46

Es kam alles anders.

Es war einen Tag vor den Osterferien, die ich eigentlich mit Phil bei David in London hatte verbringen wollen. Diese Reise war natürlich gestrichen worden. Ohne Phil und mit dem ganzen Minenfeld meiner Probleme wollte ich nicht nach London entschwinden.

Ich war in meinem Zimmer und ordnete meine Schulsachen. Tante Greta war nicht da, die war bei einer Freundin, da klingelte es. Ich ließ alles stehen und liegen, ich rannte los, einen Schwarm Stoßgebete auf den Lippen, die wie aufgescheuchte Vögel vor mir her durch die Diele flatterten: Bitte, bitte, lieber Gott, lass es Phil sein, bitte, bitte, lass es Phil sein!

Es war Kristin.

Ich starre sie an, ich kann keinen Ton rauskriegen, ich bin fassungslos wie eine rausgeschraubte Glühbirne, ja, ohne Fassung und ohne jedwede Erleuchtung, was sie hier will. Ich starre, nein, ich glotze sie an. Sie sieht anders aus. Rundlicher. Unauffälliger. Kein bisschen sexy. Ihre rotbraunen Locken haben ein übles, verwaschenes Schwarz, das ihr nicht steht. Keine Schminke, kein Trallala. Ich kapiere nicht, was gerade los ist. Ich habe so eine Kristin noch nie zuvor gesehen. Ich bin so durcheinander, dass ich noch nicht einmal auf die Idee komme, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Ich muss heftigst geglotzt haben, denn sie senkt den Blick und murmelt: «Ist deine Mutter da?»

Hä? Meine Mutter? Wieso meine Mutter? Und wieso sollte sie hier sein? Ich sage: «Nein, sie ist ... ich weiß nicht wo, ich hab keine Ahnung, wo sie ist. Sie lebt woanders. Was willst du von meiner Mutter?»

Ich bekomme jetzt so ein ziehendes, klumpiges Gefühl in meinem Bauch, es wächst rauf in meine Kehle, es ist Angst.

Ich will die Tür zuschlagen, aber ich sage: «Komm rein!»

Kristin fragt: «Bist du allein?»

Ich stelle fest, dass auch sie Angst hat. Wovor?

Ich gehe mit ihr in Tante Gretas großes Wohnzimmer, ich möchte sie auf gar keinen Fall in meinem Zimmer haben. Sie setzt sich angespannt auf die Kante des Sofas. Ich setze mich ihr gegenüber auf den Biedermeierstuhl. Ich kann jetzt keinen weichen Sessel vertragen. Wir sehen uns an und schweigen. Sie muss anfangen! Ich nicht!

«Gut siehst du aus», murmelt sie.

Herrgott noch mal, was ist das für ein bekloppter Satz! Ich könnte jetzt sagen: «Du nicht.» Wir könnten alle uns bekannten Giftigkeiten wieder rauskramen, ich könnte sie eklig auseinandernehmen, ich habe die Gewissheit, dass ich gerade die Stärkere bin, ich könnte sie fertig machen. Aber: Sie ist schon fertig.

Ich beschließe, es zu lassen. Etwas anderes schwebt, nein hängt schwer zwischen uns, da ist so eine Dunkelheit um Kristin herum, die hat das Gewicht von sieben langen, düsteren Wintern, etwas lauert in diesem Raum, das ist bedrohlich, und ich bekomme eine Gänsehaut.

«Ich mach uns mal einen Tee», sage ich und verschwinde in der Küche. Ich halte das nicht aus. Ich klappere mit dem Geschirr, ich bin tief beunruhigt, ich fühle, dass ein Verlies nebenan auf mich wartet, da werde ich hineinfallen. Oder gestoßen werden. Mir ist so kalt, dass ich anfange, mit den Zähnen zu klappern. Das Tablett zittert heftig. Ich stelle es ab und lehne mich an die Wand. Ich atme durch.

