Lange habe ich gedacht, ich hätte die beklopptesten Eltern der Welt. Völlig bekloppt und plemplem. Keiner hatte solche Eltern: Man staunt sie an, man rauft sich die Haare, man flüstert hinter der Hand, man belächelt sie oder man tippt sich an die Stirn. Oder man liebt sie. So wie ich. Denn eigentlich sind meine Eltern wunderbar und voll okay. Oft habe ich gedacht, dass man mit ihren Macken und Geschichten Bücher füllen könnte. Und vielleicht würde eines dann mal in einem Regal in einer Bücherei stehen. Und ich könnte alles nachlesen, staunen und alles verstehen und nichts vergessen. Bücher sind Spuren, die einen an Orte führen, die man noch nicht kennt und mit ihrer Hilfe entdeckt. Ich liebe es, ihren Spuren zu folgen. Ich liebe Bücher.

So mit zehn wollte ich unbedingt Bibliothekarin werden, um tonnenweise Bücher lesen zu können, oder ich würde mal selber welche schreiben. Und die sollten dann in einem Bücherei-Regal stehen. Denn Bücher waren das Allerbeste auf der Welt. Sie machten, dass meine kleine Welt groß wurde, prall gefüllt mit Abenteuern und mit Gesellschaft, wenn ich mal wieder allein war. Und im besten Falle hatten sie die besonderen Wörter, die ich angaffen konnte, manchmal mit offenem Mund, wenn ich sie entdeckte. Mit zwölf fand ich in Tante Gretas Bücherschrank Malina von Ingeborg Bachmann und las es dreimal hintereinander. Ich habe, glaube ich, gar nix kapiert, aber jedes einzelne Wort bestaunt und irgendwie auch verstanden. Denn das Tolle bei guten Büchern ist, dass sie unter dem Text noch was anderes haben, wofür man den Verstand nicht braucht. Fest steht, ich las dieses Buch mit irgendwas anderem, dafür habe ich aber keinen Namen. Und ich bin sicher, dass ich alles begriff.

Naja, das kann ich sowieso nicht beweisen. Das Verrückte ist, dass man mit zwölf manchmal mehr weiß als mit siebzehn. Und dann fällt es einem aus dem Kopf und verschwindet im Universum. Irgendwann taucht es angeberisch mit großem Getöse wieder auf und tut so, als wäre es eine unglaubliche Neuentdeckung. Trörö, trörö, voll das Leben. So wie Lady, wenn sie Mäuse anschleppt und wir sie schon von Weitem mit ihrem Angebergemaunze hören können, bevor sie sie uns vor die Füße knallt. Ne, eigentlich nicht, Lady ist nämlich eine Dame und legt sie immer fein ordentlich, mit den Schwänzen in eine Richtung, in unsere Duschtasse. Weil sie einfach unglaublich intelligent ist.

Aber das Leben? Hat es uns die Mäuse praktischerweise in die Duschwanne gelegt? Ne, ne, nix da. Sie lagen immer irgendwo rum, wo man mit nackten Füßen bestimmt auf sie drauftrat, voll in ihr angeknabbertes Innenleben rein, und sie waren hühnergroß. Wir traten haufenweise in solche Mäuse, Pom, Lena und ich (das soll jetzt eine Metapher sein, ich liebe nämlich Metaphern). Mäuse gab es bei uns schon immer genug.

Ja, manche behaupteten, wir seien schräge Vögel, völlig crazy und so. Und deshalb tippten sie sich an die Stirn. Und hüstelten bedeutungsvoll. Wer hat schon einen Vater, der Pom heißt, weil er so rund wie ein Apfel ist – und der heißt in Frankreich, in Poms geliebtem Frankreich, «pomme». Pom ist rund und nicht besonders groß. Das Wort «klein» darf bei uns nicht benutzt werden. Pom macht mit Matte, seinem Kumpel, Kindertheater. Sie werden gebucht, und dann ziehen sie los mit unserem alten Theaterbus, voll bepackt mit Bühne, Requisiten, Scheinwerfern und dem ganzen Pom(p!) und Plunder. Meistens spielen sie in irgendwelchen Jugendzentren, Gemeindesälen oder Turnhallen. Turnhallen hassen sie! Pom schreibt die Stücke, und Lena, Matte und ich fügen ein paar Ideen hinzu (die meisten sind von meiner ideenreichen Mutter), was Pom, wenn es fertig ist, immer abstreitet – er ist ein Gockel! Und reich werden wir davon nicht. Eher so das bekloppte Gegenteil. Aber wir haben ’ne Menge Spaß. Und Lena, meine Mutter, die manchmal «Squaw» heißt oder «Butterblume» oder «Weib» (O-Ton Pom), sieht aus wie eine Collage aus Schneewittchen, Scheherezade, die Schwester von Winnetou oder wie eine wilde Zigeunerin. Sie ist etwas größer als Pom, was er abstreitet, und sie redet nicht viel. Manchmal nervt das Pom so, dass er einen Anfall kriegt und brüllt: «Weib, rede mit mir!»

