Und das Regenbogenfest kam. Mit bestem Maiwetter, tollkühn und tollgrün, so ungefähr. In unserem Hexenhäuschen waberte das Mailicht durch alle Fenster und tunkte unser großes Küchenwohnesszimmer in Honiglicht. Ein Croissant und etwas Milchkaffee dazu, und ein provenzalisches Frühstück wäre angerichtet. Ich sehnte mich plötzlich geradezu schmerzlich nach unseren Ferien in der Provence mit Pom, als er noch Pom war. In dem Licht zitterten Staubkörnchen, und genauso zitterten gerade die siebzig Milliarden und Wievielauchimmer-Zellen in mir herum, und mir wurde vor Sehnsucht schwindelig.
Pom war draußen mit Packen beschäftigt, die Bühne, die Requisiten, Hunderte von Koffern, Lenas Krimskrams für ihren Stand, den Tapeziertisch, die riesige Samtdecke, doch die Scheinwerfer, Pom glaubte nicht daran, dass Mattes WG wirklich daran gedacht hatte, «irgendwie wird alles schiefgehen», hatte er dauerhaft gemurmelt und zähneknirschend die Kabeltrommeln und die Scheinwerfer und die Mikroportanlage aus dem Probenraum gehievt.
Pom war der beste Einpacker der Welt, er kannte jeden Zipfel unseres Theaterbusses. Immer saß alles perfekt, jeder Quadratmillimeter des knapp bemessenen Platzes war exakt ausgenutzt. Nichts konnte rappeln oder verrutschen. Wir hörten ihn draußen schleppen und rumpeln und waren froh, dass er draußen war, denn wir konnten ihn hier drinnen nicht gebrauchen. Wir probierten ein letztes Mal an.
Meine Mutter, meine schöne, meist stumme Mutter, in letzter Zeit oft so bleich wie das Mondlicht, begann zu leuchten. Bestes Vollmondlicht über einem verschwiegenen See um Mitternacht. Ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, mit Perlen und bunten Bändern, mit Federn und Muscheln und tausend Kinkerlitzchen. Sie hatte ihre weichen kurzen Stiefelchen an, so grün wie ihre Meeresaugen, sie trug mehrere Röcke übereinander, deren Säume immer wieder bunt aufblitzten, wenn sie sich bewegte. Um die Taille hatte sie ein Tuch geschlungen, und sie trug dieses weiße, altmodische Wäschehemdchen, das ich mit Sarah auf dem Flohmarkt in Essen gefunden hatte, mit Wäscheknöpfen und gerüschten Trägern. Es hatte einen tieftiefen Ausschnitt, ich hatte mich bisher nicht getraut, es zu tragen. Es sah unschuldig und sündig aus. Beides. Wirklich. Und was man in ihrem Ausschnitt sah ... O Mannomann! Der Neid lässt grüßen. Ich musste schlucken, als sie so vor mir stand, absolut Lena, meine Mutter und so schön wie ... Unaussprechlich.
Ich musste heute Abend natürlich mein Crazy Dog-T-Shirt tragen, aber Masseltow war ja hinten drauf, sodass er vorne nicht das Bild vermasselte. (Sorry, Masseltow!) Aber für das Fest hatte Lena mir was aus smaragdgrüner Seide genäht, das hatte zwei seltsame Träger, vorne und hinten über Kreuz, und über meinem gerade geknospeten Busen war es gerafft, was ihn enorm vergrößerte, ha! Ich sah aus wie aus einem alten Greta Garbo-Film, und ich hatte den verwegensten Rock an – Chiffontücher in allen Regenbogenfarben waren einfach an einen Stoffgürtel geknotet, sie hingen über einem kleinen Rock, der ebenfalls aus dieser Seide war, den man aber nur sah, wenn die Tücher sich bewegten, und das taten sie eigentlich immerzu, so hauchzart waren sie. Als Lena damit ankam, bekam ich den Mund nicht mehr auf. Aber Tante Greta sagte das Erlösungswort: Wunderbar! Und Phils Augen wurden noch runder, sie kullerten nur so in seinem Gesicht herum. Nur Masseltow wollte die flatternden Tücher zerfetzen, die seine Nase kitzelten, als ich mich bei der Generalprobe um mich selber drehte.
Als Lena und ich uns gerade so rundum zufrieden betrachteten und uns voller Freude und Stolz zunickten, bevor wir wieder in unsere Jeans schlüpfen wollten, polterte Pom in die Küche, verschwitzt, genervt, staubig, mürrisch. Er blieb wie angewurzelt stehen. Gefühlte einhundert Jahre.
