Klar war, dass ich damit aufhören musste, mich ins Fieber zu flüchten. Das sah sogar ich ein nach den zwei Tagen, die es dauerte.
Tante Greta hatte an meinem Bett gesessen, meine Hand gehalten, mir vorgelesen, keinen blassen Schimmer mehr, was, aber ich hörte ihre sanfte Stimme, die trug mich über alle Schluchten und Wüsten und Eisschollen. Sie war wieder meine wunderbare Beschützerin, die weise alte Großmutter, die ich nie hatte, die Beraterin, die Freundin.
Und die sich nicht linken ließ. Ich wusste glasklar, dass sie nicht locker lassen würde. Sie würde mich rütteln und schütteln und meine Augen in die Richtung zwingen, von der sie glaubte, dass es die einzig richtige war. Hin zu Lena. Ja, das dachte sie, aber ich dachte: Niemals! Und ich war mächtig stolz auf meine Hartnäckigkeit.
Lena verkaufte unser Haus. Lady, alle meine Sachen und ein paar Sachen von Pom kamen zu Tante Greta. Ja, Poms Schlafanzug auch, den besonderen, den GanzundgarPom-Schlafanzug. Wer hatte den zu meinen Sachen gelegt? Da fand ich ihn zwischen meiner Wäsche und heulte sofort los. Pom und sein Pyjama, in dem er immer aussah wie ein kleiner, völlig verdatterter Sträfling, der keinen blassen Schimmer hatte, warum er wegen ein paar dämlicher Haschpfeifchen, die er irgendwo hatte mitgehen lassen, blöderweise, wahrscheinlich aus Versehen, eingelocht worden war. Die Kugel an seinem Bein, die hatte er uns immer wieder vorgeführt. Pantomimisch. Zum Kugeln, seine Nummer mit der Kugel.
«Diese Kugel an meinem Bein seid ihr, meine beiden Himmelsgeschöpfe», hatte er gegrinst. Und Lena hatte betreten geguckt, und ich hatte gekichert über meinen herrlichen Plemplem-Vater.
«Sonst wär ich nämlich schon weg!», hatte er getrötet, «weg in irgendeinen Blödsinn an irgendeinem blödsinnigen Ort mit irgendwelchen Blödmännern.»
«Und Blödfrauen ...», hatte Lena gemurmelt.
Da hatte Pom sie sich geschnappt und abgeschleckt, und sie wand sich so schön gespielt unwillig, bis sie endlich nachgab und sich küssen ließ.
«Halt still, du dummes Weib», hatte er sie angefunkelt. «Sei still und rede nich’ blöden Stuss!»
Und dieser Pyjama war jetzt meiner. Ich würde ihn nie tragen, niemals, er würde Poms Geruch verlieren. Ich würde ihn einfach immer mal wieder an meine Nase halten, auch wenn ich ihn dann nass heulen würde.
Lady war verstört. Sie kannte zwar Tante Gretas Wohnung, aber sie wollte dort nicht hin. Sie wollte zurück in ihr Zuhause. Zurück in ihren Garten, zu ihrem Platz in Poms Bett, zu den vertrauten Gerüchen und Geräuschen. Katzen sind so. Sie fremdelte und fremdelte, sie verkroch sich an uns unbekannten Orten und tauchte hin und wieder zum Fressen oder vor ihrem Katzenklo auf. Sie wollte nicht raus, sie wollte nicht in mein Bett, sie wollte auch keine Streicheleien. Und nur wenn ich mit meiner allerliebsten, zartesten Stimme mit ihr redete, entspannte sie sich manchmal und begann ein zaghaftes Schnurren. Da hatte ich einen grandiosen Einfall. Ich legte Poms Pyjama in meinen Korbsessel und wartete. Und tatsächlich. Das war nun ihr Ein und Alles, ihr Rückzugsort, ihre feste Burg. Und ich hatte sie wieder in meinem Zimmer.
