Kapitel 3

»Nun, wie macht sie sich?« fragte Geoffrey.

»Das kann ich noch nicht sagen. Es ist wirklich noch zu früh dafür.«

»Aber du hast sie doch schon in der Küche arbeiten lassen. Wie ging es denn damit?«

»Na ja, ich habe festgestellt, daß ich ihr noch beibringen muß, wie man abspült ‒ daß man das Geschirr nicht nur kurz ins Wasser eintaucht und wieder herausholt. Was sie wirklich zu interessieren scheint, ist das Piano. Sie redet dauernd davon, wenn sie überhaupt redet.«

»Nun, darüber solltest du dich doch freuen. Aber was hältst du überhaupt so von ihr?«

»Oh«, lächelte Bertha und zuckte die Schultern. »Ich werde etwas aus ihr machen. Sie ist recht gelehrig. Wohin gehst du?« Sie sah ihm zu, wie er seine Uniformknöpfe schloß.

»Ich mache nur einen Spaziergang.«

»Dein Dad wird jede Minute hier sein. Sein Zug kommt um fünf an, und er braucht dann nur noch zwanzig Minuten mit dem Fahrrad.«

»Zwanzig Minuten braucht er jetzt also! Ich kann mich erinnern, daß er es früher in fünfzehn geschafft hat. Es muß am Alter liegen.« Er schnitt ihr eine Grimasse und fügte hinzu: »Am Sonntag kann man sich nie darauf verlassen, daß der Zug pünktlich ist. Manchmal verspätet er sich um eine Viertelstunde, also mach dir keine Sorgen. Jedenfalls möchte ich mir jetzt noch ein wenig die Beine vertreten.«

Als er zur Tür ging, rief sie ihm nach: »Geoff!« Er drehte sich um, und sie sagte leise: »Bleib doch in den nächsten ein, zwei Tagen in seiner Nähe. Ich meine, leiste ihm Gesellschaft, so oft du kannst. Du wirst ihm fehlen. Der Suezkanal ist nicht Catterick.«

»Keine Angst.« Er kam zu ihr zurück und berührte sie am Kinn. »Na komm, wo bleibt denn der Fulton-Schneid? Außerdem könnte ich dort ein ägyptisches Mädchen aufgabeln und mit nach Hause bringen. Was würdest du dazu sagen?«

»Ich würde sagen, wenn du sie ausgesucht hast, wird sie auch die Richtige für dich sein.«

Sie schauten sich eine Weile in die Augen, dann drehte Geoff sich um, nahm seine Kappe vom Garderobenhaken und ging. Bertha schaute ihm nach, die Hand auf den Mund gepreßt. Es stimmte nicht, was sie gesagt hatte ‒ daß das Mädchen die Richtige für ihn sei, wenn er sie ausgesucht habe.

Als Geoffrey als Junge angefangen hatte, seinem Vater über das ganze Gut zu folgen, hatte sie sich gefreut, daß er mit ihm Zusammensein wollte, bis John sie eines Tages lachend aufgeklärt hatte. »Er ist nicht hinter mir her, sondern hinter der jungen Miß auf ihrem Pony.« Sie erinnerte sich, wie sie erwidert hatte: »Glaubst du, er möchte auch ein Pony?« und zur Antwort bekam: »Nein, jetzt nicht. Ich glaube, er ist zum ersten Mal verliebt. Es ist wie Masern: Jeder hat sie einmal, aber sie gehen vorbei.«

Und es schien tatsächlich nachzulassen, als er fünfzehn wurde und nicht Janis Brown, sondern Janis Bradford-Brown hochnäsig aus ihrem Internat für die Ferienzeit nach Hause kam. Aber als er sechzehn war, ging es wieder los. Er arbeitete damals in den Ställen von Low Tarn Hall und traf sie des öfteren. Sehr oft sogar. Sein Vater hatte zu Bertha gesagt: »Mach dir keine Sorgen, es ist nur eine kindische Verliebtheit. Er weiß selbst, daß nichts dabei herauskommen kann. Er ist vernünftig.«

