Es ist ein schöner, milder Frühlingstag. Bald werde ich siebzehn, und ich bin allein. Warum bin ich eigentlich immer allein? Und an diesem leuchtenden Tag ist das eine Gemeinheit. Keiner da für Mirjam mit dem Daumen im Mund, die ihr Fläschchen will und weiche Arme, die sie herumtragen oder wiegen. So in etwa.
Kein David, der fast nur noch mit Sam zusammensteckt, kein Phil, der Musikunterricht an der Folkwang-Schule hat, aber bestimmt sofort käme, wenn ich meine Notschreie kundtäte, und, ja, David würde auch sofort kommen, aber es ist kein Notfall, es ist nur der normale Mirjam-lonesome-Blues, der mich manchmal überfällt.
Und genau da, als ich gerade voller Wollust in die schwärzeste selbst gekochte Mirjam-Seufz-Suppe abtauchen will, klingelt das Telefon. Sam ist dran. Sam? Wieso ausgerechnet Sam? Sam ist von allen Menschen, die mir vertraut sind und die mein Herz haben, der entfernteste. Aber er ist der Einzige, der merkt, dass little Mirjam Hilfe braucht. Soso!
Sam fragt mit tonloser Stimme: «Bist du allein?»
« Klar!», schreie ich, «ich bin immer allein. Immer!»
Und das hört sich so oberbekloppt an, dass ich lachen muss. Ha, so ein Lachen ist die Rettung! Tatsächlich, das hatte ich vergessen.
«Willst du kommen?», frage ich, und ich höre Sam nicken.
«Bis gleich», haucht er, und das Telefon tutet.
Ich sinke auf meine Kissen unter dem großen Dachfenster am Boden und räume weder auf, noch blicke ich in den Spiegel, noch laufe ich und suche nach etwas Beeindruckendem in meinem Kleiderschrank oder in unserem Kühlschrank. Ich sitze dort und weiß, etwas muss passiert sein.
Was kann Sam passiert sein? Hat er Krach mit David? Macht es ihn genauso verrückt wie mich, dass er hartnäckig diese Mauer um sich rum aufrechterhält und nur manchmal darf man durch eine kleine Mauerritze dahinter äugeln? Will Sam wieder nach England? Hat er einen besseren Freund gefunden, hat er, will er, muss er ...? Ich habe einfach keine Ahnung.
Als Sam auftaucht, ist er blass wie Buttermilch mit Spucke. Ich drücke ihn in meine Kissen und hole, ohne zu fragen, ein Glas Wasser. Lady kommt, verharrt in einiger Entfernung und rollt sich dann ein paar Kissen weiter weg zusammen und spitzt die Öhrchen.
«Fang an», sage ich.
Sam schluckt das Wasser, sein Adamsapfel geht rauf und runter, hab ich ja noch nie bemerkt, dass er einen hat, sein rötliches Haar klebt an seinem Kopf, seine Augen sind nervös, und plötzlich verbirgt er sein Gesicht in den Händen und schluchzt. Ich rücke sofort näher heran und lege meinen Arm um ihn. Er hat nichts dagegen. Ich sage erst mal gar nichts. Ich warte. Nur wenn er gar nicht anfangen wird, werde ich ein wenig bohren.
Sam nimmt die Hände vom Gesicht, blickt mich an und fragt: «Warum bist du nicht, ähm, du und David, warum seid ihr nicht kein Paar?» Sein britischer Akzent ist rau, ich mag ihn.
«Ich?», frage ich. «Ich und David?»
Ich schweige.
«Ja, wir dachten mal, da wäre was», murmle ich, «aber irgendwas hat nicht gezündet, keine Chance, wir haben es versucht, wir haben ...» Ich schlucke. «Wir haben es Gottseidank beide gemerkt. Da war Enttäuschung und Erleichterung. Ja, aber wir lieben uns», sage ich nachdrücklich.
Sam blickt zur Seite. «Ja, ich liebe ihn auch.» Er verbirgt wieder sein Gesicht in den Händen.
«Sam», sage ich, «was ist daran so schlimm? Alle Welt sieht, dass auch David dir sehr zugeneigt ist.»
