Geoff rümpfte angewidert die Nase, als er sich an Minnie Gillespie vorbei in das ärmliche Häuschen zwängte. Die Frau hatte ihm den Eintritt verweigert, bis er gedroht hatte, sich an das Jugendamt zu wenden.
Jetzt stand er mitten im Zimmer, und die Kinder starrten ihn an. Für sein militärisch geschultes Auge war der Raum ein einziges Chaos, und für seinen Verstand, der an den ordentlichen, peinlich sauberen Haushalt seiner Mutter gewöhnt war, schmutzig und entwürdigend. Er sah sofort, daß das Zimmer gleichzeitig als Küche, Wohn- und Schlafzimmer diente, denn zwei Kinder hockten trotz der fortgeschrittenen Tageszeit noch auf einem rohen Bettgestell in einer Ecke. Zwei Jungen standen daneben und starrten ihn an. Der eine, dünn und schmächtig, mochte etwa zwölf Jahre alt sein. Der andere, ein stämmiger kleiner Kerl von fünf oder sechs Jahren, hatte ein aufgewecktes, rundes Gesicht. Am entfernteren Ende des Tisches stand Lizzie. Sie warf Geoff einen schnellen Blick zu, als er eintrat. Dann senkte sie wieder den Kopf und fuhr fort, dicke Scheiben von einem Laib Brot abzuschneiden. Geoff betrachtete sie eine Weile und bemerkte trotz ihrer offen herabhängenden braunen Haare, daß sich ein blauer Fleck auf ihrem Wangenknochen abzeichnete.
Die Frau deutete auf das Bett und sagte zu dem älteren Jungen: »Bring die zwei ins andere Zimmer.« Der Junge zögerte einen Augenblick, dann drehte er sich um und winkte den beiden kleinen Mädchen. Sie kletterten aus ihrem Bett und folgten ihm, ebenso wie der kleinere Junge.
»Macht die Tür zu!« schrie die Frau ihnen nach, und die Tür wurde krachend zugeworfen.
»Was ist mit ihr?« Er deutete auf Lizzie. Die Frau gab zurück: »Was soll mit ihr sein?«
»Ich möchte allein mit Ihnen sprechen.«
»Sie ist kein Kind mehr. Sie versteht mehr, als man glaubt. Also sagen Sie, was Sie zu sagen haben!«
Anstatt zu antworten, ging er zum Tisch und berührte Lizzie an der Schulter. »Geh eine Minute nach draußen«, sagte er sanft zu ihr.
»Heda! Was zum Teufel soll das! Kommt einfach in mein Haus und fängt an rumzukommandieren …«
»Halten Sie den Mund!« Geoff fuhr herum und starrte die Frau an. Dann blickte er wieder auf Lizzie. »Geh eine Minute hinaus.« Sie gehorchte. Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, sagte er zu der Frau: »Vielleicht war es falsch von mir, sie hinauszuschicken. Vielleicht hätte sie es gerne gehört, wie ich Sie eine dreckige Schlampe nenne!«
»Sie! Was glauben Sie, wer Sie sind?«
»Ich sage Ihnen, wer ich bin. Ich bin jemand, der es nicht leiden kann, wenn junge Mädchen zu alten Männern geschickt werden, damit die sich für fünf Shilling mit ihnen vergnügen. Deshalb ist ihre Schwester weggelaufen, nicht wahr? Sie wollte da nicht mehr mitmachen.«
Die Frau schluckte, dann strich sie ihr blondes Haar hinter die Ohren und antwortete: »Ich könnte Sie vor Gericht bringen, jawohl, das könnte ich. Das ist üble Nachrede!«
»Seien Sie still! Sie haben einen schlechten Leumund. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie das Gesundheitsamt hinter Ihnen her war nach der Schuluntersuchung. Aber sie als Huren herumzuschicken, ist eine andere Sache, und da wird niemand Nachsicht zeigen. Wenn Sie das Geld so dringend brauchen, warum gehen Sie dann nicht selbst anschaffen; Sie haben doch die nötige Erfahrung, nicht wahr?«