Vernünftig. War John vernünftig gewesen, als er hinter ihr her war? Noch als Knabe hatte er mit seinem wichtigtuerischen Bruder draußen auf den Feldern gezeltet und war später mit seinem Fahrrad fast jedes Wochenende herübergestrampelt, um sie zu sehen, obwohl er wußte, daß sie möglicherweise Andrew Cole heiraten würde, um ihrem Vater finanziell über die Runden zu helfen. Obwohl Andrew zwanzig Jahre älter war als Bertha und einen Sohn und eine Tochter hatte, die beinahe so alt waren wie sie selbst, wäre sie bereit gewesen, ihn zu heiraten … nun, nicht wirklich bereit. Wäre ihr Vater nicht so liebevoll um sie besorgt gewesen, hätte sie es wirklich getan, und ihr Vater hätte sein Land behalten können. Doch er wußte, an wem ihr Herz hing, und so hatte er, wie er es ausdrückte, lieber sein Land als seine Tochter an Cole verkauft. Und sie hatte John geheiratet, er war in ihr Haus eingezogen, und Mr. Conway vom Gut hatte ihn als Arbeiter eingestellt.

Zu jener Zeit waren die Angelegenheiten auf dem Gut ebenso verworren wie die ihres Vaters, denn es stand schlimm um Mr. Conways Finanzen. Doch seine einzige Tochter, Miß Alicia, hatte nicht soviel Glück gehabt wie Bertha: Sie hatte Ernest Bradford-Brown geheiratet, der in Low Tarn Hall Einzug hielt und seinen frisch erworbenen Reichtum mitbrachte. Wenn es je ein total gegensätzliches Ehepaar gegeben hat, so waren das Alicia und Ernest ‒ Ernest Bradford-Brown, der klassische Emporkömmling. Er hegte auch für seine Tochter große Pläne.

Als er daher die Sechzehnjährige erwischte, wie sie mit Geoff im Dunkeln spazierenging, hatte er kurzen Prozeß mit ihm gemacht; allerdings hatte Geoff ihm vorher noch deutlich gesagt, was er von ihm hielt. Geoff sprach aus, was jeder von Mr. Bradford-Brown dachte, aber nicht zu sagen wagte ‒ denn Arbeit war schwer zu finden.

Es war eine Tatsache, daß Ernest Brown sich von ganz unten heraufgearbeitet hatte, und er war der Meinung, daß jedermann die Position respektieren müsse, die er aus eigener Kraft erreicht hatte. Warum also versagte man ihm die Anerkennung?

Seine Karriere hatte begonnen, als er mit fünfzehn Jahren in der Firma Lee & Paddock eine Stelle als Gehilfe und Botenjunge erhielt, von der aus er sich in die Position eines Büroangestellten emporarbeitete. Zehn Jahre später jedoch war Ernest Brown kein Angestellter mehr, sondern Mitglied des Vorstands. Und nachdem zwei Teilhaber kurz nacheinander verstorben waren, übernahm er die Firma. Niemand wußte genau, wie er es angestellt hatte.

Jetzt, 1937, gehörte ihm nicht nur Lee & Paddock, er war auch Besitzer etlicher Häuserblocks, die sich größtenteils in den ärmeren Vierteln der umliegenden Kleinstädte befanden.

Und es gab zahlreiche Stimmen, die wußten, daß diese Häuser eine Schande seien und einige davon nicht einmal gut genug für Vieh, und daß er keinen Pfennig für die Instandhaltung verwenden würde.

Es hieß auch, daß sein Vater noch am Leben wäre und in einem der Häuser seines Sohnes wohnte, daß er schon an die achtzig Jahre alt sei und sein Sohn sich nicht um ihn kümmerte. Nun, das konnte man schließlich nicht von ihm erwarten, nachdem er in die Conway-Familie eingeheiratet hatte.

Bertha wußte, daß Ernest Bradford-Brown nach Geoffs Rausschmiß am liebsten auch John gekündigt hätte; doch er war zu abhängig von ihm, da John das Gut verwaltete, während Mr. Bradford-Brown mit Geldscheffeln beschäftigt war.