Jetzt bloß kein Fieber, keine Ohnmacht, kein dramatisches Zusammenklappen, Mirjam. Jetzt brauchst du einen klaren Kopf und deinen messerscharfen Verstand. Deine Gefühle können warten. Die hebst du dir für später auf! Klar? Klar!

Ich hole tief Luft, greife das Tablett, das Zittern hat nachgelassen, ich merke eine seltsame, fast schon unheimliche Ruhe in mir, so muss diese Ruhe im Auge eines Hurrikans sein, ich habe jetzt das deutliche Gefühl, dass hier gleich etwas Schreckliches geschehen wird, aber es wird mit der Zerstörung auch Platz schaffen für ... für ... für keine Ahnung was ... für einen Neuanfang? Oder für Klarheit? Ja, vielleicht wird es Klarheit geben.

Ich gieße Tee ein. Ich frage ohne Umschweife: «Was willst du von Lena?»

Kristin schaut auf den Boden. «Das will ich ihr lieber selber sagen!», murmelt sie.

«Das geht nicht», sage ich. «Ich weiß nicht, wo sie ist.»

«Oh!», haucht Kristin.

«Wir reden nicht miteinander.»

Kristin schaut auf. Ihre Augen flackern. Sie ist kreidebleich. «Hat sie dir nichts gesagt?» Ihre Stimme klingt heiser.

Ich spüre eine gewaltige Bedrohung, eine harte Faust presst mein Herz zusammen, ich kriege kaum Luft. Ich denke fast befehlend: Mirjam, lass das sein! Hör sofort auf damit! Das Herz kommt später. Hör ihr zu! Sie hat dir was Wichtiges zu sagen, also hör ihr einfach nur zu!

Ich richte mich auf, meine Luft ist wieder da, mein Herz ist irgendwo, da kann es erst mal bleiben. «Nein, sie hat nichts gesagt. Ich sagte doch, wir reden nicht miteinander!»

«Warum?»

Ich habe die Gewissheit, dass ich es ihr sagen muss. Klipp und klar! «Sie hat Pom dazu getrieben, auf dieses beschissene Motorrad zu steigen und mitten in der Nacht damit abzuhauen. Sie hat ihn mit irgendwas fertig gemacht!»

Ich kriege diese Sätze heraus und ahne, dass sie nun geradewegs zu diesem ungeheuerlichen Schrecken führen werden, der zwischen Kristin und mir lauert. Und ich habe eine Höllenangst.

Kristin schweigt.

«Lena ist nicht schuld!», sagt sie. «Ich bin es!»

Ich erstarre. Ich glaube nicht, was ich da höre. Ich beuge mich vor, ich greife Kristin hart an den Schultern, ich schreie: «Sieh mich an. Sieh mich an, verdammt noch mal!»

Sie schaut hoch. Ihr Gesicht sieht schrecklich aus. Ich sehe, wie sie sich windet, Gift in ihrem Mund, ein hässlicher Mund, den sie zusammenpresst.

«Ich will es wissen!», schreie ich und rüttle sie wieder. «Was ist passiert?»

Kristin schüttelt meine Hände ab, sie richtet sich auf. Sie schaut direkt in meine Augen und sagt: «Ich habe ihr erzählt, dass Pom was mit mir hatte!»

WUMM! Mit Karacho in die Nieren und in alle anderen Eingeweide.

Ich schnappe nach Luft, mir wird übel und schwindelig. Ich werde jetzt umkippen. Aber ich kippe nicht um. Ich reiße mich zusammen. Ich kann das jetzt, für diese Sperenzchen ist nicht die richtige Zeit. Und nicht der richtige Ort. Ich schaffe es und frage: «Und? Hatte er?» Meine Zunge gefriert gerade in meinem Mund.

Kristin schaut mir weiter in die Augen.

«Nein!», sagt sie. «Ich hätte es gerne gehabt, ich war geradezu davon besessen, es sah sogar manchmal fast danach aus, als würde ich ihn rumkriegen ...»