»Jetzt reicht’s aber! Ich werd’ mir das nicht länger anhören. Und wenn Sie was über mich wissen, so weiß ich auch was über Sie, Herr Großmaul Fulton! Bloß weil Sie’n paar blöde Streifen an Ihrem Ärmel tragen, führen Sie sich auf wie der liebe Gott. Was ist denn mit letzter Nacht, he? Das waren Sie, und man sucht schon nach dem Mann, der Mr. Kidderly krankenhausreif geschlagen hat.«
»Nun, warum gehen Sie dann nicht hin und erzählen alles? Ich bin bereit, vor Gericht auszusagen, warum ich den Kerl schlagen mußte: um ein junges Mädchen davor zu schützen, mit Wissen seiner Mutter vergewaltigt zu werden. Und Ihre beiden Stieftöchter würden meine Geschichte bestätigen. O ja, ich weiß, daß die eine weggelaufen ist, aber es ist nicht schwer, sie zu finden. Und das Gericht würde auch in Betracht ziehen, daß Sie noch zwei Töchter haben, von denen die eine alt genug ist, von Ihnen angelernt zu werden. Wie auch immer«, er schürzte die Lippen und seine Stimme klang nun ganz ruhig und ungezwungen, »lassen wir die Anschuldigungen beiseite ‒ ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu machen.«
Die Frau starrte ihn mit offenem Mund an. Dann änderte sich ihr ganzes Benehmen. Die Furcht, die in ihren Augen gelauert hatte, verschwand, und der harte, abweisende Gesichtsausdruck ging in Verachtung über. Sie warf den Kopf zurück, und aus ihren geöffneten, vollen Lippen ertönte ein grelles Lachen. »Sie wollen mir ein Angebot machen!« rief sie. »Mein Gott! Weil Sie gehört haben, daß ich für die Männer hier nicht zu haben bin, weil ich weiter herumkomme, darum glauben Sie, Sie könnten jetzt billig an mich rankommen? Weil Ihr elegantes Miststück Sie sitzengelassen hat …«
Daß sie ihn auf diese Weise mißverstand, brachte Geoff in Wut. Er beugte sich vor und fuhr sie an: »Halten Sie den Mund, Sie stinkende Schlampe! Ich sollte Sie wollen? Ich würde Sie nicht mit einer Kneifzange anfassen! Hören Sie zu, Frau, und lassen Sie mich ausreden. Meine Mutter sucht ein junges Mädchen zur Mithilfe im Haushalt und für kleine Arbeiten. Es soll bei ihr wohnen. Es wird gut angelernt und versorgt. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, daß sie Ihrer jüngeren Stieftochter den Job anbietet. Außerdem möchte ich Ihnen sagen, daß ich noch heute die Behörden in Durham aufsuchen werde, wenn Sie Einsprüche erheben. Und noch etwas: Sie werden keinen Penny von Lizzies Lohn erhalten; das Geld kommt auf die Bank. Und wenn Sie ihr irgendwelche Ungelegenheiten bereiten, so wird mein Vater wissen, was er zu tun hat. Also, wählen Sie!«
Ihre Antwort stieß sie zwischen zitternden, farblosen Lippen hervor: »Eines Tages wird Ihnen das alles heimgezahlt; ich bete darum, daß ich es noch erlebe. So wahr ich hier stehe, ich werde es noch erleben!«
»Ich bezweifle, daß sie jemals beten!« Geoff ging zur Tür, öffnete sie und rief: »Lizzie!«
Das Mädchen kam langsam ins Zimmer und stellte sich an den Kamin. Seine Augen waren weit geöffnet, das ovale Gesicht wirkte angespannt, und der blaue Fleck schien jetzt noch stärker hervorzutreten.
