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Die Weihnachtszeit war eingeläutet, klingglöckchenkling. Überall Jingle-bells-Gedudel, Lichterketten und das übliche Tamtam.

Morgen würde die Ausstellung sein, es stand groß in allen Zeitungen. Und der dazugehörige Basar war berühmt. Mein angemurrtes «Spitzen-Foto» war übergroß abgebildet, leider ohne Phils Namen, die von der Zeitung waren alle Volltrottel, das war gewiss. Auch das Lokalradio hatte was darüber gesendet. Sie hatten Leute von der Straße interviewt, ob sie wüssten, was das sei, diese Landesklinik Cecilia. Seltsame Antworten kamen zusammen. Viele scheuten sich nicht, das Wort «Klapse» zu benutzen, und kicherten dabei. Einer sagte sogar, das ist doch diese Plemplem-Klinik für Frauen (soso, aha ...). Und zwei, drei wussten Genaueres, sie drückten sich gewählt und vorsichtig aus. Begriffe wie «Lebenskrise» und «Verletzungen der Seele» fielen, sogar den Namen «Cecilia» konnte eine Frau richtig zuordnen: «Cecilia, die heilige Patronin für die Musik. Die soll ja auch heilen», sagte sie. Stimmt! Und zwei Sätze fielen über meine Fotos, der Sprecher mit der jungen, unbekümmerten Stimme hatte sie «nebulös» genannt, aber es klang seltsamerweise nicht abwertend. Und als er zum Schluss dieses Sendebeitrags Lucy in the sky with diamonds spielte, war ich versöhnt.

Morgen, um sechzehn Uhr, sollte es losgehen, mit einer Rede, mit Kaffee und viel Kuchen, mit Sekt und Pomp und Plunder, mit all dem selbst gemachten Kram im Basar, sozusagen ein Haufen Weihnachtsgeschenke ohne Ende. Alle würden da sein, Dr. Meerbusch, die beiden Wassergeschöpftherapeuten, Oberhase Dr. Reinhard mit seinen gelangweilten Augen, der Chef höchstpersönlich und alle anderen, meine Jungs, Sarah und Tante Greta, Phils Mom mit dem kleinen Monster, meine Lehrerin Frau Schütte und ein paar von meiner Schule, dafür hatte Lukas gesorgt. Und unsere Bäckersfrau von nebenan wollte mit der kompletten Familie kommen. Ladenschluss war ja um fünfzehn Uhr.

Ich bekam Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Herzschmerzen, ich wollte mein rettendes Fieber, wollte in Octopus’ Garden under the sea abtauchen und dort zwischen schaukelnden Seeanemonen und kleinen, flitzenden Fischen verschwinden. Aber nix da! Das hatten natürlich alle geahnt, vorneweg Tante Greta. Sie hatte Phil und Sarah mobilisiert, die waren am Samstagmorgen plötzlich zum Frühstück erschienen, und ich war so erleichtert, meine «Schwester» zu sehen, dass ich heulen musste, als sie mich einfach in die Arme nahm. Einfach so. Aber dann war auch Schluss mit der Heulerei. Ich begann, mein Heulen zu verabscheuen.

Die Frage, was ich zur Ausstellungseröffnung anziehen sollte, war, gegen jede Annahme, tatsächlich in einer Viertelstunde gelöst. Phil kombinierte einen Rock von mir, einen der selbst genähten Crazy-Mirjam-Röcke, mit einer sehr chinesischen Bluse, die hatte mir Tante Greta mal von einer Reise mitgebracht. Mit dieser Auswahl konnte ich leben. Die war okay.

«Très, très chic», hauchte ein begeisterter Phil.

Sarah meinte, dass man, mal alle abgedroschenen Vorurteile zusammengenommen, doch wohl eher glauben könne, ihr Bruder Phil sei der Homo in der Familie und nicht ihr Cousin David.

Tante Greta hielt erschrocken die Luft an, ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, aber Phil quietschte vergnügt: «Life is a funny thing ...», eine Zeile aus einem unserer Blues. Und dann sagte er sehr ernsthaft: «Wenn ich eines mit Gewissheit weiß, dann ist es, dass ich Frauen liebe!» Und er schnappte sich Tante Greta, drehte mit ihr ein paar Runden und krähte: «Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n!», bis sie ihm auf die Finger schlug, aber sie musste lächeln.