Alle Freunde von Pom und Lena hatten geholfen, das Haus zu räumen, so wie sie vor einem Jahr und einer äquatorlangen Ewigkeit geholfen hatten, es herzurichten. Ich nicht. Das hätte ich nicht geschafft. Das hatte man sogar verstanden. Ötte, David, Sam und Phil brachten mir meine Sachen und trugen Poms geliebten Schreibtisch in mein Zimmer. Sie hatten ein paar Bücher, Schallplatten und Kassetten von Pom zusammengesucht. Von dem Pyjama wussten sie nichts.
Ötte blieb noch eine Weile, als alle weg waren, das hatte er noch nie gemacht. Masseltow saß wegen Lady im Auto. Ab und zu hörten wir sein Ich-bin-eine-Bestie-Gebrüll. Ötte sah erbärmlich aus. Mit ihm stimmte was nicht. Schon lange. Stumm wie eine tote Maus. Na ja, das kenn ich doch. David ist genauso. Und jetzt hätten sich meine Kumpels gebogen vor Lachen, weil ich auch so bin. Der Club der stummen Dichter, nein Denker, nein, Verstörten. Ja, das waren wir alle, irgendwie verstört. Danke, Matte, irgendwie ist manchmal irgendwie verdammt stimmig. Oder besser gesagt: gestört? Wahrscheinlich beides.
Ötte litt und wollte nicht darüber reden. Wahrscheinlich litt er wegen Lena und mit Lena.
Ich ließ ihn in Ruhe. Er ließ mich in Ruhe. Und so dümpelten wir vor uns hin. Kleine, seltsame Veränderungen stellte ich jedoch fest. Ich zuckte nun bei Lenas Namen weitaus heftiger zusammen als zuvor bei Poms Namen. Das gab sogar mir Dumpfsocke zu denken.
Ich träumte schräge Sachen, und dabei saß der Koloss von Rhodos auf meiner Brust, tonnenschwer. Einmal hing Lena wie der Gehängte auf Mattes Tarotkarten mit dem Kopf nach unten an einem Baum, ein riesiger, aber völlig kahler Baum. Lena war bunt und leuchtend gekleidet, doch ihr Gesicht war tot. Darüber die neuen, kurzen Haare. Sie schaukelte und wimmerte und schaukelte und wimmerte. Und etwas höher, an einem Ast quer darüber, hing Lady, stockundsteif. Unten stand Masseltow und bellte und bellte hinauf. Plötzlich kam ein heftiger Wind auf, und der Baum schwankte gefährlich, Lena schaukelte heftiger, Lady auch, und das Geheul des Windes vermengte sich mit Masseltows Gebell und Lenas Gewimmer zu einem schmerzhaften Ton, der einem die Knochen zersägte und bis hinauf zu dem milchigen Mond wuchs, der aussah wie ein verschleimtes Fischauge. Und der vor lauter Entsetzen vom Himmel rollte, direkt vor Poms Füße, der plötzlich unter dem Baum stand. Der band den Mond an eine langen Kette um seinen Knöchel und humpelte mit ihm davon und wurde kleiner und kleiner.
Ich fuhr in meinem Bett hoch und schmeckte noch den Schrei in meinem Mund. Lady lag im Sessel und blickte auf, als ich meine Nachttischlampe anmachte.
«Komm zu mir», bettelte ich, «bitte, bitte, komm zu mir!»
Aber sie gähnte bloß, zeigte alle ihre kleinen, prachtvollen Zähne und rollte sich zusammen
Oh, ich hasste Albträume, ich hasste sie! Sie schmierten einem Schleim in die Augen und versuppten das Gehirn, sie legten kilometerweise Stacheldraht ums Herz, und im Bauch hockten sie wie ein Klumpen Nacktschnecken, die sich übereinander hermachen.