Geoff blickte erst Lizzie, dann ihre Stiefmutter an. Da diese schwieg, befahl er dem Mädchen: »Pack deine Sachen zusammen.«
»Was?« Sie starrte ihn und dann ihre Stiefmutter an. Offensichtlich wartete sie auf eine Erklärung. Da die Frau nicht antwortete, wandte Lizzie sich fragend an Geoff: »Ich soll meine Sachen packen?«
Geoff deutete auf Minnie und erklärte: »Wir haben uns geeinigt, daß du mit mir kommst und für meine Mutter arbeitest. Sie hat schon lange eine Hilfe gesucht. Es wird nicht schwer für dich sein; du mußt ihr nur bei der Hausarbeit und bei anderen Kleinigkeiten helfen.« Lizzies Mund öffnete sich langsam und schloß sich wieder. Dann, ohne auch nur ein Wort zu sagen, rannte sie ins angrenzende Zimmer, aus dem nun ein aufgeregtes Stimmengewirr zu hören war.
Während Geoff auf ihre Rückkehr wartete ‒ was nicht mehr als zwei Minuten dauerte ‒, starrte Minnie ihn mit unverhohlener Feindseligkeit an.
Als Lizzie wieder ins Zimmer kam, trug sie Mantel und Hut. In den Armen barg sie eine Pappschachtel, die ihren ganzen Besitz enthielt. Sie ging geradewegs auf Geoffrey zu und stellte sich neben ihn. Ihre offensichtliche Freude über die gelungene Flucht war mehr, als ihre Stiefmutter ertragen konnte. Sie beugte sich über den Tisch und schrie das Mädchen an: »Das wird dir noch leid tun, darauf kannst du wetten! Was soll ich jetzt mit Joe anfangen? Wer soll auf ihn aufpassen? Irgendwer muß für die Kinder arbeiten! Dein Dad wollte es nicht, der nichtsnutzige Faulpelz. Und du und deine Schwester, ihr seid genauso wie er. Ihr wart zu nichts zu gebrauchen und werdet es auch nie sein! Und ich kann mich abschuften, um euch großzuziehen. Meine Jugend habe ich mit euch Bande verschwendet. Und Joe ist dein Halbbruder! Denkst du nicht an ihn? Du und dein Dad seid für ihn genauso verantwortlich wie ich. Aber das läßt sich leicht ändern; ich brauche ihn nur in ein Heim zu geben.«
Geoff, der fühlte, wie das Mädchen neben ihm zitterte, legte eine Hand auf ihre Schulter und sagte beruhigend: »Hab keine Angst. Sie soll es nur versuchen. Wir werden uns um alles kümmern.«
Er drehte Lizzie herum und schob sie zur Tür. Als sie draußen waren, nahm er ihr die Schachtel ab und klemmte sie unter den Arm. Seine Hand lag auf Lizzies Schulter, während sie sich still von der Kate entfernten.
Sie hatten etwa eine halbe Meile zurückgelegt, als Lizzie das Schweigen brach. »Sie würde das doch nicht tun, oder? Joe ins Heim geben?«
»Nein, nein, mach dir keine Sorgen. Joe kommt nicht in ein Heim. Das lasse ich nicht zu.«
»Aber … aber Sie werden nicht da sein. Sie sind doch Soldat und nur auf Urlaub hier.«
»Richtig, ich bin nur auf Urlaub; aber mein Vater hat einigen Einfluß in der Gegend.«
Nach einer Weile sprach Lizzie wieder: »Letzte Nacht wußte ich nicht, daß Sie das waren, wegen dem schwarzen Mantel und der Kappe. Ich habe Sie aber schon ein paarmal in Ihrer Uniform gesehen. Sie sahen sehr gut aus.«
Normalerweise hätte er darauf geantwortet: ›Du solltest mich ohne Uniform sehen, dann sehe ich noch besser aus.‹ Aber dies war nicht die Zeit und der Ort für solches Geplauder, und Lizzie war auch zu jung dafür. Also sagte er: »Es wird dir gefallen bei meiner Mutter. Sie ist eine prima Frau. Sie wird dir viele Dinge beibringen ‒ gute Dinge.«
»Sie haben ein Klavier, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Ich habe es manchmal gehört, wenn ich am Tor vorüberging; nicht sehr laut, aber ich hörte die Musik.«
»Nun, du wirst es jetzt den ganzen Tag lang hören, manchmal bis spät in die Nacht. Meine Mutter spielt großartig, und sie liebt ihr Klavier.«
»Es muß herrlich sein, ein Klavier zu besitzen.«
Er schaute auf Lizzie herab. Sie blickte nach vorne, und ihr Gesichtsausdruck war so ehrfürchtig wie der Klang ihrer Stimme. Ihr braunes Haar war durch den Druck ihres Strohhütchens, das sie über die Ohren herabgezogen hatte, in Unordnung geraten. Ihr Gesicht war einfach, und sie war zu klein für ihre vierzehn Jahre. Vermutlich würde seine Mutter sie nicht nur beschäftigen, sondern sie auch ordentlich aufpäppeln.