Und eigentlich waren wir uns alle ganz sicher, dass es so war. Ohne Zweifel. Tante Greta fragte Phil, ob er sich einmal Gedanken über eine Ausbildung als Bühnen-, Masken- oder Kostümbildner gemacht hätte.

«Ja sicher», nickte Phil. «Ich gehe später zum Theater oder zum Film. Ich werde schreinern, nähen, frisieren, schminken und basteln lernen. Das werde ich an der Folkwang-Schule in Essen tun, und Mirjam studiert dann dort Fotografie. Ist doch klar!»

Sein breites Grinsen reichte bis über die Ränder des Ruhrpotts hinaus. Und mein Herz ruckte plötzlich einen kleinen Zickzackkurs und pochte: wun-der-bar-wun-der-bar-wun-der-bar.

Phil konnte es nicht lassen, einen seiner berühmten Phil-Witze zu erzählen, und er fragte Tante Greta allen Ernstes: «Was machen drei Schwule, wenn sie im Wald einer Frau begegnen?»

Tante Greta kann das Wort «schwul» nicht leiden, sie zog fragend die Augenbrauen hoch.

«Zwei halten sie fest», rief Phil, «und der Dritte macht ihr die Haare!» Er prustete los, Sarah und ich prusteten los, und Tante Gretas zeigte ein kleines, belustigtes Lächeln. Phil schlug sich vor die Brust und rief: «Mea culpa, David und Sam, mea culpa! Ich weiß, dass würdet ihr nie tun!»

Stimmt. Niemals. Das war so klar wie dieser frostige, eisblaue Himmel über diesem besonderen Samstag, und ich schnappte meine Kamera und lockte Phil und Sarah zu einem Spaziergang nach draußen. Um halb drei würden wir zurück sein.

Es war tatsächlich rappelvoll. Der Basar zog sich über die Flure der unteren Etage, die Zimmer der Patienten waren im zweiten und dritten Stock. Sie waren natürlich tabu. Aber alle anderen Räume konnten besichtigt werden. Die Therapieräume, der Sportraum, die Werkstatt, die Kreativräume und die Sprechzimmer der vielen Ärzte und Therapeutinnen, sie alle waren beeindruckend hergerichtet, zum Vorzeigen schön. Und in dem großen Veranstaltungsraum für besondere Anlässe und Feiern war nun die Ausstellung meiner Fotos. An einem Ende stand ein langer, schmaler Tisch, darauf stapelten sich an einer Ecke die Kalender, ansonsten war er voll mit Gläsern und Flaschen und Gebäck. Scheinwerfer gab es, einen Mikrofonständer und ein Rednerpult. Ein paar von der Presse standen schon in der ersten Reihe, mit ihren mächtig beeindruckenden Kameras um den Hals oder mit einem Notizblock und einem Stift in der Hand.

Der Chef, Dr. Rachel, zwei Meter fünf groß, stets in gebückter Haltung und mit gebückter Stimme, anders kann man sein Flüstern kaum nennen – herrje, wer braucht in diesem Haus eigentlich keine Therapie? –, hauchte ein paar fast unverständliche Worte ins Mikrofon, die er von einer klitzekleinen Karteikarte ablas, und keiner traute sich, «lauter» zu rufen. Dann kam der stadtbekannte Journalist, der sich als Kunstkenner ausgibt. Er kramte umständlich sein Notizheft heraus und las Endlos-Sätze ab. Keinen blassen Schimmer, was er da von sich gab. Zuletzt trat Frau Dr. Meerbusch mit Zettel und einer Menge Worten, denen ich nicht folgte, ans Mikrofon. Und dann wurde es still. Es wurde stillstilleramstillsten. Davon wurde ich wachgeküsst. Und schaute mich fragend um. Und Frau Dr. Meerbusch ließ mich geradewegs, hinterrücks und kaltschnäuzig, in ein Heer Säbelklingen und Krummdolche laufen. Alle Achtung! Dazu gehört was.