Dann streckte er sich, schob seinen Bauch raus, kratzte sich am kugelrunden Kopf und murmelte: «O mein Gott!»
Er musterte Lena und mich von oben bis unten, er ließ sich viel Zeit, und wir hielten die Luft an, wir warteten, zu einem Standbild eingefroren, auf Poms Urteil, und das Einzige, was ich denken konnte, war: Bitte, bitte, Pom. Bitte, bitte, lieber Gott!
Pom holte tief Luft und ließ sich mit Karacho auf seinen Küchenstuhl fallen, den einzigen mit Armlehnen, den Krönungsstuhl sozusagen. Er rieb sich theatralisch die Augen und flüsterte: «Ich glaub es nicht, was ich da sehe! Meine Augen können das einfach nicht glauben!»
Und dann sprang er auf und tapste wie ein zufriedener, gemütlicher Bär auf seine unnachahmliche Pombärenart um uns herum, unser Knuddelbär, der Milch und Honig verteilen konnte. Er brummte und kratzte genüsslich sein Fell, hob seine Pfoten, wackelte mit dem Bauch und dem Hinterteil (göttlich!) und sang plötzlich mit tiefster Bärenbrummstimme:
O ich blöder alter Bär!
Ach, was schäm ich mich doch sehr!
Vergaß die schönste Bärenfrau!
Wenn ich in ihre Augen schau,
seh ich Sonne, Mond und Meer!
Ach, was schäm ich mich doch sehr!
Lena und ich schauten uns nicht an. Wir konnten keinen Blick von Pom wenden, der sozusagen auferstanden war, Pom, der seinen endlos langen Winterschlaf beendet hatte, der fast vergessen hatte, wie das geht, aber nun wieder da war! Und da huschte Lady auch schon zu uns ins Zimmer, wo kam die denn plötzlich her? Sie schlich um Poms Beine und tapste immer hinter ihm her, Bär und Katze im Frühlingstanz.
Und Pom sang weiter:
Der Winterschlaf war viel zu lang,
ach, mein Bärenherz ist bang,
dass Bärenfrau und Bärenkind
ich im Wald nicht wieder find!
Und dann tapp tapp tapp immer um uns rum mit Lady.
Bärenpapa weiß genau,
er hat die schönste Bärenfrau
und das schönste Bärenkind,
das man auf der Erde find’!
Hoho, man höre und staune! Und das taten wir. Wir hörten, wir staunten und waren so unbegreiflich froh, dass ich dafür niemals die passenden Worte finden könnte.
Lena schüttelte irgendwas von ihren Schultern, schnappte sich Pom und tapste mit ihm zusammen durch das Honiglicht, und er riss sie an seinen Bauch und schleckte sie ab, bis sie um Gnade flehte.
Danke, Herr im Himmel, der du die Wunder erfunden hast! Poms Winterschlaf war zu Ende. Er war zu Ende!
Ich musste heulen und rannte in mein Zimmer, warf die Arme in die Luft und tobte meinen Rumpelstilzchentanz, bis ich mich aufs Bett schmiss, nach Luft schnappte und lachte, lachte, lachte.
Irgendwann saßen wir drei in unserem Theaterbus und fuhren los, wir waren seltsam still, jeder hing seinen Gedanken nach. Ab und zu griff Pom nach Lenas Hand. Es gab nichts zu sagen.
Als wir in Hattingen ankamen und uns doch tatsächlich ein junger Mann mit roter Parkwächterjacke durch das Gewühl dirigierte, weil wir den Kram nicht vom Parkplatz zur Burg schleppen konnten, war Pom platt.
«Weib», sagte er, «siehst du auch, was ich sehe?»
Und sein Weib mit den neuen Leuchtaugen nickte. In der ganzen Unordnung und dem Gewühl war eindeutig eine Ordnung zu erkennen, die wir Mattes WG nie im Leben zugetraut hätten. Die Parkplätze waren abgesperrt, die Einweiser an Ort und Stelle, es gab einen Eingang mit einem Zaun und einem Infohäuschen. Später würde man hier den Eintritt bezahlen müssen, auf den man sich in nächtelanger, rotweingefüllter Diskussion geeinigt hatte: zehn Mark pro Person, Kinder fünf.