Mensch, Mirjam, wer benutzt schon das Wort «zugeneigt», das ist doch bloß so ein billiges Ersatzwort, das sich gut anhört, wenn man nicht von Liebe sprechen will.
Sam nickt. «Ja, das tut er. David ist mein Freund. Aber bin ich seine Liebe?»
Hä?, denke ich, und nochmals: Hä?
Und dann verstehe ich! War ich Dumpfschnecke blind? Hatte ich Tomaten auf den Augen? War ich, little Mirjam, so mit meinem kindischen Seelenkram beschäftigt, dass ich nichts mehr mitbekam? O Mann!
Ich schlucke. Ich werde nie wieder meinen Blick nur auf mich selber richten, ich schwöre! Und mich dann noch wundern, dass meine Freunde nicht immer zur Stelle sind. O Gott, ich schäme mich.
Und schon bin ich wieder bei mir gelandet, ich kann’s kaum glauben.
«Sam», frage ich, ich traue mich einfach, «wärst du gerne mit David ein Paar?»
Langes Schweigen. Lady reckt sich und dreht sich auf den Rücken, alle vier Pfoten zur Decke gerichtet. O Lady, diese Probleme kennst du nicht, sei froh!
Sam richtet sich auf, er schaut sehr konzentriert in meine Augen und sagt: «Ja, ich wäre gerne. Und David will das auch, aber er, er ...» Sam sucht nach dem deutschen Wort. «... he is ...ähm, er ist sich nicht wissend, sagt man so?»
Nicht ganz, denke ich, aber er hat es auf den Punkt gebracht. «Du meinst, er weiß es, aber er will sich das nicht eingestehen?»
Sam nickt. «Ist ein groß Problem für alle. Ist einfach so, really. In England, in Deutschland, überall. Wir müssten ... wir müssten ... fearless sein!»
Ich nicke. «Ja», sage ich, «das müsstet ihr.»
Ich habe keine Ahnung, wie seine Familie das aufnehmen würde. Und seine Mutter, seine vornehme, immer noch leidende Mutter, würde sie vielleicht einen heftigen, neuen Leidensanfall dazubekommen? Und sich für immer von David zurückziehen?
«Sam, meinst du, wir sollten mit Sarah darüber reden?», frage ich.
Sam schüttelt den Kopf. «No», sagt er. «No, no. Erst du mit David. Dann Sarah. Phil auch. Ötte auch. Bei den anderen I don’t know!»
Und plötzlich fällt mir ein lang vergessener Tag wieder ein. Ich hatte genau wie heute den Blues. David war zum ersten Mal hier. Und Pom hat ihn nicht fertig gemacht, sondern hat nach einem kurzen Abschätzen irgendwas geahnt, gewusst, gefühlt, was ihm als Rächer und Beschützer seiner Tochter eindeutig zeigte: keine Gefahr. Und das bei Davids Schönheit und überhaupt. Aha, Pom, dachte ich, der hat es sofort bemerkt, mein Holzklotz von Vater. Mit dem weichen Innenleben eines Puddings.
«Okay», sage ich. «Ich werde mit David sprechen.» Obwohl ich viel lieber erst mal mit Sarah geredet hätte.
«Soon, please», murmelt Sam.
Ich nehme ihn in die Arme. Und als er geht, sieht er nicht mehr ganz so käsig aus. Buttermilch ist es nicht mehr, eher was in Richtung normal.
Als die Tür ins Schloss fällt, falle ich zurück in meine Kissen. Und habe keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Und ob David das überhaupt zulässt. Und ob ich ihn dabei vielleicht so vor den Kopf stoße, dass ich ihn verliere. Und Sam verliert ihn gleich mit.
Und ich dachte, das Alleinsein wäre schlimm. Jetzt wäre ich gerne wieder allein. Ich meine, ohne dieses Problem. Das wächst sich gerade zu einem zentnerschweren Kartoffelsack aus, der auf meine Brust drückt.
Ich will Tante Greta sprechen. Sam hat nichts von Tante Greta gesagt. Sie wird neutral sein. Ja, das wird sie.