Während sie ihren Sohn den Pfad entlanggehen sah, stieg in Bertha wieder ihre heimliche Sorge empor: Das Mädchen war verlobt, also was wollte Geoff? Und was war mit ihr selbst los ‒ wie konnte sie sich solche Fragen stellen, da sie doch wußte, wie sehr Geoff nach seinem Vater geriet: Beide waren zutiefst leidenschaftliche Naturen, doch versteckte John das hinter einem stillen und ruhigen Benehmen, während Geoff sich nach außen immer gut gelaunt und zu Scherzen aufgelegt zeigte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Bertha wegen ihres Sohns beunruhigt, und sie wünschte, er wäre weit weg von ihr, viele Meilen jenseits des Meeres.

Die alte Scheune lag am hinteren Ende des Gutes. Sie stand seit langem unbenutzt und wurde einer Reparatur nicht für wert erachtet. Als das Gut noch landwirtschaftlich genutzt wurde, hatte man das Winterheu darin untergebracht. Es lagen immer noch alte Geräte darin herum, und an der Balkendecke hingen schwere Ketten an eisernen Ringen und weckten finstere Erinnerungen.

Als er diese Überbleibsel einer vergangenen Zeit zum ersten Mal gesehen hatte, hatte Geoff seinen Vater gefragt, warum man sie nicht entfernte. John hatte ihm daraufhin erzählt, daß der alte Gutsherr, Mr. Conway, es so befohlen hatte, damit die Ketten als mahnendes Zeichen für die Grausamkeit dienten, mit der Menschen oft ihresgleichen ebenso wie die Tiere behandelten.

Geoffrey hatte sich gewundert, warum Mr. Bradford-Brown diesen Befehl nicht widerrufen hatte. Vermutlich war seine Frau dagegen gewesen. Denn wenn auch jedermann wußte, wie sehr Ernest Bradford-Brown seine Umgebung beherrschte, so war doch auch bekannt, daß er sich seiner Frau gegenüber in acht nehmen mußte. Sie mochte zerbrechlich und ruhig wirken, doch sie besaß eine innere Festigkeit und einen überlegenen Spott, die herauszufordern er möglichst vermied.

Janis Bradford-Brown war Geoff zum ersten Mal aufgefallen, als er neun Jahre alt war und sie sieben. Sie hatten sich schon gelegentlich gesehen, wenn er seinen Vater begleitet hatte. Doch an diesem besonderen Tag war er damit beschäftigt gewesen, seine Kappe mit Blaubeeren von den Büschen bei der Scheune anzufüllen, als eine Stimme ihn von hinten anrief: »He, was machst du da?« Er hatte sich umgedreht und in das kecke Gesicht eines kleinen Mädchens geblickt. Obwohl er wußte, wer sie war, gab er unbeeindruckt zurück: »Wenn du deine Augen aufmachen würdest, könntest du sehen, was ich tue!« Das setzte sie für einen Moment außer Gefecht. Doch sie fand ihre Sprache schnell wieder und meinte: »Ich kenne dich. Du bist der Fulton-Junge.«

Er antwortete im selben Ton: »Und ich kenne dich auch, und du bist gar nichts Besonderes.« Wiederum war sie verwirrt. Auf der Suche nach einer passenden Antwort bewegte sie den Kopf hin und her. Da fiel ihr ein verwittertes Warnschild ins Auge, das vergessen im Gras lag. Die Schrift darauf war noch lesbar, und während sie darauf deutete, sagte sie laut, aber langsam: »Hier steht, daß das Betreten bei Verfolgung verboten ist.«

Auch Geoff hatte daraufhin das Brett betrachtet und aufreizend kühl festgestellt: »Das steht da nicht.«

»Tut es doch!«

»Tut es nicht. Du kannst wohl nicht lesen. Hier steht, das Betreten ist bei Bestrafung verboten.«