Vielleicht sollte ich diesen Traum Dr. Meerbusch erzählen, überlegete ich, da könnten wir dann zusammen genüsslich dran herumknabbern wie an Masseltows geliebten Fleischknochen. War ja reichlich viel Fleisch dran an diesem Traum, das sah sogar ich Blindfisch.
Ich nahm meinen Notizblock, der immer auf meinem Nachttisch liegt, und schrieb ihn auf. Und Lenas Totengesicht war so schrecklich und deutlich, dass ich kaltkälteramkältesten wurde. Aber ich schrieb es auf. Und: Ich bekam kein Fieber. Beim Schreiben hatte ich so Ahnungen zwischen den Buchstaben, die zogen lange Spinnenfäden und bauten unsichtbare Netze, und irgendwas klopfte immerzu, immerzu in meinem Kopf und wollte gedacht werden. Aber mein Kopf war brav und schmiss die Türen zu. Peng! Aus!
Als ich das Licht löschte, spürte ich Lady aufs Bett springen, und ich war so gerührt und dankbar, dass ich die zärtlichsten Finger bekam und ihr weiches Fell streichelte und streichelte und streichelte. Lady, Himmelseidank, drückte sich fest gegen meine Hand, und der hässliche Traum wurde zu einem grauen Wäschestück im Wind und wurde kleiner und ...
Ich bin bei David. Allein. Wir beide sind seit ewigen Zeiten nicht mehr zusammen allein gewesen. Irgendwann im letzten Leben. Sarah ist mit Sam zu einem Konzert nach Köln gefahren, David wollte noch an irgendwas arbeiten und klinkte sich aus, hat dann alles über den Haufen geworfen und mich angerufen. Gepriesen sei dieser Tag!
Ob ich kommen wolle, fragte ein müde klingender David.
Ob? Und ob, aber so was von ob!
Ich packte rasend schnell meinen Rucksack, griff in Tante Lenas Kleingelddose auf ihrem alten Ungetüm von Küchenschrank und raste los, die Abfahrtszeit aller Züge im Kopf.
Tante Greta war ausgeflogen mit einem früheren Arbeitskollegen von der Frankfurter Zeitung zu einem Plausch über alte Zeiten. Ganz vornehm, der alte Herr. Grau gewelltes Haar, tadelloser Anzug, leichter Duft eines teuren Toilettenwassers, gerade so, dass es angenehm war, und sehr galant. Und war es auch. Und ich war, ehrlich, kurz davor, ihm meine Hand zu einem Handkuss zu reichen. Tante Greta tänzelte mit wehendem Seidenschal vor ihm die Treppe nach unten, und sie entschwanden in einem sündenschwarzen Mercedes nach Düsseldorf.
Als sie weg waren, machte sich meine engste Vertraute, meine böse Stiefschwester Schwermut, gerade bereit, ihre spitzen Stiefelchen zu schnüren, um sich auf den Weg zu mir zu begeben, da klingelte das Telefon. Und die Schwermut überlegte es sich anders und kehrte um.
Ich ließ alles stehen und liegen, schrieb ein paar Zeilen für Tante Greta, und weg war ich. David holte mich mit Sams Mini ab.
In Davids großem, hellem Zimmer sieht es aus wie eh und je. Aufgeräumt, mit einem Berg Bücher neben dem Bett, und der Schreibtisch gerappelt voll mit Papieren und Notizen. In der Schreibmaschine eine angefangene Seite über den Zusammenhang von irgendwelchen ökologischen Problemen, er schreibt hin und wieder für eine kleine Öko-Zeitschrift.
Wir hocken wie immer auf dem Boden, dicke Kissen im Rücken, vor uns ein Tablett mit Teegläsern. David hat in London den Tee entdeckt und eine exquisite Sorte mitgebracht. Seine Musikanlage spielt leise Bluesmusik, und wir genießen es, zusammen zu sein und nichts zu sagen.