Ich stand still, meine Füße waren schwer wie eine Wagenladung Lehm, mein Kopf war ein trudelnder Heißluftballon. Da kam Phil von hinten angeschlichen, gab mir einen kleinen Schubs und flüsterte in mein Ohr: «Mirjam, die warten. Sag einfach, dass du nichts sagen willst. Du lässt deine Bilder sprechen ...»

Ich sah Dr. Meerbusch auf mich zukommen. Ich fühlte eine so heftige Wutwelle in mir hochsteigen, dass sie meine ganze hilflose Angst und Verzweiflung mit schäumender Brandung wegspülte. Frau Dr. Meerbusch hatte bei mir verschissen. Bis in alle Ewigkeit und für immer! Ich schob sie zur Seite, griff das Mikrofon und hörte eine klare, scharfe Stimme sagen: «Ich bin Mirjam Engels. Ich bin die Fotografin. Leider hat dieses überaus geschulte Personal dieser überaus namhaften Klinik vergessen, mir zu sagen, dass ich ein paar Worte sagen soll. Nun, ich sage Ihnen was: Passen Sie auf, dass Sie nie, niemals hier landen!»

Gelächter, Blitzlichter! Ich sah geradewegs in Phils strahlende Augen, sein Mund formte ein Bravo! Guter, lieber, treuer Phil!

«Und zu meinen Fotos», so fuhr ich fort, «was soll ich Ihnen dazu sagen? Sie müssen für sich selber sprechen, sie erzählen kleine Geschichten, sie verbergen Geheimnisse, die Sie selber finden müssen, und ich bin sicher, jeder von Ihnen findet ein anderes, sein eigenes. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihr geduldiges Warten auf meine Worte, bei denen ich mich auch bedanke, ich wusste nämlich bis jetzt gar nicht, dass ich ohne Spickzettel reden kann!»

Wieder Gelächter, jeder verstand die Anspielung auf meine Vorredner. David hob den Daumen, es wurde geklatscht, ich hörte das kleine Monster krähen: «Die kenn ich, die kenn ich, das ist die Mirjam!» Alles lachte.

Frau Dr. Meerbusch kam auf mich zu, ich ging wortlos an ihr vorbei zu Tante Greta, die weit ihre Arme öffnete und mich drückte. Ich roch ihren zarten Rosenduft, und als sie sagte: «Ich bin stolz!», nickte ich und sagte erlöst: «Ich auch!»

Ich fühle mich, als hätte ich an einem heißen Tag alle Knöpfe geöffnet. Und ein leichter Wind streichelt mich. Ich will Ötte und die anderen sehen, ich will zu ihnen, zu meinen Herzensfreunden, da schnappt mich Lukas und redet ohne Punkt und Komma auf mich ein. Er erklärt mir meine eigenen Bilder (!) und ich höre nicht zu. Als ich gerade denke, jetzt wird es Zeit, mich zu verkrümeln, kommen immer mehr Leute, schütteln mir die Hand, sagen etwas über ihr Lieblingsbild oder wollen doch tatsächlich, dass ich den Kalender signiere. Ich bin höflich und geduldig, ich tue alles, was sie wollen. Und als ich irgendwann aufblicke, schaue ich auf einen breiten Lederjackenrücken, so eine tiefbraune, abgewetzte Jacke hatte auch Pom. Mein Herz kriegt einen heftigen Zitterkrampf, und ich will abtauchen, da erkenne ich, dass diese Person größer ist als Pom, sie hat lange, gepflegte graue Haare, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Und diese Person steht vor meinem Lieblingsbild, das mit den schrägen Sonnenstrahlen am frühen Morgen, sie fallen durch das Herbstlaub der großen Eiche auf die alte, schön modrige, rissige Steinmauer der Terrasse mit den Moosflecken. Ein Vogel fliegt durch das Bild, er ist nur eine Ahnung, ein Schatten, ein Zauberwesen, der Hauch eines Wunders. Dieses Bild ist zum Niederknien schön. Es ist auch das Titelfoto des Kalenders geworden.