»Du bist unverschämt. Das sage ich meinem Vater! Und … und du stiehlst unsere Blaubeeren!«

Diese Anschuldigung ließ Geoff alle von seiner Mutter erteilten Mahnungen vergessen, nicht zu vorlaut und schnippisch zu sein. Denn natürlich hatte sie dabei nur sein Benehmen – Erwachsenen gegenüber gemeint; was da vor ihm stand, war jedoch keine Erwachsene, sondern ein frecher kleiner Affe. Er vergaß, was er aufgrund seiner Stellung und der seines Vaters der Tochter des Hauses schuldete, griff eine Handvoll reifer Beeren aus seiner Mütze und ging auf das Mädchen zu. »Halt deine Hände auf«, verlangte er, als er vor ihr stand. Sie hatte jetzt Angst bekommen und gehorchte. Geoff zerquetschte die Blaubeeren auf ihren Handflächen und sagte: »Gib sie deinem Vater zurück. Und weißt du, was du bist? Du bist eine freche Göre!« Damit marschierte er davon, wobei er sicher war, daß sie gleich zu schluchzen anfangen und davonrennen würde. Nachdem er sich ein paar Meter von der Scheune entfernt hatte, ohne etwas gehört zu haben, drehte er sich neugierig um. Die Kleine hatte sich niedergebeugt und wischte ihre Hände am Gras ab; das fand er für ein Mädchen ungewöhnlich, und er kehrte um. Langsam ging er zu ihr hin und fragte:

»Warum bist du nicht nach Hause gelaufen und hast es deinem Vater erzählt?«

»Wie alt bist du?« fragte sie zurück.

»Ich bin neun«, teilte er ihr mit.

»Ich bin sieben.«

Dann blickte sie auf das im Gras liegende Warnschild und fragte ruhig: »Heißt es wirklich ›Bestrafung‹?«

Er nickte bestätigend: »Ja, es heißt wirklich so.«

Daraufhin meinte sie: »Nun, dann muß ich das Nancy Bassett sagen. Sie ist unsere Waschfrau, und jedesmal, wenn ich ins Waschhaus komme, schickt sie mich weg und sagt: ›Betreten bei Verfolgung verboten.‹«

Darüber lachten sie beide, und er hatte bei sich gedacht, wie lustig ihr Lachen war: Sie lachte ganz hoch und quiekend, und Lachtränen kullerten aus ihren runden blauen Augen über ihr Gesicht.

So hatte es angefangen …

Seit einer halben Stunde wartete er nun in der Scheune. Obwohl sie wußte, um welche Zeit sie sich immer getroffen hatten, war sie noch immer nicht da. Sie war doch sicher wie alle anderen darüber im Bilde, daß er ins Ausland versetzt werden sollte. Solche Nachrichten verbreiteten sich mit Windeseile; man brauchte dazu keine Brieftaube.

Und wenn sie nicht käme? Vielleicht wäre es sogar besser so, denn es würde auf jeden Fall das Ende bedeuten. Geoff hatte sich seit einigen Tagen mit diesem Gedanken beschäftigt. Er hatte sich sogar eingeredet, daß es klüger sei, das Ende offen und unausgesprochen zu lassen. Doch seine Gefühle waren so aufgewühlt, daß er es nicht ertragen konnte zu gehen, ohne sie noch einmal zu sehen und sich mit ihr auszusprechen. Aber hatte er ihr nicht früher schon all seine Gedanken mitgeteilt? Sie wußte alles, was er dachte und fühlte, und er wußte es auch von ihr … Doch wußte er es wirklich? Er hatte in den vergangenen Monaten einsehen müssen, daß er ihre Gefühle ihm gegenüber wohl doch nicht ganz richtig eingeschätzt hatte.

