespräch mit Pom zu suchen. Keine Ahnung, wie, und keine Ahnung, wann. Und Lena darf nicht in der Nähe sein, das ist klar. Aber was und wie sage ich meinem hirnvermurksten Vater, dass er kapiert, dass er Scheiße gebaut hat, gelinde ausgedrückt? Soll ich ihm drohen, es Lena zu erzählen? Soll ich das tun?
Er würde sofort wissen, dass ich das niemals machen würde, es würde sie umbringen. Und obwohl Pom geradezu davon besessen scheint, an verdorbenem, unreifem Frühobst zu naschen, könnte er es, glaube ich, nicht ertragen, wenn Lena leidet. Sie würde entweder abhauen oder sich noch weiter in sich selbst zurückziehen, an jenen geheimnisvollen Ort, an dem sie ganz allein mit sich ist. An diesen Ort, der Pom immer ganz krank macht, weil sie ihn dorthin nicht mitnimmt. Und vielleicht verstößt sie ihn. Schubst ihn einfach raus aus ihrem Herzen. Es wäre kaum auszudenken, was das bedeutet. Pom würde durchknallen, ja, das würde er. Er wäre verloren. Und ich, Mirjam Engels, was würde ich tun, wenn die Familie plötzlich auseinanderbricht? Und diese ganze billige Schmierenkomödie wegen einer aufgebrezelten Tussi mit einem überquellenden Dekolleté, die gerne die Motten verglühen lässt an ihrer geilen Hitze: zisch zisch zisch!
Ich entdecke gerade die Fähigkeit, Groschenromane zu schreiben, ich bin entsetzt. Und jetzt spüre ich in aller Heftigkeit das Anrollen der zweiten Panikattacke, die ersten Kälteschauer jagen schon unter meiner Haut, meine Luft haut ab, und ich radle, was das Zeug hält, ich stehe in den Pedalen, ich muss mich bewegen, keine Starre jetzt, bitte, bitte jetzt keine Starre, ich sauge die frische Luft gierig ein, ich rieche das vermodernde Laub, ich schaue in das Blättergewirbel, ich schreie laut «Hejo, spann den Wagen an», damit meine Luft und meine Stimme sich bloß nicht davonmachen, immer wieder singe ich diesen Vers, als ich durch den Stadtpark radle, dieses Lied hat mir mal klargemacht, was Moll ist, ich strample, ich singe mir die Kehle heiser, und dann merke ich, wie es abklingt, es zieht sich zurück, die Würgearme der Panik mussten aufgeben, ich war stärker.
Halleluja und Zimtschnecken! Ich war stärker.
Vor unserem Hexenhäuschen steht unser klappriger Theaterbus, Lenas kleines Motorrad ist nicht da. Sollte ich Pom tatsächlich allein antreffen? Hat er Zeit? Habe ich die Kraft?
Ich! Habe! Die! Kraft! Jawoll, das weiß ich seit eben.
Ich schiebe mein Rad hinters Haus, da sehe ich Pom in der Hängematte zwischen den Birken liegen und dösen. Lady liegt als schwarz-weiße Kugel auf seinem Bauch. Das Herbstlicht ist milde, und die kleinen Birkenblätter rieseln durch den Sonnenhonig, als welkten in den Himmeln ferne Gärten. Danke, Rilke, so ist es!
Also, Mirjam, jetzt oder nie? Oder wann?
«Komm mal her, Herzenskind», sagt Pom plötzlich, und vor Schreck lasse ich das Fahrrad fallen. Als ich es aufhebe, braust das Blut in meinem Kopf, ich lasse mir Zeit, stelle das Rad umständlich und langsam wieder auf, lehne es an die Hauswand. Ich will mir ein paar Sätze zurechtformen, aber meine Worte sind unauffindbar.
Ich nähere mich vorsichtig der Hängematte, Pom richtet sich auf, die Hängematte schaukelt heftig, und Lady plumpst heraus wie ein reifer Apfel vom Baum. Und in letzter Sekunde landet sie graziös auf ihren vier Samtpfötchen. Sie kommt auf mich zu, reibt sich an meinen Beinen, und ich gewinne Zeit, ich gehe in die Hocke, rede mit ihr in meiner besonderen Ladysprache, ich will sie streicheln, da marschiert sie an mir vorbei und verschwindet hoheitsvoll in den Tiefen unseres Gartens. Mit dem, was jetzt kommt, will sie nichts zu tun haben.
Als ich mich aufrichte, sitzt mein Vater quer in der Hängematte, seine Beine baumeln in der Luft, und seine Augen baumeln auch irgendwie, jedenfalls wackeln sie ein wenig, er schaut immer gerade eben an mir vorbei, er hat einen seltsam verwackelten, unscharfen Blick, der mir fremd ist. Und der mir nicht gefällt.
