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Man hatte mich in der Klinik gezwungen, nein bearbeitet und bearbeitet, alles, was in der Provence geschehen war, aufzuschreiben. Das sollte den Heilungsprozess in Gang bringen. Aber wie konnte ich das alles beschreiben, die ersten hoffnungsreichen Urlaubstage zwischen den südlichen Farben und den prahlerischen Gerüchen dort in Südfrankreich, die voller Lug und Trug waren? Die Erinnerungsfetzen grinsten mich immerzu höhnisch an, sie kicherten ihr falsches Gelächter in meine Blödheit. Sie schütteten ihre ganze Häme in meine kindliche, nein kindische Blindheit, in diese Zeit der falschen Fröhlichkeit, der bestürzenden Verlogenheit.

Aber als ich in der Klinik wirklich endlich zu schreiben anfing, bruchstückhaft, in ersten Versuchen, da wusste ich es auf einmal, ja, ich sah und fühlte es wieder, ich konnte es sogar riechen und schmecken, dass es eigentlich zwei Tage vor unserer Abfahrt begonnen hatte. Etwas geschah mit meiner Mutter. Meine schöne Mutter hatte ein Geheimnis, das ihr das Lächeln mit Dornen umzäunte. Das Geheimnis war giftig wie Schneewittchens Apfel. Meine schöne Mutter wurde eine schöne böse Königin mit einem bösen Geheimnis. Und sie hütete ihr Geheimnis. Sie war die Königin aller Königinnen im Geheimnis-Hüten. Und ich habe alles gespürt und nichts gemerkt. Und nichts gewusst und nichts verstanden. Nichts. Denn: Sehe ich den vergifteten Apfel nicht, so gibt es den vergifteten Apfel nicht. So einfach war das. Ich schaffte so was perfekt. Ich war schon immer so. Mirjam, die Stummetaubeblinde. Die Blöde. Herrgott noch mal, war ich blöd!

Und meine Mutter zerbrach mit ihrem Lächeln, das kein Lächeln war, was ich in meiner Blindheit aber nicht erkannte, die lange Fahrt und die heißen Tage in gleißende Splitter, die sich unter die Haut bohrten. Und Pom wackelte betont gutmütig hinter ihr her und tat auf dickerliebersanfter Bär, der viel, viel Honig verteilen möchte. Und ich, ohne jegliches Gespür für gefährliche Unterströmungen, merkte nicht einmal, dass wir längst alle auf ziehendem, tückischem Treibsand standen.

Wenn die Stimme meiner Mutter tausend Nadelspitzen hatte, wenn Pom sie umarmte, so dachte ich kurz: Ach, Pom, du Übertreiber, lass es doch mal gut sein, du nervst. Und wenn Pom seinen berüchtigten Das-ist-mein-Weib-meines-ganz-allein-Blick auf Pierre knallte, den Maître unseres Lieblingscafés in Bédoin, wenn der ab und zu Lena ein Lächeln schenkte, da dachte ich ebenfalls nur: Pom, du alter Obergockel, hör auf damit. Aber zwischendrin dachte ich immer wieder wütend: Lena muss alles verderben. Was ist los mit ihr?

Ein heftiger Zorn flackerte dann kurz in mir auf, aber das helle, südliche Licht war stärker. Und: Urlaubsfröhlichkeit war angesagt. Wir alle hungerten geradezu nach Urlaubsfröhlichkeit nach dieser anstrengenden letzten Zeit.

Als die schrille Stimme meiner Mutter mich in meinem Zelt aus dem Schlaf riss, rollte ich mich fröstelnd und klein in meinem Schlafsack zusammen. Die warme, duftende Nacht wurde zu einer riesigen Eisscholle, unter der ich verschwand, Lenas Gekeife war so kalt wie alle Gletscher zusammen.

Ich hörte zerrissene Sätze, hörte Verrat und Hölle, ich hörte Poms genervtes Brummen und später sein zorniges Gebrüll: «Hör verdammt noch mal endlich auf damit!», als er sein Motorrad startete und mit Vollgas in der Dunkelheit verschwand, um dieser alles erfrierenden, tödlichen Stimme zu entkommen.

Ich presste die Fäuste in meine Ohren, ich zerbiss mein Kopfkissen, ich zerbiss meine Liebe zu Lena, ich konnte sie mit dieser Stimme nicht lieben, ich zerbiss die alte, unbekümmerte Mirjam mit ihrer falschen Ahnungslosigkeit und ihrer Unschuld. Ich zerbiss die Zeit und spuckte sie aus. Nur an diesem Stückchen Nacht sollte ich noch lange würgen.

Immer wieder, auch heute noch, höre ich Lenas schrilles Geschrei und Poms leiser werdendes Motorrad. Dann hörte ich die Stille und die Stille, ich hörte meinen keuchenden Atem und meinen Herzschlag überall unter meiner Haut.

Irgendwann hörte ich Lena vor ihrem Zelt weinen und wäre gerne abgehauen, so wie Pom. Sollte sie doch weinen, bis in alle Ewigkeit, Amen. Auch der Wind weinte zwischen dem Ginster und den Pinien. Ich hörte ihn heulen auf der Straße über unserem Nachtplatz. Und ich hörte meine Schreie, als sich die Sirenen unserem Campinglager näherten, als sie uns suchten. Und ich wusste es, noch bevor sie uns fanden.

Ich wusste, dass wir keine Familie mehr waren.

Nie wieder wollte ich mit meiner Mutter etwas zu tun haben.

Ja, ich sollte alles aufschreiben. Als Therapie.

Aber ich konnte nicht schreiben. Ich wollte nicht schreiben. Ich durfte nicht schreiben. Denn wenn ich es aufschrieb, war alles wieder da. Dann gab es das alles wieder, es wurde zu einer Tatsache, dann würde es dort stehen, schwarz auf weiß: Pom ist tot. Mit seinem Motorrad verunglückt. Von der bösen Königin mit ihrer bösen Königinnenstimme nach einem von ihr hochherrschaftlich in Szene gesetzten Streit in den Tod getrieben. Und meine Dunkelheit danach hatte keine Worte, dafür waren die Worte noch nicht erfunden.

