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Tante Greta holte mich aus der Klinik ab. Britta saß mit im Auto, sie sollte wohl so etwas wie eine Vermittlerin zwischen mir und meiner Mutter sein. Ich wartete darauf, dass sie irgendwas von Lena erzählen würde, und hätte sie es getan, wäre ich aus dem Auto gesprungen. Aber sie schwieg. Sie umarmte mich liebevoll, und ich staunte, dass ich mich noch an ihren besonderen Geruch erinnern konnte. So nach Babypuder und Nivea und sauberem Wasser. Und als sie sich verabschiedete, seufzte sie tief. Aber kein Wort über Lena kam über ihre und meine Lippen.

Tante Greta war mein neues Zuhause. Sie sagte mir klipp und klar, dass sie mir noch eine gewisse Schonzeit gewähren würde, aber nach den Tagen am Gardasee müsste ich wieder zur Schule. Und dann müsste ich die Sache mit Lena anpacken. Sie sagte noch eine Menge mehr, auch Dinge, die ich nicht hören wollte, die mich tief trafen, die mir wehtaten und die sofort und auf der Stelle in meinen geheimen Kammern verschwanden. Diese Kammern sind so geheim, dass ich selber nicht so recht weiß, ob ich sie jemals wiederfinde.

Sie sagte sehr klar und sehr deutlich, dass ich um eine Begegnung mit Lena nicht herumkäme. «Nicht alle Dinge sind das, was sie scheinen», erklärte sie sehr eindringlich. Und ich erinnerte mich, dieselben Worte schon einmal gehört zu haben.

Ich nickte, murmelte «jajaja» und dachte nur: Später. Irgendwann mal.

«Du musst das tun», sagte Tante Greta. «Du musst das tun für dich und für Lena. Und für Pom!»

Bei Pom zuckte immer noch etwas wie wild in mir herum, wie ein angefahrenes Reh, das fliehen will, aber nicht wegkann. Und Stromschläge wanderten von Zelle zu Zelle und jagten sich.

Tante Greta hatte sich ein Sonderprogramm für mich ausgedacht: Wir machten Museumsbesuche, durchforsteten Bibliotheken, besuchten Kunstsammlungen, machten Spaziergänge und gingen den Schulstoff durch, den ich verpasst hatte. Tante Greta ist unglaublich. Sie versteht es sogar, mir die schwierigsten Mathematikprobleme zu erklären. Und Fremdsprachen kann sie fließend. Also krempelten wir die Ärmel hoch und fingen an. Und dazwischen saß ich im sanften Herbstlicht auf ihrem Balkon und verträumte mich in diesem Lichtgewirr unter den leuchtend gelben Blättern der alten Kastanie.

Einen Tag vor meiner Fahrt an den Gardasee gab mir Tante Greta einen Umschlag, und als ich ihn öffnete, fand ich dort diesen Elsa-Text, den ich längst vergessen hatte. Pom hatte ihn so genannt, als er ihn in der Provence gefunden hatte, neben einem übervollen Abfallkorb am Rande des Marktplatzes von Bédoin, als wir uns dort in dem kleinen Café von Pierre vom lautbunten Markttreiben unter den alten Platanen ausruhten.

Er kam damit an unseren Tisch zurück und zeigte uns seinen Schatz. Ein kleines Oktavheft mit Etikett, darauf stand in einer kindlichen Mädchenschrift ELSA, umrankt von lauter Blümchen. Das Heft klebte vor Schmutz und war völlig durchnässt und fast unleserlich, aber in der Mitte des Heftes gab es ein paar Seiten, die konnte man mit viel Geduld entziffern. Und Pom las sie uns andächtig vor. Ich wurde auf der Stelle sauer. Ja, ich wurde richtig neidisch auf Elsa. Nix da, mein Vater sollte bitteschön nur meine Worte verehren, die ich ihm allerdings nie, niemals zu lesen gegeben hätte. Mich, Mirjam, die Oberbescheuerte, machte dieser Text nervös, und ich hörte gar nicht richtig zu. Pom las ihn mit vielen Pausen und Rätselraten und Staunen. Wer war diese Elsa, wie alt mochte sie sein? Würde sie ihr Heft vermissen? Sie würde, ich wusste es. Ich dachte an meine Hefte und musste schlucken. Wir fragten Pierre, er fragte seine Gäste, wir fragten in der Pension nebenan, keiner kannte die deutsche Elsa, vielleicht elf Jahre alt mit höchst sonderbaren Gedanken. Elfjährigen Gedanken, dachte ich etwas herablassend. Mensch, wer denkt schon über Regenwürmer nach!