Das war sehr human in Anbetracht des vollen Programms. Auf dem Innenhof wurden die Plätze für die Buden und die Stände verteilt, genau nach einem tatsächlich vorhandenen Plan. Vor der Burgmauer, unter der mächtigen Linde, stand schon eine große Bühne, es wurde noch an der Technik und den Scheinwerfern gebastelt. Und hinter der Burg, auf der großen Wiese mit Weitblick über die Ruhr, standen Wohnwagen, Camping- und Künstlerbusse und jede Menge Zelte. Kinder kreischten und rannten um die Autos, Hunde sprangen und tobten miteinander, und von irgendwoher wehte der unverkennbare Haschgeruch zu uns rüber.
Pom bekam eine Nase wie ein Nasenbär, er schnüffelt und murmelte: «Gras! Allerfeinste Sorte!»
Und Lena lächelte, knuffte ihn in die Seite und wagte es, ihren Bärenmann daran zu erinnern, dass er noch arbeiten musste.
Pom nickte nur, kein grimmiges, genervtes Geseufze. «Squaw», sagte er. «Du hast ja recht. Alles zu seiner Zeit.»
Matte tauchte von irgendwoher auf, Mone an seiner Seite, die in ihrem langen Batikkleid wirklich wie eine Elfe aussah. Ihr blondes Haar flatterte, und Mattes Augen hatten sich darin verfangen.
Da Pom und Matte erst um sechzehn Uhr die Kinder beglücken sollten, hatten sie noch jede Menge Zeit. Und sie konnten Lena bei ihrem Stand helfen, den würde Mone übernehmen, wenn Lena gegen neunzehn Uhr mit ihren irischen Liedern dran war. Mit Phil! Auch wir Crazy Dogs mussten irgendwann unsere paar Sachen aufbauen. Wir sangen etwa um zwanzig Uhr und sollten Technik vom Feinsten bekommen, das hatte man uns versprochen. Was meine Aufregung nur noch steigerte. Matte am Schlagzeug hatten wir akzeptiert, mit ihm zu proben war ein Klacks gewesen. Aber er wollte kein Crazy Dog sein, er wollte uns nur unterstützen. Das fanden wir okay.
Zwischen all den Vorstellungen gab es immer ausreichend Zeit, die Bühne umzubauen. Sie hatte sogar einen Vorhang, klasse! Und es gab einen Wohnwagen zum Umziehen. Supersahne! Matte strahlte wie ein Zirkuspferd mit seinem breitesten Grinsen. «Herbert!», sagte er stolz, «das war Herbert.»
Herbert war der Älteste in der WG, vielleicht sogar ihr Gründer. Er war tatsächlich immer schon da gewesen, seit ich denken kann, er ist der stillste, besonnenste und weiseste zwischen all den Besonderlingen. Sein Zimmer ist immer picobello sauber und aufgeräumt, voller Bücher mit einem riesigen Schreibtisch vom Sperrmüll, an dem er seine sehr gefragten Theater- und Literaturrezensionen schreibt, und ist Herbert, einfach nur Herbert, den alle mögen. Und der sogar ab und zu Pom was sagen darf, wenn er dummes Zeug labert.
Herbert tauchte auf, klein, blass, roter Rauschebart und zwinkernde Augen, absolut unsexy, aber mit einer sehr, sehr sexy Stimme, so Gänsehaut-like. (Wenn man ihn dabei nicht ansieht.) Er liebte es, wenn ich ihn durchknubbelte, er war dann aber total verschämt. Also nahm ich ihn mir jetzt vor, und eigentlich hätte ich doch glatt die ganze Welt mal eben durchknubbeln können.
Herbert hatte sich tatsächlich ein erfahrenes Organisationstalent besorgt, einen jungen Franzosen, der in Frankreich ähnliche Feste organisierte und zurzeit bei ihnen in der WG wohnte: Guillaume.
Guillaume kam um die Ecke, er sah absolut französisch aus und lächelte gekonnt mit allem Franzosencharme der Welt. Er sah mich mit seinen Maronenaugen an und hauchte ein «Oh làlà, la petite Enkeltochter von Juliette Greco ...» in mein verschämtes Gesicht, dass ich Wackelknie bekam und nach Pom schielte. Jaja, dem wuchs sofort ein glutroter Hahnenkamm, und er nahm mich beiseite.
«Nix da, schöne Maid!», murmelte er, «das wird nix! Verstanden, meine Zuckererbse? Der taugt keinen Centime, er wird schön seine französischen Fingerchen von meiner kleinen Asternblüte lassen, sonst ...» Und er knurrte wild und gefährlich. Er war wieder ganz und gar Pom, der bescheuerte Zampano, voll meschugge und obersüß, sodass ich grinsen musste, artig knickste und ein «Ja, mein Herr und Gebieter» hauchte.