Rumkriegen, der nächste Nierentritt!

«Aber dann, keine Ahnung, dann ließ er mich fallen wie eine heiße Kartoffel.»

«Du warst eine heiße Kartoffel!», sage ich. Und: «Warum Pom? Du hättest jeden haben können!»

«Ich hatte jeden», sagt Kristin. «Mit blödem Sex kannst du jeden haben. Die Kerle wollen nichts als blöden Sex ... Ich konnte sie tanzen lassen wie an Marionettenfäden, sie tun alles für ihren blöden Sex!»

Ich kann es nicht lassen, ich frage einfach: «Und unser Mr. Sunshine, du weißt schon, der auch?»

Kristin lacht höhnisch. «Ja, einmal. Das war Oberkacke. Sex ist Oberkacke. Und er hat danach geheult. Geheult wie ein Baby!» Sie pustet eine Locke aus der Stirn. «Mensch», sagt sie, «es war einfach nur Kacke!»

Auf Sex gehe ich jetzt lieber nicht ein. Ich frage noch einmal: «Warum Pom?»

Kristin grinst. Wahrhaftig, grinst sie? Sie tut es. Schlage ich ihr eine rein? Soll ich? Ich beschließe, es bleiben zu lassen. Wir sind noch nicht fertig.

«Weil er der charmanteste Mann war, der mir je begegnet ist, weil er ein Mann war, verstehst du, nicht so ein Bubi, weil er mir das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Ich wollte ihn einfach haben. Aber er wollte mich nicht ... Da wollte ich mich rächen ... Ja, ich wollte Rache, weil er dein Vater war, ich wollte mich rächen an dir, du warst plötzlich so interessant geworden, so anders, und dann hattest du auch noch den schärfsten Knaben unserer Schule an deiner Seite, der mich auch nicht gewollt hat, ich wollte mich an euch allen rächen, auch an deiner Hippie-Mutter, an der dein Vater hing wie eine Klette!»

Pom? Eine Klette?

«Einfach an eurer gottverdammten, beschissenen, heiligen Familie!»

Tieferes Schweigen gibt es einfach nicht.

Ich denke an Poms Plemplem-Midlife-Krise und ahne, dass dahinter Kristin mit ihren Verlockungen stand, und eine Kristin gab niemals auf, die bekam stets, was sie wollte – wie muss sie ihn hartnäckigst verfolgt haben! Ich denke an Poms Geburtstag, was hatte Lena da mitbekommen? Ich denke an ...

Kristin sagt: «Und dann hat mir dein Vater einfach verboten, auch nur noch einen Schritt in seine, in eure Nähe zu machen, er hat es mir verboten, verstehst du? Er rastete aus, er schrie und tobte, er nannte mich ein Flittchen, das er nicht am Hals haben wollte. Er schrie, dass er seine Frau liebe, seine Tochter, seine Familie. Er schrie, ich solle mich zum Teufel scheren!»

Ich schweige.

Sie schweigt.

«Dahin hast du dich dann ja auch geschert!»

Kristin versteht nicht. «Ich hatte Sex mit jedem, den ich wollte», sagt sie bitter. «Ich konnte wirklich jeden haben. Die Jungs sind doch einfach zu blöd. Für ihren blöden Sex machen sie alles. Zum Kotzen!»

Ich erschauere. Ich hatte auch alles für Sex gemacht. Sogar Phil verraten. Und beinahe eine ganze Familie in den Abgrund gestürzt. Ich auch.

Ich schweige.

«Und deshalb hast du zu Lena gesagt, dass ihr, du und Pom, eine Affäre gehabt hättet?», flüstere ich.

Ich sehe das Totengesicht meiner schönen Mutter vor mir. Ich schüttle es weg. Das kommt später. Das hier ist noch nicht zu Ende.

«Wann hast du es ihr gesagt?»

«Kurz vor eurem berühmten Südfrankreichurlaub, ich glaube, ihr wart schon am Packen», sagt sie.