Nichts sagen müssen ist himmlisch, mit David kann ich es regelrecht zelebrieren. Ich spüre seinen warmen Atem und bin so froh über unsere «Geschwisterliebe», so froh, dass wir kein Liebespaar sind. Um mich herum gibt es jede Menge Liebespaare mit Liebespaarstress. Stress hoch zehn. Alle Girls in meiner Klasse hatten irgendwann das heulende Elend. Nur ich nicht. Ich bin das Out-Girl. Und verschont mich mit weiteren Herzproblemen! Ich habe genügend Superjungs, David und Phil, Ötte und Sam – und Masseltow! Und da gibt es noch Lukas mit dem traurigen Dackelblick, weil ich einfach nichts von ihm will. Außer meine Ruhe. Verliebt sein? O nein! Kein Bedarf! Bitte keine weiteren Probleme für mein Innenleben.
Ich denke kurz an Davids blasse, edle Mutter. Und an meine neue mit dem neuen Gesicht. Wie steht es mit deren Innenleben? Haben sie eins? Ich erschrecke. David und ich hätten allen Grund, über unsere Mütter zu reden. Seine, die nichts von ihm wissen will (?) und meine, von der ich nichts wissen will (!). Seltsam genug, diese eigenartige Kombination. Und Davids Vater ist tot. Und mein Vater ebenfalls. Und David und ich, wir beide sind Weltmeister darin, mindestens sieben doppelwandige Mauern um diese Themen zu bauen. Ja, ja, Dr. Meerbusch, wenn Sie nicht dabei sind, gebe ich es zu. Sieh mal an, würde sie jetzt bestimmt zynisch sagen.
David fragt, ob ich mal wieder am Kanal war und ob ich Friend dort getroffen hätte? War ich. Mehrmals, aber Friend war nicht da. Ich war ja monatelang nicht am Kanal gewesen, keine Ahnung, wo er sich nun rumtreibt. Wir beschließen, ihn nächste Woche zu suchen, mit Leberwurststullen und Frikadellen im Gepäck. Plötzlich sehne ich mich schrecklich nach Friends warmer, grauer Hundeschnauze in meinem Schoß, seinen Augen, die tieftief sind, die zuhören und nicht urteilen, die mir sagen, unverfälscht und ohne irgendwelche Erwartungen: Du bist okay. Und da beschließe ich, schon morgen mit dem Rad zum Kanal zu fahren und ihn zu suchen. Hartnäckig und mit Nachfragen bei den Leuten in der Gegend.
Und plötzlich, ich habe keine Ahnung wieso, vielleicht weil wir gerade diesen besonderen Bluessong Knocking myself out (!) von Big Bill Broonzy hören und Davids Arm warm und sicher um meine Schulter liegt, flüstere ich: «Lena ist zu ihrer Freundin Britta gezogen. Sie wohnt jetzt mit zwei Frauen zusammen. Mit der einen teilt sie sich eine kleine Werkstatt. Sie wohnt jetzt in Dortmund ...»
David schweigt. Dann sagt er: «Gute Idee.» Er wagt sogar, Lenas Namen auszusprechen: «Für Lena wird es schwer genug sein, nach allem. Kommt sie denn finanziell klar?»
Hä? Bitte? Finanziell? Ach, du heiliges Jesulein, keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Ja, liebe Mirjam Engels, wovon lebt deine Mutter? Schon mal drüber nachgedacht?
«Keine Ahnung», flüstere ich.
Ihre Kunst, ihre witzigen bunten Objekte, ihr selbst gefertigter Schmuck, all die genähten Crazy-Taschen und ihre speziellen Lampen, das ganze verrückt-schöne Lena-Programm hat immer unseren Haushalt aufgebessert, aber eigentlich war Pom der Hauptverdiener. Hab ich jedenfalls immer geglaubt. Manchmal war es knapp (meistens), und manchmal «hauten wir auf die Pauke» (O-Ton Pom), wenn einige Spieltermine mehr ins Haus flatterten oder Lena auf den Kunsthandwerkermärkten «fette Beute gemacht hatte». Nie habe ich mir ernsthaft Gedanken über unsere Finanzen gemacht, selbst nicht bei dem überraschenden Hauskauf, als Pom und Lena monatelang Tag und Nacht über Zahlen brüteten. Mirjam, die einfach froh und sorglos im Nest hockte und den Schnabel aufriss, wenn sie was wollte. Und es bekam. So weit zu mir, Mirjam, der Gedankenlosen, der Verwöhnten.