Ich schwinge mich aufs Rad. Ich werde wieder lebendig, höre auf zu seufzen und «Ich-armes-armes-Ding» zu denken, ich werde das Problem lösen. Vielleicht fällt dann Davids Mauer in sich zusammen. Und vielleicht ist das mit dem Mut gar nicht so schwer. Ich werde siebzehn. Mit siebzehn Jahren ist alles möglich. Auch mutig zu sein. Und mit dem Gejammer aufzuhören. Es ist Kinderkacke. Ich lasse es.
Ich biege um die Ecke vom Schwalbenweg und stoße auf Sarah, die so in Gedanken ist, dass sie fast an mir vorbeigeht. Ich klingle und traue meinen Augen nicht. Was in aller Welt will Sarah hier? Erst kommt niemand! Keiner! Dann aus heiterem Himmel gleich zwei. Ohne große Ankündigung.
Sarah wird blass, als sie mich sieht. Herr im Himmel, nicht noch ein weiteres Problem in der Größe einer Kiesgrube.
«Hast du Zeit?», fragt sie.
Klar, habe ich, alle Zeit der Welt. Tante Greta kann warten.
«Lass uns in den Stadtpark gehen», schlage ich vor, da ich keine Ahnung habe, wann Pom und Lena zurückkommen. Und auch Sarah sieht aus, als hätte sie mich lieber allein.
«Wieso hast du nicht angerufen?», frage ich.
Sarah zuckt mit den Schultern. «Hab ich ja, aber da war keiner zu Hause. Und ich hatte so ein Gefühl, dass du da bist, bis ich von Essen hier ankomme!»
Sie musste angerufen haben, als ich leidend im Garten die Wäsche aufgehängt habe, tropf, seufz, tropf.
Ich schiebe jetzt mein Rad. Sie sagt nichts, schaut zu Boden oder an mir vorbei, mir wird mulmig.
«Hat es was mit David zu tun?», frage ich vorsichtig. Wenn ja, kann ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe beseitigen. Sam hin oder her. Dass Sarah einfach hier auftaucht, war ja nicht geplant.
Sarah runzelt ihre perfekten Augenbrauen. «Hm, ja, eigentlich ... irgendwie schon.» Wenn Sarah das Wörtchen irgendwie sagt, ist was im Busch. Sie drückt sich fast immer druckreif aus.
«Sam war gerade hier», sage ich.
Sarah hebt abrupt den Kopf und bleibt stehen. «Sam? Bei dir? Was wollte er?»
«Warte, bis wir im Park sind», schlage ich vor.
Und als wir endlich einen schattigen Platz unter dem grünen Licht einer alten Kastanie finden, lege ich ihr meinen Arm um die Schulter und drücke sie. Sie drückt zurück.
«Gut, dass du da bist!», flüstert sie.
Oh ja, denke ich. Wie gut, dass es euch alle in meinem Leben gibt! Ich Dumpfsocke hätte das beinahe vergessen.
«Du weißt ja, warum Davids Mutter in der Klinik war», sagt Sarah.
Ich nicke. «Davids Vater hat sich umgebracht, das weiß ich natürlich. Aber keine Einzelheiten.»
«Es gab keine», flüstert Sarah. «Außer dass David ihn in der Garage gefunden hat ... Aber jetzt, jetzt habe ich so einen Verdacht, nein, eigentlich Gewissheit, dass ich weiß, warum er es getan hat ...»
Ich zucke zusammen. David hat es verrückt gemacht, dass er den Grund nicht wusste. Er hat nur erzählt, dass es keine Geldangelegenheiten waren. Und dass sein lebensfroher Vater vor seinem Selbstmord eine längere Zeit sehr verschlossen, ja geradezu abwesend und abweisend gewesen war. Und auch selten zu Hause. Und erklärt hat er nichts, überhaupt nichts.
Klar, David, das hast du geerbt – bloß keine Probleme ansprechen ...
«Ich hab da was gefunden», sagt Sarah und zieht ein Bündel Briefe aus ihrem Rucksack.
«Briefe? Wo hast du die her?»
«Sie lagen in einem Fach im Bücherregal in dem Arbeitszimmer von Davids Vater.»
Ich weiß, dass Sarah, weil David es nicht tut, sich dort einen Arbeitsplatz eingerichtet hat. Sie liebt diese deckenhohen Bücherregale.