Jetzt ist es gewiss. Ich habe mit meinen Ahnungen richtig gelegen, das aber wie immer nicht wahrhaben wollen. Ach, du verdammte Scheiße, die zwei Tage, diese besagten zwei Tage, bevor wir losfuhren und um Lenas Lächeln Stacheldraht wuchs. Und sie zur bösen Königin wurde. Und sich wegen mir zusammennahm. Ach, du heilige Oberscheiße!

Jetzt verstehe ich.

«Und was genau hast du zu ihr gesagt?», frage ich. Meine Stimme ist eine einzige Rasierklinge.

«Ich sagte, dass Pom mir nachstelle und dass er mich einmal rumgekriegt hätte und dass ich das nicht wolle und dass es mir leid tue ... und dass ...»

Ich höre mich knurren: «RAUS!»

Ich höre mich schreien: «HAU AB!»

Ich höre mich die Tür hinter ihr zuschlagen, dass der Putz von der Wand fällt und die Schornsteine von den Dächern kippen.

Dann sitze ich auf meinem Bett, Lady kommt von irgendwoher und legt sich dazu, bestes Timing, wie immer. Ich heule nicht, ich friere nicht und ich bekomme auch bestimmt nicht mein Fieber. Ich bin so voller Schrecken und Erleichterung, beides, ich tauche immer in eins der beiden Gefühle, hin und her, ich pendle so lange darin herum, bis mein Herzschlag zur Ruhe kommt und er gleichmäßig schlägt.

Ich erkenne das Puzzle. Die Teilchen fügen sich zusammen. Lena, die böse Königin, Pom, der gutmütig und unschuldig hinter ihr her tapst und der bereit ist, ihr das Misstrauen nachzusehen. Ich spüre Lenas schreckliche Verzweiflung, ihre Demütigung, ihre Wut, ihre Trauer, ihre tiefe Verletztheit. Ich erkenne ihre Bemühung, mich, ihre Tochter, aus allem rauszuhalten. Sie weiß, wie sehr ich an Pom hänge, also wird sie aus Liebe zu mir nicht am Lack meines glanzvollen Vaters kratzen, diesem Hahnrei, diesem Obergockel. Und nach seinem Tod erst recht nicht, sie weiß, dass ich dann Pom gleich zweimal verloren hätte.

O Gott, Lena, was hast du durchgemacht!

Und jetzt heule ich doch, ich weine um Lena, um meine Mutter, die mich über alles liebt, die es auf sich nahm, dass sie auch noch mich verlor. Lena, meine schöne Mutter, keine böse Königin, nur ein zutiefst verletztes, vergiftetes Schneewittchen. Den vergifteten Apfel hatte ihr Kristin angedreht, und eine verunsicherte Lena hatte ihn mit Stumpf und Stiel geschluckt ... Und dann hatte dieses Schneewittchen ihren Lieblingszwerg verstoßen, weil sie, die Naive, das gehässige Geschwätz eines rumvögelnden Blags, das nach Aufmerksamkeit lechzte wie eine läufige Hündin, geglaubt hatte. Kristin war die böse Königin gewesen und meine Mutter das sterbende Schneewittchen.

Ja, diese gehässige Halbstarke hatte sich zum Teufel geschert, sie war seine Meisterschülerin geworden. Und, wenn ich jetzt, wo ich schon bei der Wahrheitsfindung bin, also, wenn ich jetzt ganz ehrlich bin, waren Lenas Ängste nicht unberechtigt. Mein geliebter Vater war ein Gockel gewesen, immerzu am Krähen, ein stolzierender Pfau, ein manchmal völlig beklopptes Affenmännchen. Ja, Pom, bei allen Heiligen, das bist du gewesen. Und ich war eine kurze, heftige Zeit auch nichts Besseres gewesen als ein durchgeknalltes, hormongesteuertes, sexgieriges, rumvögelndes Girl, das seine Freunde verriet. Na klasse! Voll die heilige Familie.

Ich höre Tante Greta zurückkommen.

