Ich war ein braves Kind. Ein tapferes Kind. Ein gehorsames Kind. Ich ging dem Problem aus dem Weg. Es gab ja auch gar keinen Weg zu ihm hin. Welchen? Darum war es leicht. Und leicht war es auch, weil ich immer und sowieso allen Problemen aus dem Weg gehe. Aber hier gab es einfach keine andere Lösung. Dann hatte Tante Greta mit Engelszungen stundenlang auf mich eingeredet, die Therapie bei Dr. Meerbusch um Himmelswillen nicht zu schmeißen. Sie stellte ihre Hinterhältigkeit als genialen Trick dar, mich aus der Reserve zu locken. Ich dachte ernsthaft darüber nach. War es das wirklich gewesen? Hatte sie gewusst, dass ich ohne diese Wut kein Wort über meine Lippen gebracht hätte? War sie sogar bereit dazu gewesen, meinen ganzen Hass auf sich zu ziehen? Sie war! Sie hatte einfach daran geglaubt, dass es funktionierte. Ge-ni-al!
Ich ziehe den Hut, Frau Dr. Meerbusch mit Namen Rocky. Sogar du lässt dir mal die Nase blau schlagen. Sie machte mir klar, dass ich meine Wut nutzen könne. Sie würde nämlich die Angst, die Trauer, die Verzweiflung aus mir herausschleudern, befreien, verwandeln. Meine Wut könnte ein Sprungbrett sein.
Nur, wohin sollte ich springen, bitte schön? Na, wohin wohl? Sie sagte es nicht, aber es war klar. Meine größte Wut galt Lena.
«Nun, dann lass sie raus», sagte Rocky. «Deine Mutter ist nicht dumm. Sie wird dir schon was dazu sagen!»
Tja, Rocky, da lagst du aber voll daneben. Da hörte deine therapeutische Begabung auf. Ich sah Lenas Totengesicht vor mir und wusste, meine Wut würde meine Mutter vernichten. Und nie würde sie, die Pom manchmal genervt «Die-nur-mit-sich-selbst-spricht» genannt hatte, etwas dazu sagen. Sie wäre still und stumm für immer. Sie hatte diese Wut ja schon zu spüren bekommen.
Dann kommt Rockys nächster Boxhieb. Sie fragt nach Arnt. Sie hat da was beobachtet. Und ihre Augen sehen bekanntlich alles. «Was hat dieser Fotograf Arnt Schreiber, einer unserer Ehrengäste, eigentlich zu dir gesagt, dass du ihn so abrupt hast stehen lassen?» Rocky hat nicht nur knallharte Fäuste, sie hat auch Teleskopaugen.
Ich tue auf blöd. Ich wisse nicht, was sie meine ...
Sie schaut mir hartnäckig in die Augen, ich schaue weg, ich murmle was von plötzlicher Übelkeit, genau, mir war übel von der ganzen Aufregung, ich nicke, dass mir fast der Kopf vom Hals fällt, und denke: War mir ja auch. Speiübel mit diesem torkelnden, besoffenen Ding in mir drin ... Und bevor es sich übergab und meine ganze Hilflosigkeit und mein ganzes Erschauern vor seine Füße kotzte, da bin ich lieber abgehauen. In die Toilette, wohin sonst.
Sie sagt nichts. Sie glaubt nichts. Aber sie fragt auch nicht weiter. Und sagt Gottseidank nicht diesen überflüssigen Scheiß von Ödipus mit Mamasquarkundkirschen.
Und er, was wird er dazu sagen, vielmehr denken? Wird er überhaupt was denken, außer: Völlig übergeschnappt, die Kleine. Wahrscheinlich war sie deshalb in dieser Klinik ...
Er hat mich ja noch nicht einmal wiedererkannt, dieser Ehrengast, dieser Meisterfotograf, der genau mit mir, mit Masseltow und Öttes Bude den Ruhrgebietspreis bekommen hat. Fast dreieinhalb Jahre her das Ganze. Und ehrlicherweise gestehe ich, dass es gefühlte zweieinhalb Millionen Jahre her ist.