Pom sagte: «Ich werde es verwahren», und steckte es tief in seine Lederjacke. Und jetzt tauchten zwei Seiten in Poms Handschrift auf, er hat diesen Elsa-Text fein säuberlich abgeschrieben, in seiner allerbesten Schönschrift, unverschnörkelt, sauber und deutlich. Und auf der Stelle muss ich losheulen, denn dieser Manchmal-Holzklotz von meinem Vater hat in diesem Text von Elsa ihre Seele gespürt und heilig gehalten. Er hat diese Zeilen aufgehoben und beim Abschreiben seine Gedanken mit ihren Worten verflochten. Diese beiden Zettel sahen aus, als hätte er sie oft auseinandergefaltet, um sie zu lesen, etwas muss ihn stark berührt haben. Und als ich nun Elsas Text las, jetzt ordentlich lesbar und ohne Stocken und Pausen und ohne meine Plemplem-Eifersucht, verwunderte mich nichts mehr. Es ist, als ob Pom seinen Tod vorausgespürt haben könnte und ihm dieser kindliche Text über Seele Trost und Halt gegeben hat. (O Mirjam, du warst schon immer groß im Hineininterpretieren ...)

Aber diese Zettel aus Poms Motorradkluft, die man gefunden hatte und die Tante Greta mir nun gab, waren so heftig und Pom so nah, dass ich krank davon wurde. Ich wurde fiebrig und sank zurück in meine Unterwasserwelt. Tante Greta musste die Reise absagen. Und als ich zurück war von diesen Fieberlandschaften, in denen seltene, fast verloren geglaubte Erinnerungen erblühten, las und las ich diesen Elsa-Text noch viele Male, und ich musste sehr darauf achten, nicht wieder in einem Meer von Tränen abzutauchen in das stille, dunkle Wasser mit seinem schlammigen Grund, in dem ich mich hübsch eingerichtet hatte, um so wieder die Überwasserwelt zu verweigern.

Für Elsas Text bastelte ich einen besonderen Umschlag aus einem hauchfeinen japanischen Papier, über und über mit zarten Blüten bedruckt. Er liegt seither in meiner Nachttischschublade. Auch Tante Greta las Elsas Text. Auch sie war sehr von Elsas kindlichem Philosophieren beeindruckt.

Hier ist er, geschrieben von ELSA, geschätzte elf Jahre, von Pom gefunden, verwahrt und verehrt und säuberlich abgeschrieben:

Elsas Text

Heute hat Pfarrer Bernhard über SEELE gesprochen. Wir durften alle was dazu sagen. Haben Tiere eine Seele, auch die blöden Brennnesseln und die Steine? Auch Spinnen und die glibberigen Quallen? Kann man ja nicht wirklich glauben. Muss man aber, denn Pfarrer Bernhard sagt JA! Weil sie ja von Gott sind, der das alles gemacht hat. Und was der gemacht hat, ist heilig. Das, lieber Gott, ist klasse, weil ich es dann auch bin. Ist doch logisch, oder?

Gestern lag ein Regenwurm auf der Straße, ein halb zerquetschter Regenwurm, er sah echt eklig aus, und ich wär beinah draufgetreten. Aber er lebte weiter, da waren zwei Teile, die weiterlebten, ich hab’s geseh’n, naja, eigentlich bloß so gefühlt. Ich hätte sie ja mal anfassen können, aber eher wär ich gestorben, weil ich wusste, dass die beiden ekligen Teile noch lebten. Seelen sind nicht eklig, sagt Pfarrer Bernhard, sie sind total heilig, das Heiligste überhaupt. Gleich nach Gott. Also, ich fühlte, dass da jetzt zwei Regenwürmerteile lebten. Aber welcher hatte jetzt die heilige Seele? Da müssen dann doch einfach zwei Seelen sein. Denn sonst hätte die eine Hälfte keine. Wie soll das denn gehen? Die zweite Hälfte von dem Regenwurm kann doch nicht einfach keine Seele haben. Das wär doch echt gemein. Oder ist jetzt die Seele in dem zweiten Teil kleiner, sozusagen halbiert? Das stell ich mir irgendwie bescheuert vor. Als wär Gott so ein Blödmann in einem Büro, der pingelig genau ausrechnet, wie viel Seele in so einem Regenwurmteil ist. Und kann man Seele überhaupt errechnen, das nimmt ihr ja ganz das Heiligtum, Ne, das kann ich nicht glauben, dass Gott ein blöder Erbsenzähler ist.