«Sie lagen dort sehr gut versteckt», sagt Sarah, «es war bloß ein dummer Zufall, dass ich sie gefunden habe. Aber vielleicht, vielleicht sollte sie auch jemand finden, irgendwann einmal. Keine Ahnung ...»
«Du hast sie gelesen?»
Sarah nickt. Sie schämt sich. «Ich hätte sie vielleicht erst David geben müssen, aber irgendwas hielt mich dringlich davon ab», murmelt sie.
Sarah ist großartig darin, sich auf ihr Bauchgefühl zu verlassen. Sie tut es einfach.
«Wovon handeln sie?» Ich rücke näher und werde zappelig, auch ich spüre jetzt deutlich, dass sie in ihren Händen das Geheimnis um Davids Vater hält.
«Es sind Liebesbriefe», flüstert Sarah.
Ach du heiliges Jesulein, denke ich, klar, lag so was nicht auf der Hand?
«Kennst du die Dame?» frage ich. Es könnte ja sein.
«Die Dame ist ein Mann.»
Und dann schweigen wir mindestens vierzehn Tage und sieben Wochen, weil, ja weil diese Neuigkeit die Größe eines Kometen hat, der mit Karacho in meinen Kopf stürzt.
Mir fällt dazu erst mal nichts ein. In meinem Kopf ist eine Trümmerlandschaft. «Hm, hm ...» Ich räuspere mich, mein Hals kratzt, ich will was sagen, ich will Sarah über Sam und David einweihen, aber was oder besser wie soll ich das bloß sagen? Und passt das jetzt? Aber sicher, es passt gerade jetzt, und es passt so fürchterlich genau, dass ich das alles lieber nicht denken möchte.
«Hast du auch bemerkt, wie Sam David immer anschaut?», fragt Sarah leise. «Und David, manchmal, wenn er glaubt, dass er unbeobachtet ist, Sam Blicke zuwirft. Ganz weiche Blicke, davon kann man ein Zitterherz bekommen. Aber selbst Sam darf das nicht sehen. Doch wir wohnen zusammen, Sam ist oft zu Besuch, ich bekoche sie, ich, Sarah, ganz die sorgende Cousine, die ... na ja, die Augen im Kopf hat.»
Sarah bricht ab.
«Und jetzt fügt sich eins und eins zusammen, so ist es doch, oder?», fragt sie nach einem langen Schweigen.
«Ich weiß nicht. Ja. Und nein. Das ist doch nicht unbedingt eine logische Schlussfolgerung, das mit Sam und David», sage ich.
«Nein, natürlich nicht.»
Wir schweigen.
«David wird das nie und nimmer zugeben. Er wird es in die tiefsten Tiefen seines Innenlebens verdrängen und seine Mauer noch höher bauen!», flüstere ich.
Sarah nickt. «Wir müssen ihm helfen, so ein Unglück darf kein weiteres Mal passieren.»
Ich erschrecke. «Du meinst ...? Nein, nein, nein, das glaube ich nicht. Auf keinen Fall.»
«Es muss ja nicht ein Selbstmord als Lösung sein», sagt Sarah, «es kann auch so dein Leben vernichten, wenn du der Angst vor diesem Anderssein die Macht dazu gibst.»
Wir schweigen lange. Jede denkt betroffen über diese Möglichkeit nach.
«Sarah», sage ich, «hast du noch Zeit?»
Sie nickt. «So viel, wie wir brauchen.»
«Wir werden uns jetzt zu Tante Greta aufmachen. Da vorne ist eine Telefonzelle, und wenn sie zu Hause ist, werden wir sie besuchen!»
Sarah versucht ein zaghaftes Lächeln.
Als Tante Greta ans Telefon geht und sagt, «ja, kommt vorbei», nehme ich mein Fahrrad, und wir gehen los. Und die Kiesgrube schrumpft auf die Größe eines Sandkastens.
Tante Greta hat auf dem Balkon schon alles hergerichtet. Sie drückt uns in die Kissen und sagt: «Fangt an!»
Ja, aber wer soll anfangen zu erzählen?
Sarah stößt mich an. «Beginn du. Erzähle von Sam.»
Tante Greta kennt fast alle von Davids Verwandtschaft und Sam natürlich auch, er war oft genug mit, wenn wir bei ihr probten. Sarahs Eltern hat sie noch nicht kennengelernt, aber Aaron. Scheiß auf Aaron. Das war in einem anderen Leben. Lange vor diesem Problem hier.