Ich gehe zu ihr in die Küche.

«Kristin war hier», sage ich und sehe, wie sie schwankt und sich an der Tischkante festhält. Ich nehme sie in den Arm. Ich drücke sie auf einen Stuhl. Ich setze mich zu ihr und sage: «Wir müssen reden!»

Und das tun wir. Volle zwei Stunden. Wir heulen und zittern und schnaufen, wir liegen uns in den Armen, wir schweigen und versuchen irgendwann ein Lächeln.

Ich erfahre, dass Tante Greta von Kristins Gespräch mit Lena wusste. Sie glaubte ihr aber kein einziges Wort. Sie fuhr zu Kristins Elternhaus, sie wollte sie stellen, aber da war sie schon nach Wien abgehauen. Ich erfahre, dass Tante Greta Lena nicht davon überzeugen konnte, dass das alles ausgedachtes, übles, beleidigtes Geschwätz war. Pom war hilflos, er beteuerte seine Unschuld, aber Lena glaubte ihm nicht. Sie hatte ihn mit Kristin in einer Eisdiele gesehen. Sie hatte sein Rumgeschäker beobachten können.

Und ich erfahre, dass Lena zurzeit in Avignon ist. Zu einem großen Kunsthandwerkermarkt. Mit unserem alten Theaterbus und Sack und Pack. Tante Greta gibt mir eine französische Telefonnummer. Sie hängt schon länger an unserem schwarzen Brett in der Diele. Ich lege sie auf meinen Schreibtisch. Ich werde sie anrufen. Aber vorher suche ich in meinem Kleiderschrank nach Lenas Weihnachtspäckchen. Sie hat mir eine Kette aus feinstem Silberdraht mit kleinen Türkissteinen und die passenden Ohrringe dazu angefertigt, so wunderschön und mit so viel Liebe, dass ich uferlos weinen könnte. Aber ich schlucke die Tränen runter.

Ich lege die Kette gleich an. Die Ohrringe auch. Ich zeige sie Tante Greta. Die sitzt in der Küche und heult. Ich bin jetzt ganz ruhig. Ich nehme sie in den Arm und tue das, was sie sonst immer mit mir tut. Ich wiege sie hin und her, hin und her und sage sanft, so sanft: «Schschsch, schschsch, alles wird gut! Jetzt wird alles gut!»

Und ich weiß, ich muss nach Avignon fahren. Tante Greta nickt. Sie will die Reise bezahlen.

Aber bevor ich fahre, muss ich mit meinen Freunden reden, die mich in all diesem beschissenen Schlamassel begleitet, getragen und ertragen haben. Vorher gibt es die «Bekenner»-Konferenz. Ich werde über meine neuen Erkenntnisse reden, über meine hartnäckige Verbocktheit werde ich sprechen. Auch über meine Affäre mit Arnt.

Und ich werde über meine Sehnsucht nach Lena reden. Endlich, endlich kann ich wieder über meine Mutter sprechen. Und vielleicht schafft ja irgendein Wunder, dass auch Phil kommt.

Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass auch Phil kommt!

Ich setze mich in die Diele und wähle diese französische Nummer. Meine Finger zittern. Wird Lena sich melden? Es tutet lange, es rauscht und knackt, dann höre ich eine Männerstimme mit diesem wunderbaren französischen Singsang ein «’allo?» sagen.

Ich sage meinen Namen. Mein Französisch ist holprig, aber ich habe viel gelernt in unseren Frankreich-Urlauben, ich kann mich verständigen.

Am anderen Ende höre ich das Schweigen.

Ich sage jetzt auch dieses fragende: «’allo? ’allo? Je suis Mirjam Engels! Je veux ...»

Weiter weiß ich erst mal nicht. Stille! Vielleicht sind wir ja unterbrochen worden.

Dann sagt die Männerstimme fassungslos: «Mirjam? Tu es vraiment Mirjam, la fille de Lena?»