Entschuldigung, lieber Gott, ich weiß, ich denke oft wirres Zeug, ich schreib’s dann auf, und später kann ich lesen, wie wirr alles ist. Aber manchmal muss ich so denken, so als hätte ich Schienen im Kopf, wie eine Achterbahn, und meine Gedanken kriegen nicht die Kurve und fliegen einfach durch meinen Kopf mit Karacho in diese wirren Orte rein, davon hab ich ja genug zum Landen. Sie liegen einfach so in mir rum, als hätte ich nicht richtig aufgeräumt in mir drin. Hört sich echt blöd an, aber ich liebe diese wirren Orte. Ma würde einen Anfall kriegen. Sie hasst Unordnung. Sie putzt immer wie verrückt.

Ob Gott sich teuflisch amüsiert über wirre Gedanken? (Teuflisch ist echt cool, finde ich. Und, lieber Gott, das ist jetzt nicht bös gemeint, nur irgendwie lustig, findest du nicht?)

Und, Gott, bist du eine einzige riesengroße wirre Seele? Mit aberwitzigen wirren Gedanken und Einfällen? So krumm und verwickelt und durcheinander wie ein Haufen abgerollter Lakritzschnecken, du weißt schon, die aus Holland, die bunten, die so giftig aussehen und irre gut schmecken.

Musst du ja eigentlich, ich meine, wirre Gedanken haben, wenn ich sie habe. Du bist ja irgendwie ALLES, das sagt jedenfalls Pfarrer Bernhard. Und weiß er auch, dass du, Gott, wirre Gedanken hast? Und dass sie leuchten? Stelle ich mir jedenfalls so vor.

Ich glaube, dass Gott seine wirren Gedanken liebt, weil er sie versteht. Oder weil er sowieso alles liebt. Immer. Auch mich, wenn ich Ma’s Ohrringe klaue. Danke, lieber Gott. Bestimmt heißt du deswegen «lieber Gott». Ich verstehe meine Durcheinandergedanken meistens kein bisschen, aber sie sind irgendwie auch schön durcheinander, sodass sie mir gefallen und ich sie echt cool finde. Aber du, Gott, du verstehst sie, auch wenn sie völlig durchgeknallt sind, das weiß ich. Das ist ja irgendwie das Gute an dir. Klar frag ich mich dann: Fange ich jetzt schon an zu spinnen oder so?

Ma würde jetzt verzweifelt die Hände ringen und jammern: «Von mir hat sie das nicht.» Paps würde sagen: «Lass sie doch. Jedenfalls hat sie Fantasie.» Er liebt Fantasie. Ich auch.

Und eines steht fest, Gott, du bist überhaupt die allergrößte Fantasie. Und bitte, bitte lieber Gott, lass mich das auch immer sein. Ich habe eine Seele, die ist heilig, danke, und die hat Fantasie, ganz bestimmt, und ich möchte auch so irre Spuren machen so wie die Schnecken und sie verstehen so wie du und Regenwürmerhälften traurig finden und nicht total eklig. Und ich möchte mich trauen, sie anzufassen, weil sie doch Seele haben. Ich möchte Schneckenspuren immer schön finden, auch wenn ich schon alt und schrumpelig bin. Und ich möchte manchmal schneller aufhören zu weinen, wenn ich keine Ahnung habe, was mit mir los ist, und ich möchte immerzu weinen, wenn es regnet und ich die Seele des Regens spüre, auch wenn ich nur doof rumspinne. Und ich möchte, dass meine Seele wirklich überall ist, auch in dem blöden Fleck an meiner Nase und in meiner Brustwarze, die sich ganz plötzlich wie eine kleine Knospe anfühlt, und ich warte, dass sie wächst und noch mehr Seele bekommt, nicht zum Aushalten viel Seele.

Ich bestaune diesen Elsa-Text, und ich schäme mich abgrundtief über meine siebzehnjährige Herablassung. Ich bin betroffen und getröstet. Und ich verstehe Pom. Pom steht vor mir, klein und rund, er grinst und drückt mich an seinen weichen Bauch. Meine kleine Zuckererbse, flüstert er. Meine kleine chinesische Zitteraster ...

Und ich schlucke und schlucke, ich möchte meine Arme um ihn legen und ihn nie wieder loslassen. Die Tränen bleiben, wo sie hingehören, nur mein Herz krampft sich heftig zusammen, und darin toben die schwarzen Vögel.

Danke, Elsa, dass du meinem Vater mit deinem Seelentext etwas geschenkt hast, was ihn wohl sehr berührt hat. Er fand deine Gedanken über Gott und die Seele und Heiligkeit nicht wirr, er fand sie nur schön, das kannst du mir glauben. Und danke, dass ich ihn durch deinen Text eine Weile spüren konnte. Und vielleicht immer wieder, wenn ich ihn lese.