Und wenn diese Person die ist, von der ich denke, dass sie es ist, dann bitte, alle Heiligen und Seraphine, bitte tut euch zusammen und erschafft mir auf der Stelle dieses berühmte Mauseloch in der passenden Größe, das mich gnadenvoll aufnimmt.

Nein?

Nein!!

Diese Lederjackenperson dreht sich um und kommt auf mich zu. Und da ist er wieder, dieser samtbraune, tiefwarme Wikingerblick!

Wieso Wikinger? Keine Ahnung, verdammt noch mal! Ich habe keinen blassen Schimmer, heiliger Bimbam und verfuckte Scheiße! Oha, Mirjam Engels!

Dann steht er vor mir und sagt: «Ich bin Arnt Schreiber, Fotograf. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns kennen!»

Und als ich nichts sagen kann, verstummt für alle Adventssamstage und -sonntage bis ins Jahr 7000, greift er meine Hand und schüttelt sie.

Ich fahre zusammen. Meine Hand wird glühend heiß, und seine wächst um mein Herz. Mein Kopf ist hohl wie eine leere Waschtrommel. Ich sehe, wie ich heftig die Hand aus seiner ziehe, mein Herz stolpert, ich drehe mich um und lasse ihn stehen.

Als Sarah mich später auf der Toilette aufspürt, wird ihr sofort klar, dass ich von hier weg muss, nach Hause, aufderstellejetztundgleich. Und schon sind wir verschwunden.

Das Einzige, was sie im Auto zu mir sagt, ist: «Mirjam, pass auf dich auf! Das ist nicht Pom!»

Dazu kann ich nichts sagen. Was auch? Klar ist das nicht Pom! Bin ich blöd oder was?

Zu Hause lege ich mich zu Lady ins Bett, ich brauche meine Kissenberge, ich brauche meine Bluesmusik, ich brauche meine Ruhe.

Irgendwann kommt Tante Greta an mein Bett und fragt mich: «Mirjam, willst du reden?»

Und ich nicke ein Ja und ein Nein, ich weiß nichts mehr, außer dass mein Herz zu einer tollkühnen Angelegenheit geworden ist, irgendwie betrunken und mir völlig fremd. Tante Greta hält meine Hand. Jetzt hat sie Arnt gesehen, jetzt sagt sie nicht, so wie damals, diese berühmte Gedichtzeile von Erich Fried: «Es ist, was es ist, sagt die Liebe ...» Jetzt schaut sie sehr ernst in mein Gesicht und sagt das Gleiche wie Sarah: «Mirjam, pass auf! Es ist nicht Pom!»

Soll das etwa heißen, sie vermuten, ich hätte einen Ödipus-Komplex? Gibt es das überhaupt auch für Väter und Töchter? Und wie heißt das dann? Glauben sie das allen Ernstes?

Sarah, meine «Schwester», die Psychologie studiert, redet Murks. Tante Greta, meine weise Beraterin, redet Murks. Mein total übergeschnapptes Herz ist komplett vermurkst. Und überhaupt. Das Leben. Das Leben ist der totale, der absolute Obermurks. Und siebzehneinhalb ist das vermurksteste Alter, das es gibt.

Und mein vermurkster Kopf, was lästert der? Mein lieber Kokoschinski! Volle Lotte ein Eigentor!

Tante Greta sagte noch: «Geh ihm einfach aus dem Weg. Tu es dir zuliebe!»

Naja, das bin ich ja schon, oder? Und habe mich dabei zum Obertrottel gemacht. Voll in diese Plemplem-Klinik passend.

Und in der Nacht träume ich mich auf ein Motorrad, ein schweres, schwarzes, altmodisches Ding. Ich höre es brummen, ich sitze hinter einer tiefbraunen, abgewetzten Lederjacke. Aber meine Arme kann ich nicht drumrum legen. Meine Arme sind nicht da. Sie gibt es nicht. Ich habe keine Arme. Ich schreie und schreie. Ich würde fallen, ich würde fallen, gleich würde ich fallen. Aber wir fahren und fahren. Und ich falle nicht runter.