Ja, wie kommt Lena zurecht? Ich werde von Tante Greta versorgt, und manchmal gebe ich ein paar Nachhilfestunden in Deutsch oder mache Babysitting bei den beiden schwedischen Familien in unserer Nachbarschaft. Ansonsten gibt es ja auch noch die immer volle Kleingelddose auf Tante Gretas Küchenschrank.
«Und du?», frage ich, heftig erschrocken, dass ich einfach alles aus meiner Welt verbannt habe, das sich nicht um meine Verzweiflung, um meine Verwundung dreht. Liebe Frau Dr. Meerbusch, ich beginne gerade darüber zu erschrecken, ist das ein Fortschritt?
«David, wie kommst du klar?»
David druckst herum. «Mein Vater hat eine Menge Geld hinterlassen. Das reicht für mein Studium und für meine Grundversorgung. In London habe ich mit Sam in einem Szene-Pub gekellnert. War ein very special experiment, very special.» Er grinst schief.
Und mitten hinein in dieses Lächeln frage ich: «Und deine Mutter? Wie sieht es bei ihr aus? Was läuft da? Wie geht es weiter mit ihr?»
«Sie ist versorgt», knurrt David. Er weiß genau, dass ich das nicht meine. «Sie ist in Edinburgh bei Verwandten. Dort fühlt sie sich wohl. Mehr weiß ich nicht ...»
Na klar, du stummtaube Obersocke, wie auch? Du fragst ja nicht. Hat sie sich erholt, vermisst sie ihren Sohn, wie verarbeitet sie den Selbstmord ihres Mannes, weiß sie, dass er homosexuell war? Oder hat sie keine Ahnung, so wie David es immer noch nicht weiß.
Sarah, Tante Greta und ich werden damit wohl so langsam mal rausrücken, es wird Zeit. Aber wie? Und wann genau? Schon wieder ein Problem, das ich lieber nicht hätte. Das ich wieder mal ausblende. So wie ich es mit Lenas Problemen tue. Und ich erschrecke, als ich erkenne, dass ich fraglos die Einzige bin, die keine Fragen zu Lenas Situation stellt, da bin ich bis in die Fingerspitzen abwesend. Nein, abwehrend.
Schnell lenke ich ab und frage, ob David und Sams Bekannte und Freunde in England wissen, dass die beiden ein Paar sind.
«Klar», nickt David. «Alle. Sogar Sams Eltern wissen es jetzt, nach dem ersten Schock haben sie es erstaunlich gut weggesteckt, aber die neighbourhood und alle an der Uni dürfen nichts wissen!»
David erzählt mir von der großen Schwulenszene in London, die er befremdlich findet, die aber auch eine Art Befreiung ist. Er und Sam arbeiten in diesem Schwulenlokal Specials, aber es ist alles andere als Freude und Hosianna. Seit das Thema Aids die Öffentlichkeit heftigst aufputscht, wird es an vielen Orten wieder riskant, seine Homosexualität zu bekennen. Die Lage spitzt sich zurzeit an vielen Orten brisant zu. Und die Kirche kann wieder, wie gewohnt, fingerzeigend gegen diese Sünde und gegen diese Sünder wettern. Und alle versteckten Ängste und Vorurteile kriechen wieder aus ihren dunklen Löchern. Die Zeit für ein comig-out ist schwierig geworden. Wir seufzen beide gleichzeitig und müssen dann trotz allem grinsen.
Davids Verwandte hier in Deutschland wissen immer noch nichts.