Naja, ich war ja schon immer Mirjam, die Unsichtbare. Wolltest du aber doch auch sein, Mirjam, bleib mal schön bei der Wahrheit! Jetzt, mit diesem tobenden Dingsbums in mir drin, das immer wie überdreht an meine Ränder stößt und ballert, ist es fast schon eine Gnade, unsichtbar zu sein. Na bitte! Der gesammelte Obermist ist aber, dass ich mich mit diesem neuen, komplett durchgedrehten Herz noch fremder in mir fühle als sowieso in letzter Zeit.
Aber eines stelle ich mit Verblüffung fest: Dieses ganze Herzkasperltheater lenkt ab. Das Tritratrullala verschiebt zumindest für eine Weile Poms Tod, meine Trauer, mein Verstummen, meine Kälte auf die hinteren Plätze. Ganz vorne sitzt jetzt eine kleine Mirjam und brüllt, als das Krokodil mit Namen Arnt erscheint: «Herz, pass auf! Es will dich fressen!»
Verdammt! Das müssen die Scheiß-Hormone sein. Ich hasse meine Hormone, sie sind voll am Durchknallen! Weihnachten kam, Weihnachten ging. Lena schickte ein Päckchen, das lag danach tief hinten in meinem Kleiderschrank. Tante Greta schenkte mir lauter kleine Kostbarkeiten, für Körper, Geist und Seele. Aber sie hatte sie auch in jede Menge Seufzer verpackt, weil sie das ganze «Zeugs», wie sie es nannte, meinen «Seelenkram», sage ich dazu, leid war. Bis oben hin. Ihr Begriff «Zeugs» sagte sehr deutlich, was sie von meiner Unfähigkeit hielt, mich Lena zu stellen. Es kommt dem Begriff «Kinderkacke» sehr nahe.
Von meinen Freunden kamen haufenweise Postkarten aus London, die ganze Sippe war wie immer rübergeflogen. Und das mit einer riesengroßen Schar von Verwandten aus aller Welt. Würde Davids Mutter dabei sein? Ja, sie war, und David sollte sie nun öfter in Edinburgh besuchen kommen, wenn er in England studierte. David wusste noch nicht recht damit umzugehen. Seine Mutter war ihm sehr fremd geworden. Und von Sam hatte er ihr natürlich auch noch nichts erzählt ... Überhaupt habe sie milchbleich wie eine Nonne im Wintergarten zwischen ihnen gesessen und nicht viel gesagt. Aber immerhin war sie gekommen. Nach Deutschland zurückkehren wollte sie nicht. Ich nehme an, wegen der schrecklichen Erinnerungen. Und natürlich hätte ich zu gerne erfahren, ob sie etwas von den Briefen wusste. Ob David ihr jemals davon erzählen wird?
Und Phil, mein Phil? Phil, der diese peinliche Sache mit ... (wie hieß dieser Herr Fotograf noch mal?) nur so am Rande mitbekommen hatte, war mit seinem untrüglichen Instinkt für meine Bekümmernisse immer dicht an meiner Seite, um mir seinen hilfreichen Arm anzubieten, falls wieder irgendwelche Stolpersteine im Weg lagen. Stolpersteine, na ja, ehrlich gesagt, könnte man sie Kieselchen nennen, wenn da nicht mein oberbescheuertes Herz eine so gewaltige Sache draus gemacht hätte. Phil, der bloß ein mittelprächtiges Unwetter vermutete, das er nicht verstand und das bestimmt weiterziehen würde, stellte wie immer keine Fragen. Und ihm hätte ich es sowieso nicht erzählt, ganz bestimmt nicht ihm, es hätte seine Augen verdunkelt und sein Herz betrübt. Also hielt ich die Klappe, wie immer. Auch Sarah erzählte ich nichts. Und, mal ehrlich, was gab es da überhaupt zu erzählen? Nichts. Ein Furz im Dezemberwind. Genau das war es gewesen, ein Furz.