Jetzt grinste auch Pom, drohte mir noch mal mit dem Finger, drehte sich um und sah Guillaume hinterher, der schon einem anderen jungen Mädchen was in den Ausschnitt hauchte. Mannomann, das konnte ja heiter werden ...
Matte zupfte mich am T-Shirt. «Mirjam», flüsterte er unauffällig, «Mirjam, ist was ... Ich meine, irgendwie ist Pom heute ... also, ist was passiert oder so? Irgendwie muss da doch was passiert sein, oder?»
Und als ich strahlend nickte und «Alles wieder paletti» murmelte, damit mein manchmalblöder Vater das jetzt bloß nicht mitbekam, machte Matte einen Sprung in die Luft, schlug die Beine zusammen und schrie Juchuu! Pom tippte sich bloß an die Stirn, weil er Gottseidank keine Ahnung hatte, warum Matte plötzlich eine überdrehte Springmaus wurde, und da kicherte auch Mone, die immer mal wieder aufmerksam Poms Gesicht betrachtet hatte. Sie hatte längst seine Zurückverwandlung bemerkt. Sie hat für so was den siebten Blick oder sechsten Sinn oder achten Dingsbums, «irgendwie» so was in der Art. Wie Matte behauptet.
Ich setzte mich weiter weg unter die riesige Blutbuche mit ihrem gewaltigen Blätterdach. Ich schloss die Augen und atmete den Mai ein und war glücklich.
Da hörte ich plötzlich ein Gekicher neben mir, Phil hatte mich entdeckt und strahlte. Ich strahlte zurück. Heute war ohne Frage der absolute Siebensternestrahletag, denn Pom war nach einem langen Winter zu uns zurückgekehrt, durch dunklen Wald, auf einem finsteren Weg durch Eis und Schneewehen, aber er hatte den Weg zurück zu Bärenfrau und Bärenkind gefunden. Sie hatten ja auch lange genug mit allen Honigtöpfen der Welt gewunken. Lange genug.
Phil sah, dass ich glücklich war, er sah es so blitzschnell, wie er auch immer gleich mitbekommen hatte, wenn ich mich mal wieder genüsslich in meiner Düsternis eingerichtet hatte. Und weil ich glücklich war, war er es sofort auch. Er sagte das, was Sam mal in seinem komischen Deutsch zu David gesagt hatte: «Wir sind zwei glückliche Pilze.» Zwei glückliche Pilze mit Kicheranfällen. Denn ich konnte nur nicken und Phil kitzeln, bis er sich kugelte und ganz weiche Augen bekam.
Irgendwann sah ich David mit Sam und Ötte, sie schleppten schon das ganze Zeug zur Bühne, denn es wurde immer voller, und man kam kaum noch durch das Gedränge. Ich hörte, dass jemand auf der Bühne die Technik überprüfte, und jetzt, jetzt, um Stunden zu früh, bekam ich die Panik, die sich auf leisen Sohlen aus dem Staub gemacht hatte, weil Bärenpom sie mit seinem Hinterteilgewackel und Bärenbrummlied verscheucht hatte. Aber jetzt schlich sie sich wieder an, heimtückisch und hinterhältig, wie sie nun mal war, kehrte sie siegesgewiss zurück. Und sie riss, wie Lady, wenn sie gefährlich sein wollte, ihr Maul auf und fauchte. Und was tat ich prompt? Ich begann zu zittern, zu frösteln, und die Luft wurde mir knapp.
Erst als die restlichen Crazy Dogs, die diesmal ihr Maskottchen, den leibhaftigen Crazy Dog, leider zu Hause lassen mussten, vor mir standen, mich drückten und bewunderten, rollte mein klappriges Herz ein paar Runden langsamer. Irgendwann würde auch Sarah kommen, mit ihrer Mutter und dem kleinen Monster, das hatte so lange gequengelt, bis sie nachgegeben hatte. Es wollte unbedingt Poms Kindertheatervorstellung sehen: das kleine, urkomische Stück mit den beiden Aliens «K2R und Fixwienix: UFO-ALARM!» Das hatte Pom doch tatsächlich wieder aufgewärmt, weil es einfach klasse war für solche Anlässe. Und das, obwohl es jetzt schon älter war als ich, wie Pom kopfschüttelnd nachgerechnet hatte.