Ich rufe: «Oui, oui, je suis Mirjam, Mirjam Engels! Lena est ma mère!»

Und dann kapiere ich erst, dass ich Pierre am anderen Ende habe, es ist gar keine Nummer in Avignon, ich bin in Bédoin bei Pierre gelandet, Lena muss sich bei ihm ein Zimmer genommen haben.

Pierre redet und redet, seine aufgeregte Stimme hüpft, oh, wie liebe ich diesen französischen Singsang, dieses Auf und Ab, es ist wie ein Zwitschern, ja, ein Lächeln ist in der Sprache, Pom konnte sie fließend, ich aber wiederhole in einem fort: «Lentement, Pierre, lentement, s’il vous plaît!»

Aber dazu ist Pierre nicht in der Lage, mein linkes Ohr wird langsam taub, dann eine Pause. Ich höre deutlich, dass Pierre nun in eine andere Richtung spricht, ich höre ihn Lenas Namen sagen, ich höre einen seltsamen, ungläubigen Laut, ich höre die atemlose Stimme meiner Mutter. Sie ruft: «Mirjam, Mirjam, bist du es?»

Und ich heule los. Verdammt, verdammt, verdammt!

Lenas Stimme gerät außer sich, wird fast hysterisch, sie schreit: «Mirjam, so rede doch, ist was passiert?»

Und ich oberbescheuerte Heulschrecke kapiere, dass mein Heulen Lena das Schlimmste, wahrscheinlich das Allerschlimmste vermuten lässt. Dass sie umkommt vor Sorge. Ich höre auf der Stelle auf zu flennen. Ich strenge mich an, ich hole tief Luft und sage, so deutlich ich kann: «Lena, ich vermisse dich. Darf ich kommen?»

Und die endlose, unterirdische Telefonleitung gibt ihr Bestes – kein Knacken, kein Knistern, kein Rauschen. Ich kann sogar Lenas ungläubiges Schweigen hören. Dann höre ich ihr Weinen, ich höre, dass es kein Kummerweinen ist, sondern das komplette Gegenteil. Ich höre sie dazwischen immer wieder schluchzen: «Ja, komm, bitte, bitte komm!»

Die geduldige Telefonleitung muss noch zwei Eimer Tränen, eine Tonne Geseufze und eine Wagenladung Fassungslosigkeit aushalten. Und Lenas zutiefst entsetzten Schrei, als ich sage: «Kristin war hier!»

Lena ringt nach Luft.

Ich sage immer wieder: «Lena, Lena, bitte hör mir zu. Sie war hier und hat mir die wahre Geschichte erzählt. Die wahre, verstehst du?! Nicht diese ungeheuerliche, ausgedachte Lüge. Sie war hier und hat zugegeben, dass sie alles erfunden hat. Sie hat diesen unglaublichen Müll erfunden. Sie ist nichts weiter als eine gefährliche, gekränkte, eitle, bescheuerte Kuh!»

Lena schweigt.

Glaubt sie mir? Glaubt sie Kristin?

«Lena», sage ich eindringlich, «so eine wie Kristin kommt nicht einfach so dahergerauscht und behauptet das Gegenteil. Sie war fertig. Sie ist zwar eine hohle Nuss, aber glaub mir, sie war wirklich fertig. Es war nur das gekränkte Rachegeschwätz, weil sie bei Pom nicht landen konnte. Sie ist kaputt, Lena, völlig kaputt. Kaputt und fertig!»

Lena schweigt weiter.

Ich sage fast flehend: «Lena, Pom hat uns geliebt, das weißt du. Lass dir nichts anderes einreden. Bitte, Lena! Lena? Lena, bitte!»

Lena flüstert: «Mirjam, komm schnell, hier blühen gerade die wilden Narzissen, ganze Wiesen voll mit wilden Narzissen!»

Und ich weiß, wenn ich dort bin, werde ich meine Mutter halten müssen, ich werde sie halten und wiegen, so lange in meinen Armen wiegen, bis sie den vergifteten Apfel herauswürgt – und wenn ich sie rütteln und schütteln und auf den Kopf stellen muss.