«Soso, aha, wer’s glaubt, wird selig», sage ich. Ich habe doch gemerkt, wie Sarahs Mutter Sam und David beobachtet und sie das «besondere Paar» genannt hat, aber ohne Zynismus oder Ablehnung. Sie hat ein Herz so groß wie ein südamerikanischer Sombrero und wartet wahrscheinlich nur darauf, dass ihr Lieblingsneffe die Klappe aufmacht. Ich rede David gut zu, ich rede wie auf einen störrischen Esel ein, aber er will vor dem kleinen Monster nichts riskieren, das kann sein kleines Monstermäulchen sowieso nicht halten, behauptet er. Und dann: «Wenn Aaron das wüsste, also Aaron, das wäre, hmhm, das wäre eine Katastrophe ...» David bricht ab.
«Aaron?», hauche ich. Aaron, dieses miese kleine Frettchen, das ach so plötzlich nach Bologna aufbrach, nachdem es seinen aaronherzschwarzen VW-Käfer in einer Nacht-und-Nebel-Aktion dunkelrot hat lackieren lassen und den jetzt die ahnungslose Sarah fährt? Dieser Aaron, bei dem die Zimmertemperaturen immer rapide in den Keller stürzen, sobald er einen Raum betritt?
In meinem Mund sammelt sich Spucke, damit hätte ich Eimer füllen können. Ich rücke näher an David. Jetzt oder nie werde ich es ihm erzählen, jetzt werde ich es mit ihm teilen.
«David», flüstere ich mit meiner kleinsten Mirjam-Stimme, «kannst du wieder deinen Arm um mich legen, bitte?»
Und wir rücken ganz nah zusammen, ich lege meinen Kopf an seine Schulter, atme tief durch, und beginne. Ich sehe alles wieder vor mir, jede Einzelheit, ich höre sogar Aarons höhnisches Gelächter, als er mich aus seinem Wagen stößt, aber es ist wie ein alter Film. Ich sehe mir alles genau an, aber ich weiß, das ist nur ein Film, den ich schon kenne, der mich nicht mehr überrascht oder verwirrt oder umhaut. Ich weiß, es ist alles schon lange vorbei. Selbst mein Triumph von damals, als wir Amazonen mit Tante Greta mittendrin es ihm heimzahlten, ist kein Triumph mehr, es ist eine Erinnerung. Mehr nicht.
Aber David ist weiß wie Schulkreide, er sitzt steif neben mir, er atmet wie nach einem Tausend-Meter-Lauf, er knirscht mit den Zähnen und zieht die Luft heftig ein. Und sie zischt wieder aus ihm heraus, als ich ihm die Einzelheiten unseres Rachefeldzuges erzähle. Er ist so erschöpft, als hätte er einen Kampf mit einem starken Gegner hinter sich. Hat er vielleicht auch.
«Wer weiß davon?», fragt er schweratmig.
«Nur die Frauen, die dabei waren. Auch Sarah weiß nichts darüber, er ist doch ihr Bruder. Was sollte ich da tun?»
Wir schweigen. Lange. Ich drücke David. Bei mir ist es vorbei. Bei ihm geht gerade so richtig was los. David drückt zurück. Sein Atem geht ruhiger.
«Darf ich es Sam erzählen?», fragt er.
Ich nicke. Sam? Warum nicht. Sarah? Ne, das mach ich lieber selber. Keine Ahnung, wann.
Und plötzlich zuckt ein Gedanke durch meinen Kopf, und ohne zu überprüfen, ob das jetzt der passende Zeitpunkt ist, und ohne Absprache mit Tante Greta erzähle ich David von den Briefen seines Vaters. David rutscht in sich zusammen. Ich halte sein Hand, sie ist sehr kalt. Irgendwann kommt Farbe in sein blasses Gesicht, er macht einen tiefen Atemzug, er schüttelt etwas von seinen Schultern, steht auf und tigert durchs Zimmer. Auf und ab und auf. Und ab.