Tante Greta wurde von ihrer WG mitgeschleppt, sie wollten irgendwann am Nachmittag eintrudeln. Bestes Publikum also. Aber die vielen anderen, die Musik vielleicht so sehr wertschätzten und sich damit auskannten, dass sie unsere wilde Blues-Mischung nicht gelten ließen und anfingen zu buhen – der Albtraum von jedem, der auf einer Bühne steht. Pom konnte davon tonnenschwere Albträume kriegen. Obwohl ihm das noch nie passiert war. Na klasse, schon schlich die Panik nicht mehr in Samtschühchen in mir herum, sondern wechselte zu klobigen Holzschuhen! Und trampelte meine ganze Freude platt.
Aber es gab Phil, der mir Witze erzählte, die ich niemals behielt, über die er selber immer am meisten lachen musste, und der mich daran erinnerte, wie wir auf unserer letzten Kassette geklungen hatten, nämlich schräg, witzig und zum Mitwippen, so good-feeling-like ... Dann rochen wir Köstlichkeiten, Phil schnupperte in der Luft herum wie Masseltow, er schnappte sich meine Hand, und wir rannten los, wir wollten sehen, was alles auf den Ständen angeboten wurde, ich wollte Phil Lena zeigen, die heute ihr Leuchten zurückbekommen hatte, das seit Poms Geburtstag immer mehr verloschen war ... Heute endlich hatte eine gute Fee das Erlösungswort für diesen schrecklichen Zauberbann gesprochen, der seit damals über uns allen gelegen hatte.
Wir knabberten kleine, gefüllte Zucchiniküchlein mit einer göttlichen Knoblauchsoße. Achdulieberschreck, das war streng verboten vorm Singen! Zu spät. Wir lutschten Softeis und sahen David, Sam und Ötte winken. Sie standen bei Lena, welche Frage! Lena stand hinter ihrem Tisch mit der schweren, nachtblauen Samtdecke, auf der sie ihre wunderbaren kleinen Schätze aus Holz, Ton, Glas oder Stoff ausgebreitet hatte. Sie hatte immer eine besondere Kollektion für solche Anlässe, die kunterbunten, fröhlichen, erschwinglichen Sachen, die so eindeutig Lena waren, wie Pom Pom ist, jetzt, wo er uns, nein allen hier auf dem Fest sein unvergleichliches, einzigartiges Weib präsentierte, als hätte er es höchstpersönlich erschaffen. Alle seine Pfauenfedern waren zu einem Rad ausgebreitet. Aber Lena war so froh, dass sie nur albern kicherte und nicht mitbekam, wie Ötte schon lange nichts mehr sagte, keinen Piep, nur grimmig Pom anstarrte und hin und wieder unauffällig-auffällig Lena kleine, veilchenblaue Blicke zuwarf. Und das Leiden stand ihm im Gesicht. Auweia!
David kaufte ein Lederarmband und schenkte es Sam, Ötte kaufte eine Kette aus einem Lederband mit einer schweren, wunderschönen Tonscherbe und einer Feder, die etwas indianisch aussah. Sie stand ihm gut, sie gab ihm fast etwas Verwegenes. Und als Lena sie ihm umband, glühte sein Gesicht wie alle Scheinwerfer vor der großen Bühne, und ich glaube, er hätte auch alle anderen Ketten gekauft, wenn Lena sie ihm dann um den Hals gebunden hätte. Puh, die Liebe ...
Irgendwann gab Ötte uns ein Zeichen, und wir verschwanden aus Poms Dunstkreis, das wurde aber auch Zeit. Wir setzten uns weit hinten auf der Wiese mit den Zelten in den Schatten, schauten auf die Ruhr und sagten erst mal nichts. Nachher würden wir eine Gruppe sein, die irgendwann zu einem einzigen Klang werden sollte, aber jetzt war jeder für sich allein. Oh Bessie Smith, deine Zeilen Nobody knows you when you’re down and out hätte ich jetzt seufzen können. Ich hatte das Gefühl, Lichtjahre weit fort an einem Ort zu sitzen, den jeder vergessen hatte, keiner würde mich finden.
Ist das so vor jedem Auftritt? Wie hält man das aus? O Gott, Pom, geht es dir jedes Mal aufs Neue genauso? Angefüllt mit unendlicher Einsamkeit und Angst? Trotz deiner Bühnenpräsenz, wenn du erst mal begonnen hast? Trotz Matte an deiner Seite? Nein, nein, nein, ich würde in diesem Leben kein Künstlerleben führen, das steht fest. Die Bühne ist nichts für mich. Aber jetzt, Mirjam Engels, musst du da durch. Reiß dich zusammen und kein Geschiss.