Allein schon das Wort «Dunkelheit». Wie arm, wie kläglich, wie geizig! Wie falsch! Und doch ist es das einzige, das herhalten muss. Weil «Schmerz» oder «Verzweiflung», diese Wörter, Gefühle benennen, aber es war kein Gefühl, es war ein dunkler, fremder Ort in einer dunklen, fremden Mirjam. Wenn meine böse Königinmutter mit ihrer liebsten Stimme versuchte, einen Pfad hinein in diese Dunkelheit zu finden, ja, Dunkelheit, Herrgottnochmal, so schaffte sie es nicht. Niemals. Und keine Hexenküche, keine dreizehnte Fee, kein gekaufter Jäger und kein Spieglein an der Wand hätten ihr dabei geholfen. Lena verbannte sich selber. Sie verbannte sich in ein schwarzes Loch hinter allen Milchstraßen des Universums.

Tante Greta konnte mit ihren Eulenaugen in diese Dunkelheit sehen. Eulen können das. Sie sind Weltmeister im Sehen in der schwärzesten Nacht. Und sie holte Hilfe. Denn auch Eulen können nicht alles. Sie brachte mich nach Deutschland zurück, Lena fuhr allein mit dem Theaterbus, niemals hätte ich mit ihr zusammen zurückfahren können. Und Tante Greta war es auch, die mich auffing, als ich auf dem Friedhof umfiel, einfach so. Weg war ich. Am liebsten wär ich zu Pom in die Grube gefallen. Ich wusste da noch nicht, dass ich höchst theatralisch sein kann.

Dann war ich fast drei Monate in einer Klinik, und als ich entlassen wurde, hatte ich doch ein paar Seiten geschrieben. Eine ganz erstaunliche Seite, an die ich mich nicht erinnern konnte, nicht eine einzige Zeile kam mir bekannt vor. Ich fand die herausgerissenen Seiten beim Packen zusammengeknüllt zwischen meinen Schuhen. Und diese unbekannten Zeilen in meiner Schrift machten mich tatsächlich neugierig, und ich las sie und war verwundert. Da fand ich eine Mirjam, die trotz Dunkelheit Licht genug hatte, diese Worte zu finden.

Warum muss alles einen Anfang haben?

Dieses hatte keinen Anfang. Ich kann nicht sagen, wann es begann. Und schon gar nicht, wie. Dieser ganze Schlamassel. Und das ist ein ziemlich schlappes, unscharfes Wort für das Ganze. Für dieses alles, das irgendwann einmal begonnen haben muss. Es muss angefangen haben. Nichts zerbricht einfach so. Da war ein Anfang, und keiner hat ihn bemerkt. Am ehesten Lady. Die vielleicht. Die wusste schon immer alles vorher. Katzen sind so, nur dass sie nichts sagen.

Pom selber war vielleicht der Anfang. Oder Kristin, diese bescheuerte Sache mit Kristin. Oder diese bescheuerte Midlife-Krise. Oder es war noch früher. Irgendwas mit mir, was ich nicht weiß. Oder nicht kapiert habe oder nicht mitgekriegt habe mit meinen Büchern vor der Nase, mit dem Blues und den Crazy Dogs. Und mit meinen Bildern, die ich überall mit meiner Kamera suchte. Oder mit dem Sammeln von Wörtern. Da hab ich wohl voll die falschen Wörter erwischt.

So ist das mit diesem verdammten Anfang, er ist die Dämmerung des Tages, der geht, oder er ist die Dämmerung der Nacht, die gerade kommt. Oder umgekehrt. Und wo genau das ist und wann, wer kann das schon mit Bestimmtheit sagen? Eher fängst du Licht in grünen Flaschen und erhellst damit die Mitte der Nacht, diese einzige, stille Sekunde, in der das Nichts ist, köstlich und schrecklich zugleich.

Ja, das würde Tante Greta gefallen: köstlich und schrecklich zugleich. Ich hab das bloß irgendwo gelesen. Oder auch nicht. Ich weiß nicht mehr, wo meine Worte anfangen und die gesammelten sich vermengen zu neuen, eigenen. Oder gibt es nur gebrauchte?

Mit tut der Kopf weh. Und die Traurigkeit ist eine Verzweiflung hinter meiner Stirn, ein aufgestörtes Tier in meiner Brust, das heult und tobt und kratzt und sich windet, und es nagt sich von Zelle zu Zelle. Davon hat man Millionen. Milliarden, glaube ich. Ich habe so ziemlich hundert Milliarden Zellen, und sie erfinden gerade die Zellteilung, mein Kopf tut weh, und meine Wörter gefallen mir nicht. Diese Wörter würde ich nicht sammeln, das steht fest. «So isset», würde Ötte jetzt sagen, und Pom würde sein «das ist Sache» dranhängen. Na klasse, schon taucht mein Vater auf, sein runder, glatter Seehundkopf schiebt sich durch die Millionenmilliarden Zellen. Millionenmilliarden Zellen sind eine glatte Untertreibung, merke ich gerade, als ich Pom sehe, gestochen scharf und gut ausgeleuchtet mit diesem Pom-Lächeln, das selbst ein Steinherz zum Knospen bringen würde. Und dann verschwindet das Bild in dem Durcheinander hinter meinen Augen.

Und ich weiß immer noch nicht, wann der Anfang war für diese verdammte, verdammte Geschichte. Mit diesem verdammten, verfluchten Ende.

Jetzt, beim erneuten Lesen dieser zerknüllten Zettel mit der fast unleserlichen Schrift, die aber eindeutig die meine ist, stelle ich verblüfft fest, dass ich den Anfang überall suchte, bei mir, bei Kristin, bei Pom, bei seiner Midlife-Krise, sogar bei den Crazy Dogs, aber nicht bei Lena. Sie kommt in diesem Text nicht vor. Keine böse Königin weit und breit. Alle meine Therapeuten hätten jetzt die Öhrchen gespitzt, zum Stift gegriffen und wären zur Hochform aufgelaufen.

Dabei war es damals nichts als eine glatte Verweigerung jeglicher Erinnerung an die böse Königin mit ihrer Gift-und-Dornen-Stimme. An eine Mutter, die mir einfach meinen Vater genommen hatte. Eiskalt. Genau das war es und nichts anderes. Das liegt ja wohl auf der Hand. Und sofort wuchs die Kälte in meinem Herz wieder um ein paar Minusgrade.

Aber: Ich begann tatsächlich zu schreiben. Ich wollte versuchen, die kleinen Lebenszeichen, die ich nach meinem Zusammenbruch gab, zu sammeln und zu ordnen, vielleicht, nur angenommen vielleicht, würden sie sich irgendwann einmal zusammenfügen zu dem Protokoll eines Fasttodes und meiner Wiederauferstehung. (Wie immer neige ich zur Dramatisierung.)