Völlig falscher Ton, aber das kapiert Pom nie. Das kriegt er einfach nicht in seinen kugelrunden Seehundkopf rein. Denn wenn er brüllt, verwandelt sich Lena in eine Schnecke, die blitzschnell in ihrem Häuschen verschwindet. Oder aber sie zieht sich in ihre Werkstatt zurück und sägt, hämmert und schraubt an ihren wilden, wunderbar schrägen Skulpturen, malt leuchtende Bilder, näht Taschen, bastelt Schmuck und anderen Kram, den sie in einigen Läden zum Verkauf anbietet. Und sie wird allerhand los.

Unser Leben ist bunt, es ist laut und schrill, es ist wunderbar und grässlich (bei diesen Eltern!), und mich müssen sie irgendwo auf einer ihrer Motorradfahrten rund ums Ruhrgebiet oder in Südfrankreich zwischen Lavendel und Thymian gefunden haben, denn ich bin so anders, dass ich selbst nur staunen kann. Ich will möglichst nicht gesehen werden, bloß bitte schön nicht auffallen, ich bin Mirjam, die sich unsichtbar machen kann, die Bücher frisst wie Kühe frisches, saftiges Gras (und auch wiederkäut …), die mit dem Wind und den Bäumen spricht, die irgendwo hockt und alles sehr genau beobachtet und die beste Katzenkennerin auf der Welt ist. Und die Masseltows Hundeherz gebrochen hat. Und das soll erst mal einer nachmachen. Das haben lange Zeit nur Ötte und ich geschafft. Vielleicht würde ich mich mal trauen, später, in tausend Jahren, ansatzweise so zu werden wie Tante Greta, die ist weit über siebzig, weise und würdevoll. Und beeindruckend gekleidet. Elegantschlichtwundervollschön, und es passt haarscharf zu ihr. Sie ist die Herrscherin in ihrer alten Villa am Stadtrand, wo sie eine ihrer riesigen Wohnungen an eine WG vermietet hat, über der sie jetzt thront, sozusagen über lauter verrückten Studenten und Studentinnen, die sie alle verehren, ja, sie geradezu anhimmeln.

Denn Tante Greta ist die Ruhe in Person, die Weitsichtige, die Gebildete, die Um-die-Welt-Gereiste, und hat für alle immer ein offenes Haus und ein offenes Ohr, wenn sie nicht gerade auf einer ihrer Reisen ist. Sie war mal eine weltweit anerkannte Journalistin. Klar, so in etwa würde ich gerne auch mal werden, wär schon klasse irgendwie, aber ich Dumpfsocke würde mich wahrscheinlich mit neunundsiebzig noch nicht trauen, diese wundervollen bestickten Seidenkaftane zu tragen, mit einem dazu passenden Tuch in den weißen Haaren, irgendwie elegant und mühelos rumgeschlungen – schon allein das würde ich nie hinkriegen. Ich sähe dann eher bloß so aus wie das alte Mütterchen, das im Wald mit einem schäbigen Kopftuch Holz sammeln geht.

Ja, ich bin wohl wirklich ein Kuckuckskind und einfach so in Poms und Lenas windschiefes Nest gefallen. Aber Pom kräht immer sofort wie ein wild gewordener Hahn, wenn ich mal nachfrage. Er klopft sich dann selber auf die Schulter, trommelt auf seiner Brust rum wie ein prahlerisches Affenmännchen und trötet, dass ich, Mirjam Engels, das Kind seiner Lenden sei, seiner (wie peinlich!), und dabei streckt er seinen Kugelbauch vor (o Gott, Pom!), und das Beste sei, was er je produziert habe. Alles klar? Und Lena nickt dann mit verträumten Augen und flüstert: «Du bist unser Himmelsgeschenk.»

So weit zu meinen durchgeknallten, prachtvollen Eltern.

Naja, und irgendwann, so mit zwölf, habe ich begonnen, hin und wieder was aufzuschreiben, einen Berg Notizen, damit ich all die verrückten Sachen behalte. Und weil ich ausprobieren wollte, ob es dafür überhaupt die richtigen Wörter gibt. Aber dann dachte ich lange Zeit, dass das Leben sich einfach nicht aufschreiben lässt, es lässt sich nur leben.

Und doch, und doch, vielleicht muss man es einfach versuchen. Rückwärts gesehen ist es vielleicht leichter: Mirjams gesammelte Augenblicke. Und die nicht gesammelten, die tummeln sich immer noch irgendwo da draußen rum, werden blasser oder blühen woanders noch mal so richtig schön auf. Wer weiß das schon? Doch nur das Leben selber. Und das verrät einem nicht alles. Manche Geheimnisse behält es hartnäckig für sich. Und eigentlich will man auch nicht alle wissen. Meine Familie jedenfalls hatte jede Menge davon. Jede Menge, so viel steht fest.

Doch dann waren es ein paar Geheimnisse zu viel. Und deshalb konnte und musste ich es irgendwann einfach tun. Ich musste die Spuren finden. Ich musste alles aufschreiben, damit nichts verloren ging. Damit ich endlich verstand, warum unsere Mäuse plötzlich so groß wie Killerwale waren.