Irgendwann, gefühlte Wochen später und sieben Monate zu früh, mussten wir uns aufmachen, denn gleich würde Lena singen und brauchte Phil. Danach mussten wir sofort unsere Ausstattung aufbauen, den Ton checken und um zwanzig Uhr startklar sein. Phil verschwand hinter dem Vorhang, und seltsamerweise war auch David verschwunden. Lena hatte ich schon hinter die Bühne huschen sehen.
Ich ging mit Ötte zu Sam und Sarah und ihrer Mutter plus kleinem Bruder. Da wartete auch schon Tante Greta. Sie sah elegant aus wie immer. Zwei ihrer Studentinnen hatten sie rechts und links untergehakt, sie machten das unauffällig, damit sie nicht merken sollte, dass sie sie eigentlich stützten. Denn das lange Stehen konnte Tante Greta nicht mehr so gut. Ganz vorne stand natürlich Pom, und Aufregung und Liebe glühten in seinen Gesicht.
Irgendwann öffnete sich der Vorhang, die Scheinwerfer flammten auf, und dort stand Lena. Rechts daneben Phil und links David. Wieso David? Was hatte der da oben zu suchen? Ich war so überrumpelt wie ein Goldfisch, der plötzlich eine Katzenpfote in seinem Wasserglas entdeckt. Mir hatten sie nichts verraten.
Die beiden Liebermänner hatten ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt an und schwarze Jeans, Phil sah umwerfend aus, David sowieso. Aber seit wann tat Phil das auch, ich meine, seit wann war er ein junger Mann, er war doch immer mein kleiner Bruder gewesen, mit dem ich so schön gibbeln konnte?! Ich wurde ganz zittrig von dieser Entdeckung. Und überhaupt, wieso wusste ich davon nichts? Pom wohl auch nicht, er sprang wie ein Stehaufmännchen hoch und runter und stieß alle seine Kumpel an. Ich konnte sein ungläubiges, aber aufrichtig stolzes Gegacker hören.
Und dann schlug Phil ein paar Töne auf seiner Gitarre an, und meine Mutter begann. Der Burghof wurde still. Lena, die da oben so aussah wie ein unwirkliches Geschöpf aus einer uralten Legende, sang mit ihrer Rauch-und-Nebel-Stimme eine irische Weise, und plötzlich klagte Davids Klarinette dazu, Phil ergänzte ihn hin und wieder mit der Gitarre, und es war zum Heulen schön. Sie brachten eine Handvoll Lieder, Phil spielte sogar bei einem ein Saxofonvorspiel, und Lena sang, und alle Sterne zischten um die Bühne herum ins Publikum. Und direkt unter meine Haut. Als Lena so voll Inbrunst das letzte Lied sang, den alten irischen Song Curragh of kildare, betörend schön klagend und sehnsüchtig, da sangen viele Stimmen mit.
Der Applaus donnerte, und ich fiel Ötte in die Arme, raste auf die Bühne, drückte mich an meine Mutter, die Unglaublich-Unaussprechliche, aber da wurde ich einfach von Pom zur Seite geschoben, und ich kümmerte mich um David, aber der hatte schon Sam im Arm, also schnappte ich mir Phil und küsste ihm sein Gesicht nass. Phil hielt ganz still und sagte gar nix. Keinen Mucks.
Dann mussten wir unsere Ausstattung aufbauen. Die Hälfte war ja schon oben, nur Öttes und mein Mikrofon mussten noch überprüft werden. Wir kleideten uns um, die Boys schlüpften in ihre Jeans und das weiße T-Shirt, ich ließ meinen Flatterrock an und musste nur meine Bluse wechseln. Ja, jetzt prangte Masseltow auf unserem Rücken, und wir legten für ihn wirklich und wahrhaftig eine Gedenkminute ein. Vorne auf den T-Shirts stand dick und klar zu lesen: CRAZY DOGS.
Wir sahen gut aus. Schlicht und wirkungsvoll. Und wir würden erst mal mit dem Rücken zum Publikum stehen, wenn der Vorhang sich öffnete. Nur Matte saß im Hintergrund an seinem Schlagzeug. Masseltow würde dem Publikum in die Augen springen, ja, unser Maskottchen auf unserem Rücken sollte sie überraschen, dann würden wir beginnen und uns dabei langsam, einer nach dem anderen, umdrehen. Der Techniker gab uns ein Zeichen, und es ging los.