Ich hatte in der Klinik irgendwann nach der großen Verstummung angefangen, David ein paar Briefe zu schreiben, also fragte ich ihn, ob er mir meine Briefe zurückgeben könne; das wollte er nicht, aber er hat sie alle sorgsam kopiert, und so füge ich sie hier ein. Ich musste diese neue Mirjam ja erst selber kennenlernen, sie war mir fremd und doch auch vertraut, sie war ein kleines, unsicheres Kind und eine uralte, vom Leben gezeichnete Frau ... So in etwa.

Ist ja auch egal, ich werde hier nicht an meinen Wörtern rumfummeln, das würde sie bloß verfälschen, und irgendwie würden sie dann so nett gekünstelt klingen. «Gekünstelt» wäre Mist. Aber wie sollte ich das schaffen? Ich war ein einziges verstrupptes Durcheinander: Ich fühlte mich schuldig und unschuldig, ich war hochtief, helldunkel, blöd und winzig und fast nicht da!

Ich suchte mich in den wenigen Momenten, in denen ich ein Lebenszeichen von mir gab – das sind die paar Zeilen und Briefe, die ich in der Klinik geschrieben habe, und das sind meine Fotos, die dort entstanden sind. Ich zerlas und zerschaute sie jeden Tag aufs Neue, denn ich war mir auf der Spur. Ich musste mich finden. Und hartnäckig war ich auch.

Hier mein erstes, nein zweites Lebenszeichen, der Brief an David. Das erste Zeichen waren wohl diese zerknüllten Zettel mit meinem Geseufze über den Anfang, der sich einfach in Nebelschwaden hüllte. Leider habe ich kein Datum draufgeschrieben, natürlich habe ich an so etwas damals nicht gedacht. Aber der Brief an David trägt ein Datum, er ist ungefähr fünf Wochen nach Poms Tod geschrieben worden. Ich vermute, dass ich meinen wirren Wo-ist-der-Anfang-Text eine Weile davor geschrieben habe.

Ich wähle zwei meiner sechs Briefe aus, es sind wohl die wichtigsten, weil es die ersten beiden sind.

Brief eins

David. Wo kommst du plötzlich her?

Du tauchst auf und bist dringlich in meinem Kopf, und das dumpfe, neblige, klumpige Gehirn gibt dich frei, und ich kann einen Moment durchatmen.

Und meine Worte fangen wieder an, mit ihren Flügeln zu schlagen, und wollen fliegen. Und wohin sollten sie sonst wollen als zu dir?

David, verzeih dieses Verstummtsein. Poms Tod hat eine dicke, dunkle Decke über alles geworfen, was jemals in mir mit Licht beschienen war oder selber geleuchtet hat.

Und das Erste, was geschah, war, dass meine Wörter sich ganz klein machten, sie steckten ihre Köpfe tief unter ihre Flügel und versuchten ein Überwintern. Verstehst du das? Ja: Du verstehst.

Ich konnte nicht. Ich konnte nicht denken unter dieser Decke, ich konnte nicht erinnern, nicht handeln, nicht planen, nicht wollen, nicht fühlen.

Aber so stimmt das nicht. Denn ich konnte schon fühlen, aber da gab es keine Variationen, kein Auf und Ab, kein Hoch und Tief, hell, strahlend, bunt, grau, getupft, dieses Durcheinander von allen Möglichkeiten. Nur Schwarz. Es gibt ein schwarzes Gefühl. Ein Gefühl gibt es also.

Und ich bin noch nicht mal sicher, ob dieses schwarze, steinige, drückende, lichtverschlingende, frostige Etwas da in mir drin ein Gefühl ist oder ein Tier, verwahrlost, ausgehungert, verstoßen, gefährlich. Oder eine giftige, fleischfressende Pflanze. Oder ein Wettergeschehen. Ein Naturunheil.

Wenn Lena kommt, will ich sie nicht sehen. Ihre Augen sind ganz ertrunken in Traurigkeit, sie schwappen immerzu zu mir rüber. Und ich will das nicht.

Ich will diese Mutter nicht.

Ich will Pom! Ich will ihn zurückhaben. Ich will mich. Ich will mich zurückhaben. Ich bin mir verloren gegangen und treibe auf der Suche nach Pom irgendwo im Weltall von einem sterbenden Stern zum andern. Gewiss ist jedoch, dass ich nur hilflos und losgedockt irgendwo in mir selber herumtreibe. Oder festsitze. Eingeklemmt. Festgezurrt. Ans Kreuz genagelt.

Grins nicht. Herr im Himmel! Meine wiedergefundenen Wörter dürfen auch pathetisch sein. Sie dürfen alles sein, wie ein Kind, um das man heftige Sorge getragen hat und dem jetzt aus lauter Erleichterung alles erlaubt ist. Oder, David?

Ist das ein Fortschritt? Werden meine Wörter die Mirjam finden, die ich bin, die ich war, die ich werde? Werden sie?

Aber, sie sind wieder da. David, sie sind wieder da. Die Wörter sind gerade etwas zaghaft und noch unbeholfen mit ihren eingeschlafenen Füßchen und Flügeln abgehoben, um dich zu finden.

Und mit dir zusammen mich. Mich? Aber wer bin ich? Ich bin ja gar nicht mehr da. Gerade eben so ein kleines bisschen. Jetzt. Beim Schreiben.

David, schreibst du mir? Freund David. Bitte schreibe mir.

Deine Mirjam.

Brief zwei (nur einen Tag später)

David, Freund, ich weiß, du konntest noch nicht antworten, bestimmt hast du meinen Brief noch gar nicht bekommen.

Mein Brief an dich hat ein kleines Wunder bewirkt.

Mein Kopf wird klarer, als ob Wolken auseinanderreißen. Meine Wörter zappeln heftig in mir herum und geben mir wilde Zeichen. Ich verstehe sie nicht. Sie wollen mir etwas sagen. Und ich verstehe sie nicht.

Und so tue ich etwas, was vielleicht hilft. Ich nehme sie mir, nehme einfach einige von ihnen und schaue sie mir an und lege sie zu Mustern zusammen. Und ich weiß, in jedem Muster steckt eine Botschaft, an mich, Mirjam. Ich habe heute ein Muster gelegt, das ich dir schicke.