Ich beginne. Später übernimmt Sarah. Als alles berichtet ist, schweigen wir. Tante Greta steht auf. Sie holt sich einen Cognac, das kommt selten vor. Meistens erst in später Stunde zur Entspannung. Jetzt ist es früher Abend. Der Frühling ist mild in diesem Jahr, und ich hoffe, dass es so bleibt. In einer Woche werde ich siebzehn und will möglichst draußen feiern, mit einem Feuerchen und den Crazy Dogs. Und mit Sam natürlich, aber vorher muss eine Lösung her.
Tante Greta sieht uns sehr eindringlich an. «Glaubt ihr, dass wir drei das Problem für David lösen können?»
Wir schütteln den Kopf, nein, das können wir ganz bestimmt nicht, das wissen wir.
«Aber wir können an seiner Seite sein, ihn vielleicht sogar in eine Richtung lenken und ihm Mut machen», flüstert Sarah.
«Ja», sagt Tante Greta. «Mut, der ist erforderlich. Viel Mut. Einmal für die Geschichte seines Vaters. Das ist die eine Hälfte. Die andere, vielleicht die größere Hälfte, ist David selber. Hat er den Mut, das zu betrachten, was in ihm ist? Wertfrei. Und sich dem zu stellen und zu hinterfragen, was er wirklich in seinem tiefsten, wahren Innern will?»
Wir schweigen.
«Er braucht gewiss Hilfe», sagt Tante Greta. «Wir müssen es schaffen, oder besser, ihn dabei unterstützen, dass er beginnt hinzuschauen und sich diesem Teil seiner selbst stellt. Und keine Urteile fällt. Keine Urteile. Es ist, was es ist!»
Wir schweigen wieder. Unten hupt ein Auto, und der Wind wird heftiger, die Kerzen der Kastanie wippen.
Tante Greta trinkt einen Schluck Cognac. «Wenn ich ehrlich sein soll, so wundert’s mich, dass wir das nicht eher vermutet haben.»
Ich blicke nach unten. Ne, ich war völlig ahnungslos. Ich kreiste ja immer nur um mich selber und um die Probleme mit der bescheuerten Midlife-Krise meines Plemplem-Vaters. Und um mein Geseufze! Herrjemine.
Sarah schaut auch betreten. «Also, ich hab schon was gemerkt», murmelt sie, «aber ich dachte, das muss er doch selber schaffen, wie soll man sich auch David nähern, der sich eine turmhohe Mauer gebaut hat, ohne eine Zugbrücke oder so ...»
Tante Greta denkt nach. «Folgende Reihenfolge ist sicher die beste. Erst einmal muss er sich seine Homosexualität eingestehen. Und bereit sein, sie zu leben. Dann erst sollte er das mit seinem Vater erfahren. Umgekehrt wird es wahrscheinlich so sein, dass er sie am tiefsten Grund seiner Seele vergraben wird.»
Wir nicken, ja, das sehen wir auch so. Die Briefe werden vorerst ein Geheimnis bleiben. Sarah gibt sie Tante Greta zur Verwahrung, sie möchte sie nicht in der Wohnung haben.
«Vielleicht reicht es vorerst, dass er sich seine Liebe zu Sam eingesteht», sagt Tante Greta. «Und sie so lange vor Außenstehenden geheim hält, bis er genügend Mut gesammelt hat, öffentlich zu ihr zu stehen. Vielleicht, wenn er in London studiert, weit weg von zu Hause. Ich glaube, das wäre leichter. Und er hätte einen gewissen Spielraum für seine Klärung. Aber er sollte wissen, dass ihr, ja, dass wir alle hinter ihm stehen. Das muss er wissen, das ist wichtig.»
Sie streicht ihren blaugrauen Sari glatt. Sie fröstelt und zieht ihren Schal enger. «Ich werde ihm demnächst über den Weg laufen. Ich werde mit ihm reden. Es wird Zeit!»
Tante Greta richtet sich hoch auf, sie schließt die Augen, dann lehnt sie sich zurück. Denkt sie nach? Hat sie einen Plan, ein psychologisch ausgetüfteltes Fünf-Punkte-Programm, wird sie den richtigen Ton treffen? Sie wird. Sarah weiß es. Ich sowieso.