Der Vorhang öffnete sich. Und mein Mund war für immer zu. Zugenäht. Eine endlose Naht bis hinter die Nacht. Ich wollte nur noch tot umfallen. Aber sekundengenau, gerade noch rechtzeitig für meinen Einsatz, beschloss irgendwas in Mirjam, ihr diese Blamage zu ersparen. Ich holperte, ich sang matt, aber dann war ich da. Und wie! Ich spürte regelrecht, wie ich da war. Wie die Musik sich in mir auftürmte und mich riesig machte und die anderen mit. Und dann dachte ich nichts mehr. Ich sang und spielte Mundharmonika und war Mirjam, die das kann. Tatsächlich. ICH! KONNTE! ES!
Dann kam irgendwann unsere geliebte Bessie Smith mit Love, love, careless love, so viele nach ihr haben diesen Song schon gesungen und jetzt wir! Und wir gaben unser Bestes: Öttes Mundharmonika seufzte, die Klarinette empörte sich, die Gitarre hüpfte manchmal fröhlich dazwischen, sie machte sich lustig, und Phils Saxofonsolo war zwar kurz, aber beeindruckend, und meine Stimme bekam eine Million Zungen, weil ich dieses Lied so besonders liebte:
Love, love, careless love
You’ve fly through my head like wine
You’ve wrecked the life of many poor girls
And you nearly spoiled this life of mine.
Irgendwann sangen Ötte und ich zusammen, wir sangen uns die Seele aus dem Leib, und ich glaube, wir waren so gut wie nie! Ja, meine anfangs schlappe Stimme wurde stark und kriegte Muckies und schlug allen die Nase platt, so sagte Pom hinterher. Mein kleiner Vater war nämlich mächtig beeindruckt.
Die Menschen vor der Bühne klatschten mit, sie wippten mit den Füßen, sie pfiffen und wollten mehr, und wir sangen als Zugabe unser sanftes Lullaby, das hatten Ötte und ich mal zusammen erfunden in einer unserer Sternstunden ganz am Anfang, und der Text war mir wirklich und wahrhaftig mal vorm Einschlafen «zugefallen». Das Publikum konnte ruckzuck den Refrain, Feuerzeuge wurden hochgehalten, und man summte andächtig mit:
My sweetheart, my dear,
no worries, no fear
no pain and no law
no hunger, no war
will never, never hurt you
cause I ’m here and I love you.
Wir hatten hinterher so viel Adrenalin im Blut, dass alle Haschpfeifchen der Welt uns keinen größeren Rausch hätten bescheren können. Jetzt kapierte ich sogar, warum Pom das brauchte. Wenn es wirklich gut lief, war das Hochgefühl überwältigend. Man war so richtig angetörnt, wie die Freaks das nannten.
Kurz gesagt, unser Auftritt war ... war ..., äh, ja, wie war er denn? «Irgendwie toll», würde Matte jetzt sagen, und, okay, er war irgendwie toll. Aber eigentlich war er «volle Kanne» toll, genau, Ötte. Dazu kamen die Mainacht, das Blinken der Ruhr unter uns, das Flackern der Feuerstellen in der Dunkelheit, das Gesumme der vielen frohen Menschen, der Rotwein, das erste heimliche Glas mit Sarah und Phil, das Gelächter, die Sterne ... Mehr fällt mir nicht ein, außer dass die Freude und die Erleichterung so groß waren wie Castrop-Rauxel, Bottrop, Essen und Wanne-Eickel zusammen.
Wir mussten einigen Kindern Autogramme geben, aber auch einigen Erwachsenen, so manch einer hätte gerne so ein Masseltow-T-Shirt erstanden. Und Sam beschloss, das für weitere Auftritte alles zu organisieren, Visitenkarten, Infos und T-Shirts.
Tante Greta war nach unserem Auftritt mit zwei Mädchen aus ihrer WG zurückgefahren, sie hatte alle Crazy Dogs stolz an ihre Brust gedrückt, aber gemeint, dass sie für so viele Menschen nicht geschaffen sei. Sarahs Mutter war auch schon längst mit dem kleinen Monster verschwunden, es hatte geschrien und getobt, aber es hatte ihm nichts geholfen.
Später am Abend dann, als alle Kinder längst verschwunden waren, saßen wir einträchtig auf einer Decke und genossen die warme Nacht mit ihren Sternen und Geheimnissen.