Du weißt, wir sollen hier keinen Alkohol trinken. Aber irgendjemand hatte gestern eine Flasche Rotwein von irgendwoher hier reingeschmuggelt, und ich saß mit einem halb vollen Zahnputzbecher auf meiner Fensterbank in eine Decke gewickelt und versuchte, die Nacht drinnen und draußen zu entschlüsseln.

Und dann war diese kleine Fliege in den Wein gefallen, und etwas in mir zitterte. Meine Wörter waren sofort bereit, sie zu retten.

«Das allerkleinste Kind», fiel mir ein, das ist ein Begriff aus einem sonderbaren Figurentheaterstück auf einem Festival, und ich wollte nichts, nichts dringlicher, als dieses allerkleinste Kind, diese allerkleinste Fliege zurück ins Leben zu geben.

Siehst du, wie es funktioniert? Von außen komme ich nach innen. Ist das nicht seltsam?

Ich habe die Fliege gerettet. Aber heute Morgen! O Gott! Schau dir dies an. Da ist dieser Text. Entstanden nach der letzten Nacht.

Die allerkleinste Fliege hat mit ihren allerkleinsten Flügelchen einen heftigen Wind entfacht und meine Wörter aufgescheucht, sodass ihre Federn heftig zu flattern begannen und sich sträubten.

Und dann ergaben sie plötzlich dieses Muster, das ich dir jetzt abschreibe und schicke. Wem sonst?

Das kleine Gelb

Sekunden wie endlose Wintertage

bis die nassen Flügel gehorchten,

die zittrigen Beine, die benommenen Sinne –

dann hob sie ab von meinem Finger

in die Dämmerung des Raums

gelb und ein wenig grün

vorne am Kopf zwei winzige Punkte

schwarz

die Reste des Weins

kippte ich in den Ausguss –

am anderen Morgen klebte sie an meinem Arm

gelb und ein wenig grün

und den ganzen Tag diese Traurigkeit

nach der kurzen Sekunde des Glücks

gestern Nacht

diese Flügel, diese Beinchen, das kleine Gelb

ihr plötzliches

Aufunddavon

Und es geschah ein weiteres Wunder an diesem wunderreichen Tag nach der Nacht mit der allerkleinsten Fliege in meinem Leben. In der Bibliothek der Klinik fand ich heute Morgen ein Buch mit Texten von Jandl und mit Interviews und Fotos von ihm. (Weißt du noch, wie wir in einem anderen Leben sein Rinks- und Lechts-Rum geübt haben?) Ja, und siehst du. Da stand für einen kleinen Moment lang die Welt still und hörte auf, sich um Mirjam zu drehen. Um Mirjam mit diesem Endlosgletscher mit seinem Eis und Geröll und den tiefen Spalten in sich drin. Die Welt stand einfach still. Und ich konnte ebenfalls stillstehen und aufhören, um mich zu kreisen.

Ich staunte. Ich staunte, und ein allerkleinstes Flügelschlagen von Liebe flatterte rüber zu Jandl. Ich liebte ihn kurz und heftig.

Und ich bekam eine Ahnung von Synchronizität. Du weißt schon, C.G. Jung.

Du siehst: Gefühle sind wieder möglich! Es geht voran. Ich schreibe dir den Text von Jandl ab:

die morgenfeier

(für friederike mayröcker)

einen fliegen finden ich in betten

ach, der morgen sein so schön erglüht

wollten sich zu menschens wärmen retten

sein aber kommen unter ein schlafwalzen

finden auf den linnen ich kein flecken

losgerissen nur ein zartes bein

und die andern beinen und die flügeln

fest an diesen schwarzen dings gepreßt

der sich nichts mehr um sich selbst bemüht

ach, der morgen sein so schön erglüht.

Ernst Jandl, 8.9.1977

Und die allerkleinste Fliege, die ich vom Alkoholtod gerettet habe für eine Fliegenewigkeit von einer halben Nacht, ja, sie hat mich auf ihre Fliegenart gerettet für die Ewigkeit.

Jaja, grins du nur dein Katerlächeln. Ich weiß es selber: das reinste Pathos! Jedenfalls kann ich nun ein klitzekleines Teilchen von Mirjam in der Hand halten.

Und weitere werden sich dazutun, bis ich ganz zurück bin. Bis ich mich ganz zurück habe.

Kannst du das glauben?

Bitte, Freund David, glaube das.

Und schreibe mir.

David, ich denke an dich.

Deine Mirjam.

David schickte Briefe, liebevolle, detaillierte Berichte über London, über seine Arbeit. Er ging aber meiner «Erkrankung» aus dem Weg. So, wie er es stets auch mit seinen Problemen getan hatte. Doch immer endeten seine Briefe mit: «Du schaffst es. Das weiß ich.»

Aber Phil, unser verrückter Phil, dem ich nicht schrieb, schickte verwackelte, verrückte Fotos von London, er hielt einfach den Fotoapparat hoch in die Luft oder vor sein Knie und knipste drauflos. Die Bilder waren ein Ratespiel und voller Überraschungen. Als die Ferien zu Ende waren und er wieder zur Schule musste, schickte er Collagen, Zeitungsschnipsel und Bilderwitze mit dem typischen englischen Humor, die er in England gesammelt hatte.

Er schrieb sogar hin und wieder eins seiner kunterbunten, spaßigen Phil-Gedichte, so Heinz-Erhardt-Morgenstern-Ringelnatzlike:

Ach, ich Pflaumenbaum,
traue meinen Augen kaum.
Trage plötzlich eine Birne!
Und, watt sachze?
Gar nix!
Tippst dir an die Stirne!

Die kamen natürlich alle sofort an meine Pinnwand neben meinem Schreibtisch. Wenn ich sie dort las, schafften sie fast so was wie ein Lächeln am Ende meiner Mundwinkel.

Ja, sie hatten mir doch tatsächlich einen Schreibtisch in mein Zimmer gestellt. Das nennt man Fürsorge. Oder Weitsicht. Oder?

Phil tat alles, was er tun konnte, um mich aufzuheitern. Von London, mit einer Entfernung von einigen hundert Kilometern und dem Meer dazwischen, warf er unentwegt Rettungsringe, damit ich mich festhalten konnte, bis Land in Sicht war oder rettungswillige Schiffe. Später, von Essen aus, schickte er mir Briefe wie Papiervögel, die bunt waren und singen konnten. Ja, das konnten sie.