Tante Greta wird uns Bescheid geben, wenn sie mit David geredet hat, damit wir ihn hinterher entweder in Ruhe lassen. Oder auffangen.
Man wird sehen. Man wird sehen.
Wir Crazy Dogs üben und üben. Wir wollen perfekt sein beim großen Regenbogenfest. An meinem Geburtstag werden wir unser Programm Pom und Lena und Tante Greta vorspielen. Tante Greta kennt ja längst alle Nummern, aber meine Eltern nicht. Meine Eltern, die ich kaum noch sehe. Meine Eltern, die irgendwo um sich herumkreisen, jeder um den anderen, wie zwei Planeten, immer in der gleichen Entfernung. Und ihr Abstand verringert sich nicht. Es ist eine einzige Tragödie. Man könnte glatt die Tapeten abkratzen.
Meine Mutter ist weit entfernt und mein Vater auch. Wie sollen wir jemals wieder eine Familie werden? Wie kommen wir wieder heraus aus diesem Schlamassel? Ich bin da keine Hilfe. Ich bin damit überfordert. Es macht mich kirre. Ich beobachte und schweige. Und leide, wie wir alle. Und ich werfe David vor, seine Probleme einzig und allein mit sich selber abzumachen und so stumm zu sein wie ein toter Regenwurm. Dabei bin ich darin selber ein Weltmeister. Ja, das bist du, Mirjam, gib es endlich zu!
Aber das Üben lenkt mich ab. Wir üben meistens bei David. Sam ist dann immer abwesend wegen Masseltow. So kann ich nicht rauskriegen, ob sich irgendetwas getan hat. David ist meistens sehr still, über sich selber redet er ja sowieso nie, höchstens irgendwelche Geschichten von seinem Zivildienst oder von einem interessanten Zeitungsartikel.
Aber zwei Tage vor meinem Geburtstag, als ich mit ihm in Sams Mini zum Supermarkt fahre, um Getränke und den ganzen anderen Kram zu besorgen, und als wir endlich alles in unserer Küche ausgeladen haben, fragt David, ob er mich sprechen kann. Ob er mich sprechen kann!
«Das weißt du doch», flüstere ich.
Ich habe plötzlich ein seltsames, flaues Gefühl in meinem Bauch, auch mein Kopf wird ganz wattig. Was ist passiert? Hat seine Mutter, hat Sam, hat er ...
Als wir in meinem Zimmer in meinen Kissenbergen sitzen, hockt David ganz steif neben mir, sein ganzer Körper ist angespannt, seine Augen sind unruhig, und seine Hände verknoten sein blütenweißes Taschentuch.
Ich schweige. David schweigt. Lady kommt ins Zimmer, betrachtet uns, schweigt, aber dann maunzt sie, kringelt sich auf Davids Schoß zusammen, und David atmet tief durch.
«Sam und ich lieben uns!», sagt er.
Er sagt es so leise, dass ich es fast überhört hätte. Und ich bin so überrumpelt, dass ich erst mal zwei Millionen Jahre darüber nachdenken muss, aber dann schmeiße ich die Hände in die Luft und schreie «Juchuuu!!»
David schaut mich an. Seine Augen sind nachtschwarz, aber sie haben so ein klitzekleines Leuchten mittendrin. Sein Katerlächeln hängt schief in seinem Gesicht, aber es wächst und macht sich dort breit.
Da schnappe ich ihn mir und walke ihn durch. So richtig mit Schmackes. Er schreit «Gnade» und «Hilfe», aber die gewähre ich ihm nicht. Er ist plötzlich so gelöst, dass er wirklich und wahrhaftig mit mir rangelt, wir rollen über den Boden, Lady springt empört davon, wir kugeln uns, verhaken uns ineinander, und dann müssen wir beide so fürchterlich lachen, dass es uns schüttelt.
Noch nie habe ich mit David so gelacht. Es ist ein berauschendes Lachen, das sich die tonnenweise angehäuften Ängste und Zweifel von den Schultern schüttelt, und wir können gar nicht mehr damit aufhören. Wir liegen nebeneinander auf meinem Flokati, halten uns den Bauch und prusten.