«Herzenstochter», sagt Pom und versucht dabei, seinen Blick ruhigzustellen. Es gelingt ihm nicht. «Hör zu. Es war nicht das, wonach es aussah ...» Jetzt verwackelt sein Blick noch ein wenig mehr.
«Sag jetzt nicht, es war nur deine Schwester», krächze ich und bin schockiert. Warum versuche ich auch noch witzig zu sein? «Aha», krächze ich hinterher. «Was war es dann? Sag’s mir!»
Poms Augen kriegen nun volle Lotte die Sturmböen meiner Wut ab, sie flackern heftig. Er strengt sich sehr an, geradeaus zu blicken, in meine Augen, aber immer wieder trudelt sein Blick daran vorbei.
«Hmhm», räuspert sich Pom, «also, hm, sie hatte da so ein Problem ... und sie tat mir leid (heftiges Gewackel), und da bin ich voll auf den Trosttrip gegangen, hm, also ... das war wohl misszuverstehen ...» Augengeflackere wie zwei windzerfetzte Segel.
Ich glaub, ich hör nicht richtig! Ich kriege die erste Hitzewelle meines Lebens, alles in mir zischt und glüht. Ich gerate außer mir vor Zorn, ich stelle mich vor ihn hin und schreie: «Hoho, mein Vater, so kommst du mir nicht davon, so nicht! So ein lausiges, saublödes Ausredengeschwätz, so ein ekelhaftes Lügengeschiss habe ich schon lange nicht mehr gehört, eigentlich noch nie. Hältst du deine Herzenstochter für blind, für bescheuert und so leichtgläubig wie das dummdämliche Schneewittchen, das den vergifteten Apfel abkauft? Und auch noch voll bekloppt hineinbeißt?»
Pom blickt auf den Rasen.
«Aha», sage ich. Und jetzt habe ich die ganze Arktis in meiner Stimme. «Aha, Trost!»
Poms Gesicht friert gerade zu.
«Trost nennt man jetzt die dauergeilen Rattenhormone, ich dachte immer, die hießen anders. Ich lach mich tot: Trost!» Ich spucke das Wort aus. «Du hast sie doch nicht mehr alle. Und versuch nie wieder, mir was von Trost zu erzählen. Nie wieder. Sonst erzähle ich auf der Stelle alles Lena. Und dann, ja dann kannst du dir deine gesammelten Trostkünste in deine schütteren Haare schmieren!»
Gut, das Letzte war gemein. Aber ich will gemein sein, ha!
Pom wird so bleich wie Milchsuppe. Er erstarrt. Er sinkt in sich zusammen. Er ist so mausetot wie ein Gartenzwerg.
Und als ich mich abwenden will von diesem elenden Gartenzwerg mit Unterleibsproblemen, um ihn dort mit seinem Lügengeschiss sitzen zu lassen bis in die Steinzeit, da richtet er sich auf, schaut mir ohne irgendeine Abweichung in die Augen und sagt: «Kapiert!»
«Versprochen?», frage ich. Meine Stimme ist schärfer als das Beil unseres Metzgers.
«Versprochen!», sagt Pom. Kein Flackern.
Oder doch? So ein bisschen? Kann sein oder auch nicht, denn jetzt werden meine Augen unscharf, weil ich heulen muss. Eine ganze Sturmflut kippt aus mir heraus.
Da springt Pom aus der Hängematte und drückt mich an seinen Bauch. Er zieht mich ganz nah an sich heran. «Schschsch», flüstert er immerzu. «Schschsch, meine kleine Zitteraster, meine kleine Zuckererbse, schschsch.»
Ich könnte ihn umbringen. Ich könnte ihn würgen und treten. Ich könnte, ach-was-weiß-ich-noch-alles. Aber ich will ihn zurückhaben, ich will ihn ganz zurückhaben, ganz und gar. Ich habe ihn so vermisst, meinen runden, weichen Vater. Ich kuschle mich an seinen Bauch, ich bin jetzt größer als er, ich mache mich ganz klein.
Und die Sturmflut flaut ab, die Wogen werden ruhiger, das Wasser zieht sich zurück. Trockenes Land ist in Sicht. Wir haben es geschafft.
Papa Bär und Honigkind
Rannten aus dem Sturm geschwind.
Liefen schnell zur Höhle rein,
Da wird die Bärenmama sein
Mit Honigtopf und Bärenwein.
So in etwa. «Kerlokiste! Und Donnerlittchen!», würde Ötte sagen. Aber Ötte wird von diesem Drama nie erfahren.