Irgendwann wartete ich auf diese Briefe mehr als auf Davids. Und irgendwann schrieb ich Phil zurück, einen einzigen langen Brief. Und dieser Brief war wie ein starker Arm. Mein eigener Arm – o Phil, du hast es gewusst! –, der mich langsam, aber unerbittlich am Schopf packte und mich aus mir herauszog, aus dem sumpfigen, schlammigen Meeresboden, an dem ich immerfort gründelte und abtauchte und von dem ich den Weg nach oben nicht fand. Oder verweigerte?

In diesem einen langen Antwortbrief suchte ich ebenfalls nach Besonderheiten, Satz- oder Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, Textstellen, die ich fand, Zeilen, die in mir vor dem Einschlafen herumtrudelten, und die Pom-Puzzleteilchen, die manchmal wie Blasen in mir hochstiegen und die ich hin und wieder vor dem Zerplatzen retten konnte. Phil konnte ich von Pom schreiben.

Und ich schrieb kleine Songtexte. Natürlich für Melodien in melancholischem Moll. Ich entdeckte meine Mundharmonika wieder.

Und ich sammelte Licht. Tante Greta hatte mir gleich am nächsten Tag nach der Einweisung ihre kostbare Hasselblad mitgebracht und mindestens zwanzig Filme, die Schlaue. Da in mir eine verschleimte, zähe Trübe herrschte, war ich süchtig nach Licht. Ich verschoss Film um Film: die langen Flure mit ihren Schatten, kleine Einblicke durch halb geöffnete Zimmertüren, die dampfende, nervöse Küche zur Mittagszeit, der Park im frühen Morgen, der Mond über dem Teich in den Händen der Bäume, die eilenden Schwestern, mein Zimmer mit den Morgensprenkeln und dem trägen Abendlicht.

Ich sammelte und sammelte, und mein Blick wurde schärfer, je weicher das Licht wurde. Ja, er wurde scharf und unbestechlich. Er wurde immer sehnsüchtiger und gefräßiger.

Ich hungerte nach Licht. Das Sattwerden wurde zu einer Frage des Überlebens. Und Tante Greta, die Gute, die Treue, brachte immer neue Filme. Und sie ließ alle Fotos entwickeln. Alle. Selbst die misslungenen. Sie seien so eine Art Protokoll, meinte sie. Sie hatte, wie immer, recht.

Eines Tages tauchte Dr. Meerbusch in meinem Zimmer auf. Sie ist die Psychologin meiner Gesprächstherapie. Und sie war so perplex, als sie einige der an die Wand gepinnten Fotos sah, dass ihr noch nicht mal eine einzige ihrer berühmten Fragen einfiel. Sie war so stumm wie ein leeres Blatt Papier. Dabei war sie eine hochbegabte, unbestechliche, unerbittliche Fragenstellerin, sodass man nach einem Gespräch mit ihr glaubte, sie habe einem Löcher in die Seele gefragt, die sie aber stets mit den richtigen Antworten, die man natürlich selber finden musste, wieder füllen ließ. Und man stellte überrascht fest, dass sie mit ihrer Fragerei bloß hässliche Flicken entfernt hatte und man nun in neuem Glanz erstrahlte. So in etwa. Das war ihr Ruf hier bei uns.

Ein paar Tage später bat sie mich zu einem Gespräch außerhalb meiner Therapie. Aber natürlich ist in diesem Haus alles Therapie, sogar die vermatschten Kartoffeln und der glibberige Vanillepudding.

Als ich den Raum betrete, sitzen sechs (!) Leute um den Tisch. Dr. Meerbusch vor Kopf.

Ich mag sie. Und ich mag sie nicht. Sie sieht gut aus. Und sie sieht nicht gut aus. Sie ist klar und offen. Und sie ist hinterhältig. Nein! Sie ist nicht hinterhältig. Eher so undurchschaubar. Sie hat oft ein paar dieser besonderen Fragen im Hinterhalt, die wie kleine, harte Fausthiebe sind, jeder ein Treffer. Sie schlägt einem die Nase blau, aber sie hält Tupfer und Pflaster bereit. Und die Nase ist hinterher eine Spur gerader als vorher. Wir nennen sie Rocky.

Als ich den Raum betrete, hören die Gespräche auf. Ich mag das nicht. Ich werde dann auf der Stelle ganz stumm. Ich schaue mich um und bin verwirrt. Dr. Meerbusch hat den Chef persönlich, zwei seiner Hilfssherrifs und zwei der Kreativtherapeuten dazugebeten. Zwei seltsame Wassergeschöpfe. Eins davon ist eine Frau. Wir nennen sie Mermaid, weil sie eine so blasse, milchige Haut hat und flusige, sonnenbleiche Haare. Wir vermuten einen schuppigen Fischschwanz unter ihren langen Batikröcken. Aber sie hat Power.

Der andere Kreativtherapeut, den wir Moby Dick nennen, weil alles an ihm Walfischformen hat, blinzelt mich nervös an. Er hat so einen Blinzeltick, wenn er aufgeregt wird, und wir schließen manchmal Wetten ab, wer es als Erster schafft, ihn zum Blinzeln zu bringen, und wie lange es dazu braucht. Swenja schafft alle Rekorde. Sie schaut ihm zwei Sekunden tief in seine Fischaugen, und sie zucken wie ein Gewitter über stürmischer See. Wir ahnen, dass er heftig verliebt ist, der Arme. Und wir füttern ihn. Mit kleinen Swenja-Brocken. Für Swenja ist das die allerbeste Therapie, die sie kriegen kann. Von uns. Und umsonst. Sie, die noch nicht mal ein Gramm von einem Kükenfederchen Selbstbewusstsein hat, blüht plötzlich auf wie das erste Schneeglöckchen im März. Danke, Moby Dick! Du tust ihr gut. Wird sie entlassen, bist du dran mit Therapie, so viel steht wohl fest.

Vor ihnen auf dem Tisch liegen einige meiner Fotos. Weitere habe ich dabei. Auf dem Tisch Kaffee, Tee, Wasser, Saft und Kekse. Und in einer Ecke des Raumes steht ein altertümliches, schweres Epidiaskop, ihm gegenüber eine Leinwand. Dr. Meerbusch stellt mich vor. Sie erklärt in kurzen Sätzen, warum ich nach Poms Tod hier gelandet bin.