Da steht Pom in der Tür. Ich weiß nicht, wie lange er dort schon steht, und ich weiß auch nicht, was er mitbekommen hat. Pom schaut auf unser Gerangel, er weiß nicht, was er von dieser Situation halten soll, das sehe ich deutlich in seinem Gesicht, er beobachtet uns, nicht misstrauisch, aber sehr konzentriert.
Wir werden still. David steht auf. Er steckt sein Hemd in die Hose, hüstelt und schaut Pom an. Pom schaut zurück. Schweigen.
«Ich möchte Ihnen was sagen», sagt David.
Ich zucke zusammen. Das klingt fast so, als hätte er vor, um meine Hand anzuhalten.
«Ich weiß es schon», sagt Pom.
«Wie bitte?» Davids Stimme kippt weg.
«Wenn es um Sam geht, dann weiß ich es», sagt Pom, schnappt sich David, drückt ihn an seinen Bauch, hält ihn lange fest und klopft ihm auf die Schulter.
Ich bin fassungslos, David ist fassungslos, die Sonne über unserem Haus ist fassungslos. Die Pole verschieben sich, das Meer rutscht über die Kanten, die Sterne springen vom Himmel. So in etwa.
David räuspert sich. Er löst sich von Pom und schaut ihm in die Augen. Lange. Dann sagt er: «Danke!»
«Bitte! Das wurde aber auch Zeit, ich habe schon gedacht, ich müsste da nachhelfen. Ich meine, beim Kapieren und Zulassen!» Das ist Pom. Zwei Sätze, und alles ist gesagt. Dann sagt er noch: «Bin gleich zurück!» und verschwindet.
David holt sein Taschentuch heraus und wischt sich über die Stirn. «Puh! Wer hätte das gedacht? Ich fass es nicht. Wussten das alle, die mich kennen, nur ich nicht?»
«Ne», sage ich, «ich auch nicht. Aber du weißt ja, wie blöd ich bin.»
David wackelt mit seinen Augenbrauen. «Gratulation! Dann sind wir ja schon zwei Blödhammel.»
Pom kommt zurück. Er trägt ein Tablett mit drei Gläsern und einer Flasche Sekt. «Das muss gefeiert werden», sagt mein Vater, der sich so was nie, niemals entgehen lässt. «Wenn das nicht ein Grund ist, was dann?»
Und als wir anstoßen, fragt Pom: «Und wer weiß es noch? Oder genauer, wer darf es sonst noch wissen?»
David schweigt. Dann sagt er: «Sam und ich wollen es nur unseren besten Freunden sagen, damit wir uns nicht mehr verstellen müssen. Alles andere folgt später. Ich muss erst noch üben.»
«Verstehe», nickt Pom. «Ja, das halte ich auch für das Beste. Ihr schafft das!»
Da hören wir Lena kommen, Pom verschwindet, um noch ein Glas zu holen, und weiht Lena unten wohl schon ein. Beide kommen strahlend nach oben. Untergehakt! Ich traue meinen Augen nicht. Meine Eltern, zusammen, mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, voller Freude, nebeneinander.
Und ich laufe auf sie zu, drücke sie, bis sie sich wehren und quietschen und Pom liebevoll «Nanana» sagt. Er ist irgendwie ganz gerührt, und Lena sieht mich seltsam an und legt kurz ihre Hand zärtlich an meine Wange.
Dann drückt sie David und sagt: «Gratulation. Das war bestimmt nicht leicht!»
David senkt den Blick, und dann erfahren wir noch, dass Tante Greta gar nicht mehr viel zu tun brauchte, David hatte sich seine Liebe zu Sam gerade ehrlich eingestanden, und was ihm fehlte, war nur noch dieser kleine Schubser von ihr gewesen, damit er Mut fasste, darüber zu reden.
Und dann war es getan. Die Wahrheit war ausgesprochen und konnte gelebt werden. Himmel und Engel und Maien-Gedöns ...
An meinem Geburtstag hatten wir also gleich zwei Gründe zum Feiern, nein, sogar drei. Denn wann hatten meine Plemplem-Eltern das letzte Mal zusammen gestrahlt? Sieh einer an! So ein coming out ist doch eine großartige Sache.