Elsas Text gibt mir eine deutliche Entscheidung. Es ist, als wäre ein Ruck durch meinen Kopf gegangen, als hätte Pom mich mit seinem weichen Bauch vor sich her geschubst, dabei gegrinst und Kind meiner Lenden, fang endlich an! gerufen.

Ja, ich werde wieder anfangen. Ich werde wieder mit Freude und Neugier und Tatkraft meine Wörter suchen. Und mich dabei ins Leben zurückfinden. Es muss ja noch da sein, das Leben. Mein Leben. Ich bin ja auch noch da. Irgendwie.

Und immer, wenn ich Poms Tod mal wieder beheule wie ein Wolf unterm Vollmond und in dieser abgründigen, dunklen Unterwasserwelt in mir drin verschwinden möchte, wird mir Elsas Text Trost geben. Elsa und ihre Seele. Elsa, die weiß, dass Seelen unsterblich sind. Und ich weiß es jetzt auch: Poms Seele ist unsterblich. Ich kann es nun glauben. Und dass er immer bei mir ist. Wenn ich es zulasse. Und noch nie, niemals zuvor habe ich mir überhaupt Gedanken über Seele gemacht. Wann macht man das schon? Noch nicht mal im Religionsunterricht traute sich Herr Neumann, davon zu reden. Und diese Elsa, vielleicht elf Jahre alt, würde ich jetzt gern in den Arm nehmen. Wenn ich nur wüsste, wo sie ist.

Also gut, Elsa. Also gut, Pom! Ich werde nun beginnen, wieder zu leben. Und vielleicht dabei mein neues Leben verstehen, bewältigen, heilen. Aber eigentlich sind das doch bloß so bescheuerte, therapeutengeschwätzige Worte. Ich muss es einfach tun. Punkt!, würde Pom jetzt sagen. Gib Gas, meine Zitterelfe!

Und Pom, hör auf, mich zu schubsen. Ich werde es versuchen. Hochundheiliges Zuckererbsen-Ehrenwort.

Da grinst Pom sein berühmtes Pom-Lächeln, dass die Sonne vor Neid blass wird. So eins, wie nur Pom es kann. Und mein Herz ahnt einen Regenbogen.

Ich habe sie wiedergefunden, die Notizen von meinen Fieberbildern, Gott sei Dank habe ich alles aufgeschrieben, denn in ihnen waren kleine, längst verloren geglaubte Erinnerungsteilchen eingefangen wie Fliegen in einem Tropfen Bernstein,

Das Fieber war heftig gewesen. Mein Kopf wurde ein dicker, wattiger Ballon, der immer wieder unter Wasser gedrückt wurde, um dann, losgelassen, voller Wucht nach oben zu schnellen. Schmerzhaft heftig schnappte ich nach Luft und kämpfte wieder mit den tausend gallertartigen Armen, die mich mit weichem, unnachgiebigem Druck von irgendetwas Lebenswichtigem abhielten. Und ich kämpfte und gab auf und trudelte und kämpfte. Und in den kleinen Pausen, in denen ich durchatmen konnte, flogen die Farben des Zimmers auf mich zu. Das Blau in dem Vorhang breitete sich aus wie vergossene Tinte und fächerte sich über mein Gesicht, ich spürte seine Schlieren, sie machten ein Muster über meinen Augen, ich bekam neue Adern auf der Haut. Und das Rot der Geranie auf dem Fensterbrett wurde röter und röter und zerplatzte wie eine reife Frucht und tropfte über die Wände, lief die Tapeten herunter und bildete seltsam schöne, bedrohliche Ornamente. Nur das Gelb des Sonnenlichts hatte warme Finger, die tasteten über meine Bettdecke, sie fanden mein Gesicht, und ich reckte mich ihnen entgegen. Manchmal roch ich Sommer, manchmal den dumpfen Geruch vermoderter Kellergewölbe.

Bilder tauchten auf, Tante Greta und ich in einem dichten, grünen Garten, wir beugen uns über ihre Kaffeetasse, und die Sahneschlieren auf dem Kaffee zeigen uns geheimnisvolle Geschichten und Bilder, die wir enträtseln und entdecken, und dann verrühren wir sie wieder.

Ich sitze auf einem harten, viel zu hohen Toilettendeckel und vergesse Pom und Lena in der Eisdiele. Meine Kinderbeine baumeln über den Flecken des rissigen Kachelbodens, und unter meinen staubigen Sandalen mit den herabgerutschten Söckchen finde ich in dem nachgemachten, falschen Marmormuster bizarre Gesichter, und ich falle in ihre unglaublichen Geschichten, bis Lena an die Tür klopft und besorgt nach mir fragt.