Ich fange an zu zittern. Ich verstumme restlos und nicke hilflos von einem zum andern. Rocky redet und redet, und meine Fotos erscheinen übergroß auf der Leinwand, und ich ziehe mich weit in mich zurück. Ich bin gar nicht mehr da.

Goodbye, Mirjam. Ich winke mir noch einmal zu, bevor ich verschwinde in diesen etwas diffusen Fotos von den Fluren, dem verzauberten Geflecht der Bäume, den Schornsteinen, die über der Küche die Wolken vermehren. Ich sitze in den Fotos mit den Morgenvögeln auf dem Geländer der Terrasse, ich eile mit den Schwestern von Zimmer zu Zimmer, ich tauche ein in das Licht, das in allen Fotos herumschwimmt und zart und mächtig ist. Eine Überfülle von besonderem Licht.

Ich werde schwer und ganz eng, das tut weh. Ich schaue auf die übergroßen Bilder auf der Leinwand, und plötzlich erfüllen mich diese Fotos mit ihrem Licht und ihren besonderen Stimmungen mit einer milchigen Sanftheit, mit einer ziehenden Sehnsucht. Und ich werde heller und weit, irgendetwas platzt da gerade in meiner Brust und drängt hinaus aus einer unbarmherzigen Dunkelheit, zurück ins Licht. Ich spüre, wie sich meine Nackenhärchen hochstellen wie bei dem Entdecken des ersten überwältigenden Schnees am frühen Morgen. Etwas geschieht gerade in mir drin.

Es macht scharfe, kleine, knackende Geräusche, wie diese zersplitternden Töne, wenn Eis bricht und sich verschiebt, Risse entstehen und Wasser auftaucht, leise gurgelnd und atmend. Und ich bin plötzlich voller Risse. Voller Wasser. Ich heule und heule und heule. Ich heule alle Tränen, auf die man hier gewartet hat, die in mir gewartet haben, und ich höre nicht mehr auf.

Und dann bin ich wieder da. Ich, Mirjam, bin wieder da. Die Tränen schwemmen mich nach oben, mein Kopf findet das Loch zwischen den Eisschollen, ich bin stark, ich schiebe sie auseinander, ich atme durch, ich ziehe tief die kühle, klare Luft ein, fülle die ausgehungerten Lungen, die Zellen, den Kopf, das Herz, ich stemme mich hoch. Ich ziehe mich raus. Durchgefroren, tropfend, nass und fast vollständig erstarrt bin ich über dem Eis. Nicht mehr darunter, nach einer Lücke suchend. Nach Luft ringend und betend. Und erfrierend.

Ich bin über dem Eis. Meine Fotos ziehen mich da raus.

Ich durfte die Klinik verlassen. Zwei Wochen später packte ich meinen Koffer, mit der Auflage, jede Woche zu einer weiteren Therapiestunde zu kommen. Wie lange, das würde man sehen. Und im Advent sollte zusammen mit dem berühmten Basar eine große Ausstellung meiner Fotos sein. Eine Wanderausstellung. Und ein Kalender mit diesen Fotos von hier war geplant, ein Kalender über diese Klinik, die ein paar Wochen mein Rettungsboot gewesen war. Presse sollte da sein, das Radio und voll der ganze Rummel. Aber im Advent. Wann war Advent?

Jetzt war Anfang Oktober, und da draußen erglühte ein prächtiger Herbst. Ich sollte ein paar Tage bei Iris, eine von Tante Gretas Freundinnen, am Gardasee verbringen. Bevor mein altes Leben weitergehen sollte. Mein altes Leben? Wer glaubte denn so was? Mein altes Leben war gestorben.

Aber draußen wartete David. Und Phil. Und irgendwann auch wieder Sarah, meine Schwester, die gerade in Afrika war zu einem viermonatigen, selbst gewählten Praktikum in einer Klinik in Kenia. Wir hatten uns keine Briefe geschickt. Aber sie würde bald zurück sein. Und auch Ötte und Masseltow warteten. Das wusste ich von Tante Greta.

Hallo, ihr meine Lieben da draußen! Mirjam ist zurück. Noch zittrig, taumelig, durchgefroren, schweratmig, aber zurück. Über dem Eis.

Ich bin so froh, dass es euch gibt. Bitte helft mir, nicht wieder einzubrechen.

Eure noch nicht ganz erglückte Mirjam.

Und dann gibt es noch diesen letzten Brief aus der Klinik, den schickte ich an David und Phil nach Essen. Er hat einen Schimmer von Hoffnung zwischen den Zeilen und Erleichterung, dass mich das Leben wieder hat oder dass ich das Leben wieder habe oder dass ich zumindest versuchen werde, mich in diesem neuen Leben zurechtzufinden.

David, mein bester Freund, lieber, lieber Phil!

Dies ist wohl der letzte Brief aus der Klinik. Hurra und Hurra und Hurra! Morgen packe ich alle meine Sachen in den grünen Seesack von Pom, der es unbedingt sein musste, als Tante Greta meine Wäsche und Kleidung und alle meine Toilettensachen und den übrigen Krimskrams in einen Koffer packen wollte. Ich wollte Poms Seesack. Ich wusste, dass er bei ihr abgegeben worden war. Poms Seesack musste es sein.

Mein Herz wuchs drumherum, und ich konnte nicht mehr aufhören, in seinem verblichenen Stoff nach Resten von Poms Geruch zu schnüffeln. Ich bekam die Nase eines Ameisenbärs, und meine Hände wuchsen in seine Tiefen, um dort etwas zu finden, das ich fassen konnte, um es bei mir zu tragen. Zuerst fand Tante Greta die Idee nicht besonders gut, sie befürchtete wohl, dass es so was wie ein Bumerang werden könnte, der mich mitten in der Brust trifft, voll hinein in mein schwarzes Loch dort. Dann muss sie wohl meine Sehnsucht nach greifbaren Dingen gespürt haben, die mir sagten: Ja, Pom hat es gegeben, und wie! Ich könnte euch da Sachen erzählen ... Und außerdem fand sie den Seesack äußerst unpraktisch, was er ja auch ist. Alles rumpelt darin durcheinander.

Aber dieses verschlissene, grüne Ding war auf unseren Motorradfahrten stets meine Rückenlehne gewesen. Jetzt ist er immerhin eine klasse Metapher. Pom hat ihn immer hochkant auf dem kleinen Gepäckträger festgezurrt, und so saß ich zwischen Poms breitem Lederrücken und dieser prall gefüllten grünen Leberwurst gepresst und fühlte mich sicher.