Tante Greta wollte nicht dabei sein. Ich hatte ihr noch am selben Tag, nach Kristins Besuch, von Arnt erzählt, von meinen turmhohen Lügengebäuden, von meinem Rausch, der zu Ende war, als ich der kleinen Tochter und der Frau von Arnt begegnete. Der Rausch war vorbei, als hätte jemand den Stecker gezogen. Der Strom war weg. Ende. Nichts mehr. Aus!

Tante Greta war fassungslos, aber sie klagte nicht an. Ihre einzige Sorge galt Phil. Den hatte sie tief ins Herz geschlossen. Und sie wünschte ihm nichts sehnlicher als das alles zu verkraften. Und mir wünschte sie nichts sehnlicher, als dass er mir verzieh.

Am Sonntag würde ich nach Avignon fahren. Am Samstagabend kamen meine Freunde. Zuerst kam David. David kam! Tante Greta hatte ihm einen Flug spendiert. Und er hatte am Telefon nichts verraten. David, mein guter Freund, dem ich schon alles über den Ärmelkanal hinweg erzählt hatte, er hielt mich eine Weile fest und flüsterte: «Alles wird gut!»

Dann kam Ötte mit Masseltow, und Lady musste ins Gästezimmer. Dann kam Sarah mit Phil. Sarah kam mit PHIL, und mein Herz hätte sich auch gerne ins Gästezimmer verkrümelt, zu Lady, weil es das fast nicht aushielt: Phil war wirklich gekommen!

Seit meinem Besuch bei ihm hatte ich kein einziges Wort mehr mit ihm gesprochen, nein, anders herum, er hatte kein einziges Wort mehr mit mir gesprochen. Ich war so aufgeregt, dass ich den Tee verschüttete, ich stolperte über die Teppichkante, ich trat auf Masseltow, der sofort zur Bestie wurde, ich öffnete die Erdnussdose und kippte sie – zack! – auf den Boden (Masseltow war getröstet!), ich schüttelte immer wieder die Kissen auf, und irgendwann nahm mich Sarah in den Arm und sagte: «Mirjam, fang endlich an!» Und: «Du schaffst es!»

Wir hatten uns auf den Boden gesetzt, durch das halb offene Fenster kamen Frühlingsgerüche, meine Freunde schauten erwartungsvoll in mein Gesicht, Phil schaute auf den Boden, meine Augen verschwammen, aber ich kriegte es hin und heulte erst mal nicht.

Ich redete kreuz und quer, es gab keine Ordnung in meinem Reden, ich erzählte von meiner Trauer, von der schwarzen Verzweiflung, von meiner Kälte, meiner Unfähigkeit, das alles zu teilen und mitzuteilen, von meiner Dankbarkeit, dass ich sie alle hatte, von meinem Betrug, meinen schleimigen, ekligen Lügen, ich gab zu, dass ich sie alle betrogen hatte, jeden Einzelnen, ich quälte mich durch meine Affäre, ich versuchte, ihnen diesen Rausch zu erklären, ich glaube, das misslang, ich bereute, ich bat um Verzeihung, ich heulte dann doch noch los, ich erklärte, dass ich mich verabscheue, ich erzählte von Kristin, ich glühte vor Zorn, ich erklärte ihnen das Puzzle, ich erzählte von Lena, von meiner gequälten Mutter mit dem Totengesicht, die das alles auf sich genommen hatte und dafür mit meiner Kälte bestraft worden war, ich fing wieder an zu weinen, ich erzählte von meinem Telefonat mit Lena und dass ich morgen nach Avignon fahren würde und dass ich so froh war, dass es sie alle in meinem Leben gab, meine Mutter, Tante Greta, David, Sarah, Phil und Ötte und Masseltow. Und ich heulte und stotterte und fing wieder von vorne an. Und ich flehte sie alle immer wieder an, mir zu verzeihen.