Zu Geoffs Überraschung blieb sie plötzlich stehen und schaute ihm direkt ins Gesicht. Mit fordernder Stimme fragte sie: »Wer hat Sie dazu bewegt, mir diesen Job zu geben? Ich meine, hat Ihre Mutter schon vorher jemanden einstellen wollen? Na ja«, sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Ich will nur wissen, warum Sie das tun.«
Sie beobachtete, wie seine Augen sich schlossen, seine Lippen sich zusammenpreßten und seine Schultern sich hoben und senkten. Dann öffnete er die Augen wieder und blinzelte sie an. »Lizzie«, meinte er, »ich weiß, was du meinst, obwohl ich nicht weiß, welche deiner Fragen ich zuerst beantworten soll. Laß es mich so ausdrücken: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul; denn denk daran ‒ auch wenn er keine Zähne hat, so hat er doch vier Beine und bringt sogar noch vier Hufeisen mit.«
»Was?« Sie schaute ihn verständnislos an.
»Ach, komm jetzt!« Er ging voraus, und sie folgte ihm, und paßte ihre Schritte den seinen an.
Sie kamen gerade um eine Straßenbiegung, als auf einem Feldweg eine junge Frau zu Pferd auftauchte.
Geoff stutzte einen Moment, was seinen Schritt veränderte und Lizzie bewog, zu ihm aufzublicken. Als sie sich auf gleicher Höhe mit der Reiterin befanden, hielt er an, tippte an seine Kappe und grüßte: »Guten Morgen, Miß Brown.«
Die junge Dame antwortete knapp. »Guten Morgen.«
Geoff blickte zuerst auf Lizzie, bevor er wieder die Reiterin ansah. »Betreten bei Verfolgung verboten«, sagte er.
»Nein«, erwiderte die Dame kurz auf diese rätselhafte Feststellung.
Er tippte wieder kurz an seine Mütze und sagte, indem er sich zum Gehen wandte: »O doch, das stimmt. Guten Morgen, Miß Brown.«
Lizzie mußte sich jetzt beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie war verwirrt. Miß Brown war auf einem richtigen Weg geritten, nicht auf einem Feld oder Privatgrundstück, aber Geoffrey hatte gesagt: »Betreten bei Verfolgung verboten.« Mußte das nicht heißen ›bei Bestrafung‹? Außerdem war das Miß Bradford-Brown von The Hall gewesen, und er hatte so mit ihr geredet! Sie verstand ihn nicht, sie verstand nichts, was er tat; auch nicht, warum er ihr diesen Job besorgt hatte. Trotzdem freute sie sich darauf, bei seiner Mutter zu arbeiten, denn es war ein schönes Haus. Außerdem waren die Fultons ziemlich betucht ‒ mußten sie ja sein, wenn sie sich ein Klavier leisten konnten.
Aber merkwürdig war es schon, daß er zu Miß Bradford-Brown gesagt hatte, Betreten sei bei Verfolgung verboten, wo es doch ›bei Bestrafung‹ hieß. Er war schon ein kauziger Kerl.