«Ich möchte sie lesen», sagt er.
Ich nicke. Ich weiß nicht, ob das gut war oder eher nicht, dass David nun Bescheid weiß über seinen Vater, aber da kommt David zu mir, hockt sich vor mich hin und schaut mir in die Augen.
«Mirjam», sagt er, «ich danke dir. Es ändert alles! Gut, dass du es mir erzählt hast. Ich glaube, ich verstehe jetzt besser ...»
Hier bricht seine Stimme ab, und bevor ich ihn fragen kann, was er damit meint, klingelt das Telefon, und Sarahs Mutter fragt passenderweise, ob David und Sarah morgen, am Sonntag, zum Essen kommen wollen.
David sagt sofort ja. Und er fragt, ob er Sam mitbringen kann. Er zwinkert mir zu und grinst. Und ich höre nicht, was seine Tante antwortet, aber Sam scheint okay zu sein.
Und es sieht verdammt noch mal danach aus, als ob unser tonnenschwerer Schlamassel ein paar Gramm leichter geworden wäre – und tatsächlich, ich kann es irgendwie spüren. Gut so! So kann es weitergehen, Dr. Meerbusch.
Und dann verbringen wir den Rest des Abends damit, Spiegeleier zu braten, zwei dicke Päckchen Blubbspinat in den Topf zu kippen, ich sage, Fischstäbchen wären auch nicht schlecht, David schüttelt sich, wir kochen neuen Tee, wir plündern Sarahs Kerzenvorrat, wechseln ins Wohnzimmer, weil wir dort, auf dem riesengroßen Teppich, alle meine Fotos ausbreiten können, die ich mitgebracht habe. Der Kalender der Klinik muss in den Druck, ich habe noch drei Tage für die Auswahl. Und ungefähr dreißig Fotos für die Ausstellung müssen zusammengestellt werden. Plötzlich wird alles so leicht, als hätte der Tag einen neuen Namen bekommen.
«Welche Größe werden sie haben?», fragt David.
Ich glaube, dass die meisten größer als Din-A 4 sein werden, einige noch größer.
David strahlt. «Das ist supersupersuper!» Das ist Öttes Masseltow-Spruch, und wir müssen beide grinsen.
David ist der beste kritische Betrachter aller Zeiten. Sein Auge ist unbestechlich, er kann völlig emotionslos an die Auswahl gehen. Ich nicht. So viele Erinnerungen an meine Zeit in der Klinik drücken mir die Kehle zu. Jedes einzelne Foto erzählt etwas davon. Ich höre sogar wieder Markus seinen Lieblingsspruch flüstern: Wo wir uns finden unter Blinden ... Und Sugar kichert, was das Zeug hält.
Davids Auswahl kann ich ohne zu zögern annehmen, und die Bilder wandern in meine Mappe, die anderen kommen in einen Umschlag.
Ich verspreche David, dass er Abzüge bekommt. Weihnachten steht vor der Tür, noch ganze sechs Wochen. Und damit der komplette verrückte Geschenkestress! Aber mit den Fotos bin ich aus dem Schneider.
David beschließt, mich nach Hause zu fahren, Sam und Sarah sind noch nicht zurück. Ich könnte bei ihnen übernachten, no problem, aber ich spüre deutlich, dass David morgen mit Sam und seiner Cousine allein sein will. Das ist okay. Diese Familienangelegenheit muss er allein durchstehen. Er wird es schaffen.
Als wir bei Tante Greta ankommen, ist dort alles dunkel, aber die Gute ist noch nicht im Bett, wie es sich für eine zweiundachtzig Jahre alte Dame um Mitternacht eigentlich gehört. Nein, sie tummelt sich mit dem alten Galan irgendwo in der dunklen Nacht herum. Mit Mr. Good old fellow. Und macht Dummheiten? Ich grinse. Bei Tante Greta ist alles möglich.
Muss ich mir Sorgen machen? Ne, mach ich nicht.