Ja, natürlich ist es jedes Mal ein heftig zuckender Schmerz wie beim Abreißen eines Pflasters. Man weiß, jetzt tut es gleich weh, und trotzdem erschrickt man fast zu Tode. Und unter meinem Pflaster ist noch nichts, rein gar nichts geheilt, da klumpen Eiter und Schorf und Schmutz zu einem hässlichen Brei, und der puckert wie wild. Ja! So ist es.

Ich brauche ihn aber. Ich brauche diesen Seesack, dieses Pflaster, das zumindest so tut, als würde darunter was heilen. Ihr beide versteht das, da bin ich ganz sicher.

Gestern Abend gab es eine Abschiedsfete für mich. Weil ich gehen darf. Und so plötzlich, wie alle finden. Markus hatte die Idee. Er hat das beste Zimmer hier, am Ende des Gangs im obersten Stock, das einzige nach hinten zum Park raus und fast nicht zu sehen mit all den Bäumen davor. Und: Es hat einen klitzekleinen Erker mit Platz für unsere mitgebrachten Kissen. Wir beneiden ihn alle um dieses Zimmer, aber wir gönnen es ihm. Wir waren fünf, meine engsten Verbündeten in dieser Klinik gegen den Rest der Welt in dieser nussgroßen Galaxie hier, und wir hatten Angst, dass dieser angesetzte Erker mit uns herunterkrachen würde. Wenn wir lachten, stießen wir mit den Backen an seine Kanten oder an die Fenstergriffe, die man abgeschraubt hatte ...

Wir hatten Millionen Teelichter für die Fensterbänke (verboten!), zwei Millionen Kissen und zwei Flaschen Sangria (noch mehr verboten!). Klebrig, süß und gefährlich. Hatte ein Kumpel von Markus reingeschmuggelt, der alle Tricks draufhatte, wenn er zu Besuch kam. Leider hatten wir keine Zitronen.

Sugar sagte: «Nee, bloß keine Zitronen, bloß nich’. So sauer, wie wir alle in uns drinnen sind, so sauer wie ’ne ganze Wagenladung voll von diesen Dingern ...»

Sugar liebt nichts mehr als süßen, giftbunten Kram. Zum Schlecken, zum Anziehen, zum Lesen, zum Duften, zum Wasweißich. Dann waren da noch Bonnie und Clyde, das sind unsere Geheimnamen für unser Geheimpärchen hier.

Wir waren traurig und gleichzeitig aufgekratzt, natürlich auch, weil das alles unter Androhung von Todesstrafe strengstens verboten war. Diese Mischung aus Hoch-Tief war eine brisante Mischung und konnte jederzeit knallen. Oder uns in das Nirwana in unserem Inneren befördern. Aber irgendwas band uns fest zusammen, es war eine starke Schnur, und wir waren bereit, um uns herum eine Schleife damit zu binden mit einem kitschig-bunten Anhänger von Sugar, so lauter sugarsüße Kätzchen drauf, und er könnte die Aufschrift tragen: The best friends for a while ...

Sugar summte irgendwas und lutschte wie immer an einem Lolli und hatte bonbonrosa und quietschgelbe Schleifchen im Haar. So richtig sugarlike eben. Ihr T-Shirt war grasgrün und übersät mit pinkfarbenen Herzchen. Maren hatte gerade eine heftige, dicke Krise, einen bescheuerten Rückfall, sodass sie noch nicht einmal ihre Nase aus ihrem Bett stecken wollte. Ich hätte sie so gerne dabei gehabt. Denn eigentlich waren wir immer sechs. Sie hat mir ein Band gehäkelt und Perlen und Muscheln hineingeflochten Und kurz lächelte die böse Königin in mein Gesicht, es war so haargenau eins von ihren Königinnenschmuckstücken, dass ich scharf und tief erschrocken meiner Luft hinterherjagen musste ... Aber es war nicht so vollkommen wie die von Lena, eben so ganz Maren, dass ich es gespielt unerschrocken um meinen Fußknöchel band, weit weg von meinen zittrigen Augen. Ihr beiden müsst wissen, hier hat jede und jeder eine tiefdunkle Geschichte in einem seiner Geheimverstecke unter Verschluss, aber Gottseidank ohne Schallschutz, denn diese Geschichten schreien und brüllen, sie wollen heraus und endlich erlöst werden. Aber nicht bei allen. Bei manchen sind sie so restlos verstummt, dass selbst die Antennen eines Weltraumteleskops nur ein Rauschen vernehmen würden. Aber Frau Dr. Meerbusch ist allen auf der Spur und gibt Hilfe, dass wir sie befreien. «Ins Licht zurückbringen», würde sie es nennen. Damit wir sie begucken können. (Und in Ohnmacht fallen. Oder in Todesstarre verharren. Mindestens.)

Naja, David, du und ich, wir passen recht gut dazu. Das steht wohl fest.

Und als wir so über alle herziehen, Anwesende und Maren natürlich ausgeschlossen, Maren ist sowieso everybodys little darling, also, als wir so tratschen, dass sich die Balken biegen, fällt uns das Gedicht wieder ein, das irgendjemand heute Morgen an die Pinnwand neben den Speisesaal gehängt hatte, ohne Namen, und es hatte für eine prachtvolle Unterbrechung des täglichen Ablaufs gesorgt, für eine grandiose Unruhe unter den Mitarbeitern, für stundenlanges Rätselraten. Man hatte zuerst auf mich getippt, es dann doch wieder verworfen, ich sei nicht mutig genug, und außerdem hatte ich beim Vorlesen ein absolut unschuldiges Gesicht. Klar hatte ich das.

«Es muss aber ein Mädchen sein», sagte Sugar. «Wer sammelt schon Glanzbilder?»

«Jemand, der unseren Dr. Reinhardt nicht mag», sagte Clyde, der Daniel heißt. Und gerade beide Eltern zusammen verloren hat.

«Nun, das wären wohl alle hier», grinste Markus, «das ist also nicht besonders hilfreich!»