Irgendwann spürte ich Davids Hand, sie legte sich auf meinen Arm, und er sagte: «Mirjam, es ist genug. Wir haben verstanden. Wir sind froh, dass du da durch bist. Glaub mir, wir sind froh. Alles hat seine Zeit. Das habe ich jetzt wirklich kapiert!»

Ötte knurrte immer wieder: «Ich dreh ihr den Hals um!», und ich dachte: Kristin, mach dich vom Acker!

Sarah seufzte tief und sagte: «Oh Mirjam, ich bin so froh, dass du uns alles erzählt hast! Ich dachte schon, du würdest eher sterben und daran ersticken, als es mit uns zu teilen!»

Phil sagte gar nichts.

Wir hören noch unseren Blues, David erzählt von England, Ötte plant schräge Racheaktionen, Masseltow hat jede einzelne Erdnuss gefunden und knuspert noch an einigen herum, Sarah will, wenn ich von Lena zurück bin, für mich eine kleine Feier geben, irgendwo am Kanal mit allen hier zusammen, ich werde ja im Mai achtzehn, Phil sitzt zwischen uns und schweigt.

Irgendwann erhasche ich einen kurzen Blick in seine Augen. Sie sind dunkel. Aber sie blicken zurück. Und mein Herz ruckt rauf und runter. Draußen wartet der Frühling, und ich bekomme gerade eine Ahnung, dass er auch hier zwischen uns wartet.

Sie haben mir verziehen, das weiß ich. Ich weiß es aber nicht von Phil. Der gibt mir kein Zeichen. Und eine kribbelige Unruhe macht sich in mir breit. Ich bin ein einziges verknäultes Wirrwarr von elektrischen Drähten.

Irgendwann sind alle weg. Beim Umarmen schleicht sich Phil an mir vorbei in den Hausflur, aber er hat kurz seine Hand auf meine Schulter gelegt. Mein Herz bekommt einen Stromstoß und springt wie ein Zicklein, das den Elektrozaun berührt hat. Die ganze Nacht denke ich darüber nach, bis der Schlaf ein Einsehen hat und ich nichts mehr denke.

Ich stehe mit meinem Gepäck auf dem Bahnsteig. Der Himmel ist grau, es tröpfelt. Gleich wird der Zug einfahren, der mich zu Lena bringt. Tante Greta ist schon verschwunden, sie hasst Abschiede. Ich sehe ihren blauen Seidenschal die Treppe runterwehen, dann ist sie weg. Ich bekomme einen Kloß im Hals. Zwischen den vielen Menschen fühle ich mich allein.

Da sehe ich Phil, er kommt angetrabt, der Zug dicht hinter ihm, er reicht mir ein kleines Päckchen, ich spüre, dass es Kassetten sind.

«Für Lena!», sagt er. «Eine ist für dich!»

Und ich bin so froh, so unendlich froh, dass Phil wieder mit mir redet, dass ich ihn mir schnappe. Ich drücke einen Kuss auf sein nasses Gesicht, mitten drauf, da rutscht er eine Etage tiefer und landet auf seinem Mund.

Ich spüre Phils weiche Lippen, Himmel, sind die weich, ich schmecke sonnenwarme Himbeeren, himmlische Himbeeren, ich schmecke plötzlich Chilipepper, hot red Chilipepper, sodass ich ganz heiß davon werde, ich spüre Phil, der mich an sich drückt und mir dann einen Schubs gibt, weil der Pfiff ertönt. Er schiebt meinen Seesack über die Stufen, der Zug ruckelt, ich rase zum Fenster, schiebe es herunter, Phil trabt neben dem Zug her, ich schreie: «Was hältst du von Octopussy? Das Erste könnten wir doch Octopussy nennen!»

Und Phil bleibt stehen, er rauft sich die Haare, seine feuchten Locken werden noch wilder, er schmeißt die Arme in die Luft, kullert mit den Augen und schreit:

«Ob-La-Di, Ob-La-Da!»