Pom und ich liegen in einer Wiese, die duftet und kitzelt, ich spüre sein Motorrad dick und warm und mächtig hinter uns, wir schauen in die Wolken und finden Tiere für unser Paradies.

Ich sitze in meinem grünen Sitzsack aus Skaileder, eine billige, topaktuelle Lederimitation, den ich von Pom bekommen habe, nachdem ich ihn nach Strich und Faden bezirzen musste, denn ich wollte ihn unbedingt. Pom fand ihn total gewöhnungsbedürftig, lieb ausgedrückt, wie er sagte. Lena nannte ihn schlichtweg «die gesammelte Scheußlichkeit». Ich sitze dort in diesem Wunderwerk der Bequemlichkeit, denn er wird restlos mein eigen, seine Form verschmilzt mit meinem mageren, zehnjährigen Körper, er klebt wie Leim an meinen nackten Beinen und gibt dieses schmerzende, saugende Geräusch einer Nacktschnecke von sich, wenn ich mich von ihm löse. Lena bekommt dann vor Ekel eine Gänsehaut, aber ich finde es nur ein bisschen eklig, mein Sitzsack darf das.

Draußen ist es dunkel, ich lese wie immer noch ein wenig in meinem schönen Kinderbett, das Lena mir bemalt hat, und die Wohnungen in dem Haus gegenüber sind beleuchtet. In der oberen der drei Etagen hat das mittlere Fenster ein warmes Licht, fast aprikosenfarbig, das ich zaubervoll finde, weil es ein so ungewöhnliches Gefühl des Wohlseins erzeugt. Ich nenne es das Prinzessinnenlicht. Die Etage darunter hat Licht in dem Fenster links, es ist weiß und schrill. Es macht, dass ich eine Gänsehaut bekomme, «Hühnerpelle», wie Pom immer sagt, und einen kalten Stich ins Herz. Ich nenne es das Frostlicht, und wenn es besonders schlimm ins Herz sticht, nenne ich es dramatisch das Erfrierungslicht. In der untersten Etage, Parterre, kann man ins Wohnzimmer schauen, und da gibt es eine Stehlampe mit einem gelben Rüschenrock, und das Licht streichelt immerzu sanft meine Augen und legt seine Rüschen um mein Herz. Das ist das Beste, das Besonderste, und das nenne ich das Königinnenlicht. Und immer, wenn abends irgendwo Lichter angehen, ertappe ich mich, dass ich einen Namen dafür suche, und ich fühle die starke Wirkung, die Licht auf meinen Körper und meine Gefühle hat. Da war ich wohl schon Mirjam, die Lichtsammlerin.

Ich falle in diesem Fieber in alte Bilder wie in die Seiten eines großen Buches, in dem man vor- und zurückblättert. Die Bilder sind schon vergilbt, manche gemalt, manche fotografiert. Und es ist ein Hin-und-her-Blättern durch die verschiedenen Zeiten meines Lebens. Und da ist auch Masseltow mit seinem krummen, borstigen Schwanz, der mein Tamburin schlägt, und ich drehe mich dazu, rum und rum und rum. Bongbongbong. Bongbongbong. Es wird immer lauter in meinen Ohren, und mein Kopf ist nun das Tamburin, und ich will rufen: Aufhören! Aufhören!

Das Bongbongbong dröhnt und tut weh. Da taucht Phil mit seinen sanftesten Saxofontönen in meinem Fieber auf, davon bekommt es kleine, kräuselige Wellen, die in meinem Körper leicht hin und her schwappen.

Ich höre Öttes Mundharmonika, und die böse Königin mit ihrer bösen Königinnenstimme kreischt und ich schreie.

Da beugt sich Tante Greta über mich und wischt mir mit einem kühlen Tuch die Bilder hinter meinen Lidern aus dem Gesicht. Und ich sehe in ihre warmen Eulenaugen und falle in das Schwarz hinter meinen Augen und falle und falle in etwas Samtiges und Tiefes, ich streife Ladys Fell, ich bekomme selber ein weiches Fell, es wächst um mich herum und aus mir heraus, so weich, dass ich es nie mehr hergeben möchte. Und ich rolle mich darin zusammen und höre mich schnurren, weil Pom mich immerzu streichelt.

Als ich aufwache, ist es vorbei. Drei Tage hat es gedauert. Der Gardasee wird auf den Frühling verschoben. Und Sarah kommt zurück, aber ich weiß nicht genau wann.

Und morgen ist Samstag und es gibt Besuch.