Oft ging ich an diesen schmutziggrauen, kalten Januartagen zum Kanal, immer in der Hoffnung, Friend zu treffen, ich rief, ich suchte, ich fragte, ich klingelte sogar bei fremden Leuten, ich versuchte es immer wieder. Aber keiner hatte ihn gesehen. Keiner konnte sich überhaupt erinnern, jemals einen Schäferhund am Kanal gesehen zu haben. Es schien, als hätte es ihn nicht gegeben, den Treuen, den Besonderen, den mit der grauen Schnauze und dem wissenden, immerliebenden Blick. Ich wusste nicht, was ich noch alles machen sollte. Ich hing überall Zettel auf, ich schrieb Tante Gretas Telefonnummer dazu, aber niemand meldete sich. Und David und ich trauerten um ihn. Mein Herz wurde noch krumpeliger.
Der Januar war eine einzige blöde Regenpfütze. Feucht und grau.
Meine Therapie ging weiter. Rocky legte tausend geschickte Fährten hin zu Lena, ich folgte ihnen stets eine Weile und dann: AUS! Immer blieb ich irgendwann stehen, bis hierhin und keinen Schritt weiter. Ich war unfähig, ich war verstockt, und ich wusste es. Ich spürte diese Verstocktheit wie einen tonnenschweren Schiffscontainer, angefüllt mit Müll, Fischabfällen und ähnlichem Zeugs. Ich spürte meine Sehnsucht, dieses scheißschwere Ding endlich zu öffnen und auszukippen, es sauber zu schrubben und neu zu füllen. Mit schönen Dingen, mit Dingen, die mir Kraft gaben und sie mir nicht immerzu raubten.
Hin und wieder träumte ich von Lena, von ihr, als sie noch Schneewittchen war und Pom und ich ihre Zwerge. Ich wachte dann auf und weinte um sie und um mich, mein Herz warf hartnäckig diesen einen, immer wiederkehrenden Gedanken in meine Trübheit, wie das Licht eines Leuchtturms, das vor gefährlichen Klippen warnt: Schau hin! Schau hin! Schau hin!
Ich versuchte zu schauen, ich versuchte es, aber etwas Ungeheuerliches hatte sich in dieser Dunkelheit versteckt. Und sie gab es nicht preis. Meine Angst war zu groß. Und so gab ich jedes Mal auf.
Tante Greta sagte: «Wenn du nicht mit Lena sprichst, wirst du es nie erfahren!»
Ja, aber was? Was musste ich erfahren? Und überhaupt: Musste ich?
Ich konnte nicht mit Lena sprechen. Aber ich wusste, ja, jetzt wusste ich es wirklich, ich musste es tun. Und ich würde es tun. Auch das wusste ich. Und das war ein Fortschritt, da würde Dr. Meerbusch staunen: Ich war bereit. Es blieb nur noch die Frage: Wann?
Der Januar schleicht dahin, dunkel und lang, die Festbeleuchtung des Dezembers ist nur noch eine verschwommene Vergessenheit, und der Abschied von David liegt wie der schwere, regenvolle Winterhimmel auf unserem Gemüt.
Die Crazy Dogs versammeln sich. Ein Prachtfest muss gefeiert werden, denn dieser Abschied wird für lange sein. David hat endlich einen Studienplatz in London bekommen. Sam hat eine klitzekleine Wohnung für sie beide in Uni-Nähe gefunden und wartet schon. Also: her mit der größten Fete aller Zeiten! Mit Glanz und Gloria, mit Masseltow, Blues und Delikatessen von Davids Tante, mit Kartoffelsalat von Tante Greta, mit Bier von Ötte und Sekt von Sarah, mit Mirjmas Grüner Bowle, mein Geheimrezept, und mit einer neu erfundenen Vorspeisenköstlichkeit, die mein ganzer Stolz ist: In eine halbe Williams-Christbirne (aus der Dose, leider, kommt ein Avocadomus, gewürzt mit Salz, Cayennepfeffer (heftigst!), mehreren Spritzern Zitrone, klein gehackten Kapern und Knoblauch. Die Härte! Es muss scharf und pikant sein, denn dann, und nur dann, wird es mit der milden Birne zusammen ge-ni-al!