Ja, Dr. Reinhardt. Wir nennen ihn den Oberhasen, weil er immer so tut, als hätte er beide Ohren weit ausgefahren und würde uns zuhören wie ein Weltmeister, aber eigentlich nur etwas Unbestimmbares in seinem Eierkopf hin und her bewegt und total gelangweilte Augen hat. Also, Oberhase Dr. Reinhardt ist geradezu ausgeflippt, als er das Gedicht entdeckte, und er ließ es sofort verschwinden. Seltsamerweise tauchte etwas später eine weitere Fassung davon am Pinnbrett auf. Und das viermal! Alle Achtung. Und niemand hat mitgekriegt, wer es war. Nicht einmal Rocky, die fast ihre berühmte Fassung verlor, als sie wohl vor sich selber zugeben musste, dass sie keine Ahnung hatte, von wem es war. Sie selber war natürlich nicht gemeint, wir hoffen alle, dass ihr das klar ist. Aber, wie Ötte immer sagt: Jeder zieht sich den Schuh an, der ihm passt.

So isset!

Ich schreibe euch mal ab, was dort stand, alle haben es bereits abgeschrieben, bevor irgendein verkorkster Blödmann es für immer vernichtet.

Nie geschriebener Brief an meinen Therapeuten

Ich zeigte dir meine Geschwister

meine Mutter zeigte ich dir

und meinen Vater

und meine Venus und meinen Saturn

ich zeigte dir meine Glanzbildersammlung

und meine zerknitterten Briefe

an mich und all die anderen Leute

denen ich schreibe und schrieb

ich zeigte dir meine Silberfische

und meine Kakerlaken

und du sitzt einfach da und glotzt –

du sitzt einfach da

und du glotzt und bist taub

und ich schließe meine Augen

ich schließe meine Augen und höre:

dahinter kichert es

Markus fragte: «Und? Wie findet ihr es?»

Wir fanden das Gedicht gut. Ziemlich gut. Besonders natürlich die Silberfische und Kakerlaken. Große Klasse. Und es brachte etwas auf den Punkt. Aber es war nicht höchste Stufe Literatur und so. Doch darum ging es hier ja auch nicht. Eigentlich waren wir alle begeistert. Markus grinste breiter. «Ich finde es auch klasse», sagte er. «Hab ich richtig lange dran gebastelt!»

Jetzt krachte der Erker tatsächlich mit Getöse in die Tiefe. Wir kreischten. Und wir fielen um. Wir kugelten in den Kissen und schnappten nach Luft.

«Du?», kreischte Sugar, und als Markus andächtig nickte, kreischten wir wieder von vorne los. Kreischen tat gut, es lockerte irgendwas in uns drin.

Sugars Schleifchen hüpften. «Biste so ein Süßer, so ein Butterkeks oder so?», fragte sie, nach Luft schnappend, und schon ging das Gekreische aufs Neue los, dass sich der Himmel über der Klinik kräuselte.

Markus’ Grinsen war jetzt so breit wie die Klinik plus Park plus Teich. «Klasse Tarnung. Oder?»

Wir nickten, wir küssten ihn, wir waren «the best friends for a night» und für eine Ewigkeit.

«Eigentlich hatte ich ja Autobildchen gemeint, die zum Einkleben und Tauschen, aber dann glimmerten plötzlich die Glanzbilder in meinem Kopf und schwups, da tummelten sie sich auch schon in meinen Zeilen. Meine Schwester hatte welche ...»

Bonnie seufzte und flüsterte: «Voll mit Glitter und Herzchen und Blümelein oder Engeln und Feen.»

«Total süüüß», hauchte Sugar. Was sonst? Und wer sonst?

Und irgendwann lagen wir kreuz und quer und so eng wie die Ölsardinen in ihren kleinen Blechsärgen und waren voll des süßen, eklig-klebrigen Weines, der ganz sicher keiner war, den wir aber trotzdem «Alkohol» nannten, schon deswegen, weil dieses Wort hier nicht erlaubt war. Und man es nur mit dreimaligem Bekreuzen nennen konnte.

Und draußen vor den Fenstern hing der Oktoberhimmel, tief violett, und wir hingen in unserem eigenen Abendhimmel tief in uns drin, bei manchen war es auch bereits der Morgenhimmel mit seinen Versprechungen. Und wir sagten nix mehr.

Und das war’s. Das war meine Abschiedsfete.

Und David, mein Freund, lieber guter Phil, sie hat auch ein kleines bisschen Anteil an dieser Kruste, die gerade dabei ist, sich über meiner klaffenden Wunde zu bilden, die man hier notdürftig mit ein, zwei groben Stichen genäht hat. Die trage ich nun mit mir rum, es wird eine Narbe geben, irgendwo in meiner Brust, in meinem Kopf, eigentlich überall. Und: Manchmal bin ich mein Feind und kratze sie fast wieder ab, ihr wisst schon ...

Ach, DavidPhil. Ich werde sie alle vermissen, tatsächlich. Auch Oberhase Dr. Reinhardt mit seinen gelangweilten Augen. Ich war hier auf einer Insel am Ende der Welt, mit allem versorgt, sogar mit Liebe. Und morgen tobt da draußen wieder das Leben. Und ich weiß noch nicht, ob ich das schaffe.

Aber da draußen ist auch Tante Greta. Da ist das schöne Italien mit dem Gardasee, da soll ich mich noch ein paar Tage schonen. Und da bist du, David. Und da bist du, mein lieber Phil. Und ihr wartet, ich weiß, dass ihr wartet. Und ihr glaubt an mich. Ich danke euch so sehr. Also, wirklich und wahrhaftig: Ich komme.

Glaubt mir, das Krüstchenbilden hat begonnen. Und ihr könnt mir dabei helfen, reißt meine Finger fort, wenn sie wieder daran knibbeln wollen. Das müsst ihr tun, David. Bitte, Phil!

Ich umarme euch, nein, ich umherzel euch. Fest und warm.

Eure Mirjam

P.S. 1

Übrigens, mich nennen sie hier Perlmutt, von wegen Muschel und so, ihr wisst schon, mit diesem Stein drin. Und sehr zu (!).

P.S. 2

Kuss Kuss Kuss

P.S. 3

Perlmutt, das ist doch auch so ein ganz besonderes Licht, eine Art Geschimmer. Und das passt irgendwie zu Mirjam, der Lichtsammlerin. Hoffentlich habe ich das nicht verlernt ...

P.S. 4

Ne, ne, kann ich gar nicht verlernt haben, da gibt es ja diese Fotos von hier. Ihr werdet euch wundern ...