Aber dann, Kerlokiste ... da gab es doch noch, es war schon fast Mitternacht, und der Burghof begann sich zu leeren, diesen kleinen, beinahe gefährlichen Moment, als Pom mit zwei Bierbechern zu Lenas Stand zurückkehrte und sie dort gerade mit Guillaume lachte und sich weit über ihren Tisch beugte, um ihren Krimskram einzusammeln. Und dem fielen seine Augen direkt in ihren Ausschnitt. Himmel und Hölle und Pastis!
Aber sie sah Pom kommen. Und sie wusste auf der Stelle, was zu tun war. Sie strahlte, winkte, schrie, nahm Pom das Bier ab, küsste ihn wild und stellte ihn Guillaume vor als das größte Geschenk ihres Lebens. Der zog ein langes Gesicht, und Poms Gesicht wurde noch runder und schaute verächtlich an dem langen Franzosen hoch, der doch tatsächlich geglaubt hatte, er hätte «un petit chance». Der hatte doch sowieso nur merde im Kopf! Merde und französischen Brie. Was sonst?
Pom ist Pom ist Pom ist ...
Und Phil und ich hatten mit Sarah zusammen wohl mehr Rotwein geschluckt, als gut für uns war. Ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen bin.
Aber alles war bestens. Selbst noch am anderen Morgen.
Dann begann der Sommer. Und mit ihm kamen die wilden Gartenpartys, das Schulfest und die Abiturfeiern, wie jedes Jahr. Die Girls drehten durch und besorgten sich Ballkleider. Ballkleider! Die meisten sahen darin aus wie ihre eigene Mutter. Einige waren nämlich zur Abifete der Jungs aus den Abiturklassen eingeladen worden. Kristin sowieso. Ihr Kleid wurde zur Legende: ein Hauch von durchsichtiger Spitze, besonders an den pikanten Stellen, und unten am superkurzen Rock etwas Tüll.
Und bei uns? Was war los bei Familie Engels, die endlich, endlich wieder eine Familie war? Da war wirklich der Frühling und dann der Sommer eingekehrt. Ich glaube, Pom war von uns allen am meisten froh, dass er wieder der alte Pom war und den Weg aus seiner Krise mit dem Nachnamen Midlife und dem Vornamen Beschissen herausgefunden hatte. Er wirkte wie ein ausgezehrter Heimkehrer, der eine dunkle, einsame Zeit in einem unwirtlichen Land zugebracht hatte und nun voller Glück alle Lieblingsmenschen und -orte in der alten Heimat neu erkunden wollte. Und das tat er. Mit Inbrunst.
Er unternahm mit Lena in jeder freien Minute mit dem Motorrad Ausflüge, meistens abends, mit einem Korb voll mit Lenas Delikatessen, mit einer Decke und Windlichtern. Dann brausten sie los und klapperten alle ihre Lieblingstouren ab, und manchmal kam ich mit. Aber ehrlich gesagt, ließ ich sie meistens lieber allein, das wussten sie zu schätzen. Oft lagen sie auch in der neuen Hängematte, die Lena ganz fix aus doppeltem, sehr strapazierfähigem Segeltuch in Überbreite genäht hatte, sie lagen dort und redeten oder redeten nicht. Und Lady und ich, wir konnten nicht genug davon kriegen, ich meine, von dieser neuen-alten Vertrautheit.
Und so kamen die Sommerferien. Wir, die Familie Engels, Pom, Lena und Mirjam, machten uns auf nach Südfrankreich, nachdem wir erst blöd gezögert hatten wegen unserer mal wieder miesen Finanzen. Aber dann wurde gepackt. Poms Motorrad wurde im Bus festgezurrt. das musste mit, Zelte und das ganze Stangengedöns wurden aus dem Keller geholt und das Campinggeschirr nachgezählt. Unser Theaterbus wurde nun fast zu einem trojanischen Pferd, wie Pom grinsend meinte. Er strahlte voller Vorfreude und lief unermüdlich hin und her. Lady Engels zog in ihr Sommerdomizil zu Tante Greta. Die hatte uns allen einen üppigen Zuschuss für diesen Urlaub spendiert, und wir hatten ihn ohne jegliches Schamgefühl angenommen.
Provence, wir kommen! Grillen, ihr könnt schon mal euer Willkommensgejauchze üben. Lavendel und Thymian, Rosmarin und Pinien, und du, mein geliebter Mont Ventoux, wartet, bald sind wir da!