«Das is’ nich’ von dieser Welt», murmelt Ötte mit vollem Mund, er ist hin und weg und stopft sich schon die dritte Birne rein.
«Finde ich auch», grinse ich stolz.
Und Phil meint, sollte mal aus irgendeinem nicht durchschaubaren Grund weltweit kein einziger Film mehr zu haben sein, könnte ich ja immer noch Delikatessenerfinderin werden. Und er hat auch schon den passenden Namen für meine Vorspeise: Birne à la Mirjam, oder kürzer, in Anlehnung an Birne Helène: Birne Mirjam.
Okay. Ist gebongt.
Wir machen uns über das Buffet her, wir machen uns über Davids Plattensammlung her, wir feiern laut und lange. Und am Ende sind wir leer, erschöpft, und traurig. Wir wissen, die alten Zeiten sind vorbei. Le roi est mort! Vive le roi!
Wir wären jetzt gerne alle wieder ein paar Jahre jünger, wir würden Blutsbrüderschwüre aussprechen mit dem ganzen Drumunddran, mit: Einer für alle! Alle für einen! Mit diesem ganzen Kinderzauber, den man wohl in seinem Herzen niemals hergeben will.
Ja, gerne würden wir alle die Zeit zurückdrehen, ich sowieso.
Nachdem David fort ist, sitze ich oft mit Phil zusammen, wir schauen uns Fotos an, hören unsere Blueskassetten, reden über die guten alten Zeiten, als wären wir fünfundneunzig und alles wäre gelaufen. Total bescheuert. Und total gut. Würde Pom dazu sagen. Einer seiner speziellen Pom-Sätze. Ach, Pom, du fehlst mir so unbegreiflich, es ist nicht zum Aushalten! Dann lehne ich mich an Phil, und Phil hält still und hält das aus.
Und, Frau Dr. Meerbusch, bitte hören und staunen Sie: Ich gestehe, auch Lena fehlt mir. Meine Schneewittchenmutter, die schöne, die stille, die besondere mit den sanften Streichelhänden, mit dem begnadetsten Zuhörenkönnen und den liebevollsten Trostworten unter den Sternen, diese Lena fehlt mir, die noch Lena war, bevor sie beschloss, eine böse Königin zu werden.
Tja. Und dann. Dann, Mitte Februar, geschah die Katastrophe.
Ich hatte sie nicht erwartet. Sie kam aus dem Hinterhalt. Ohne Vorwarnung. Ohne Getöse. Einfach so: Meine Hormone, meine blödenblöden Hormone trafen genau auf die dazu passenden oberblöden Hormone. Und ich war zu überwältigt, zu unerfahren, zu bereit, zu bescheuert, um diesem ganzen Schlamassel auszuweichen. Oder weit, weit wegzulaufen, ohne mich umzusehen.
Aber Weglaufen ging nicht. Die Hormone hatten alles voll im Griff. Den Verstand okkupierten sie als Erstes. Dann mein sowieso komplett meschugges Herz. Dann Haut und Haar. Jede einzelne Zelle wurde eine hoch explosive Chemiemischung. Und zischte und glühte. Und brannte durch.
Und die Katastrophe geschah in Oberhausen und hatte auch einen Namen. Na, ergänzen Sie sinnvoll! Richtig, der Kandidat hat hundert Punkte. Die Katastrophe hieß:
Arnt.