Hier stand er nun, ein Sergeant, der dafür bekannt war, daß er mit seinen Untergebenen hart umsprang; hart, aber gerecht. Ja, seine Jungs mußten widerstrebend zugeben, daß er fair war. Und in der Unteroffiziersmesse war er das belebende Element in der Gesellschaft, ein echter Mann. Doch wie tief reichten diese beiden Seiten seiner Persönlichkeit? Sie gingen kaum bis unter die Haut, denn in diesem Augenblick fühlte Geoff sich buchstäblich krank, genauso wie damals, als er sechzehn war und auf Janis’ Rückkehr aus dem Internat wartete, von wo sie als junge Dame heimkehrte.

Dann kam der Ferientag, an dem er sie geküßt hatte, und danach hatte er sich nie wieder krank gefühlt, wenn er auf sie wartete ‒ bis ihr Vater Wind von der Sache bekam und die Hölle los war.

Janis wurde auf eine Schule im Süden geschickt, um ihrer Erziehung den letzten Schliff zu geben. Und das war anscheinend gelungen, denn sie trug nun das gleiche vornehme Wesen zur Schau wie ihre Mutter. Geoff hatte sie einmal auf offener Straße getroffen. Er war einfacher Soldat in der Leichten Infanterie von Durham gewesen und sie die Tochter des Herrenhauses. Er hatte sich in seiner Uniform beengt und unbeholfen gefühlt, und entsprechend hatte er sich auch benommen.

Als sie sich das nächstemal trafen, war er zwanzig gewesen und sie achtzehn. Er war inzwischen Korporal und sie hatte ihre Ausbildung beendet. Sie war schon seit einem Monat zu Hause gewesen, als er Urlaub bekommen hatte; und es war sie gewesen, die ihn aufsuchte. Sie mußte ihn beobachtet haben, denn als er an der alten Scheune vorüberging, kam sie vom Fluß her auf ihn zu. Sie waren sich beide sehr schüchtern begegnet, höflich und formell, bis er gefragt hatte: »Bist du jetzt fertig mit der Schule?« Zu seiner Überraschung antwortete sie: »Ja, Gott sei Dank!«

»Hat es dir denn nicht gefallen?«

»Gefallen!« Sie warf den Kopf zurück und lachte ihr merkwürdig hohes Lachen. »Kannst du dir vorstellen, wie es in einem Mädcheninternat zugeht?«

»Nein, bis jetzt nicht«, antwortete er nun in ungezwungenerem Ton. »Aber die Armee hegt alle möglichen Pläne für die Erziehung und Erleuchtung ihrer Soldaten. Vielleicht erwartet uns auch noch ein Mädcheninternat.«

»Ha!« stieß sie hervor und meinte dann: »Ich habe oft über dich nachgedacht in den letzten Jahren, weißt du?«

»Ich bin geschmeichelt.«

»Hast du auch an mich gedacht?«

Er hatte sie lange angeblickt und dann geantwortet: »Willst du ein Spiel mit mir spielen, Janis? Wenn ja, dann sage ich dir lieber gleich, daß ich dafür nichts übrig habe.«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Das weißt du wohl.« Er bewegte seinen Kopf langsam auf und ab, woraufhin sie ebenfalls ihr Haupt senkte und leise sagte: »Wir könnten Freunde sein.«

»Welche Art Freunde?« fragte Geoff.

»Welche Art du willst«, gab Janis zurück und sah ihm direkt in die Augen.

Sein Herz machte einen Freudensprung. Er nahm sie an der Hand und führte sie langsam zur Scheune. Dort blickten sie sich im dämmrigen Licht lange an, bevor er sie küßte; und sie erwiderte den Kuß mit einer Leidenschaft, die der seinen nicht nachstand.

Von da an hatte Geoff ein ganzes Jahr lang nur für seine Urlaubstage gelebt. Sechsunddreißig Stunden, achtundvierzig Stunden, und manche davon vergeudet, weil er Janis nicht getroffen hatte. Sie hatten ein Zeichen vereinbart: Wenn das alte Warnschild aufgerichtet am Zaun stand, sollte er am selben Tag noch zur alten Scheune kommen. Wenn sie ihn nicht treffen konnte, sollte es zur Seite gelehnt sein. Lag es im Gras, war sie nicht zu Hause.

Wann hatte er das Schild zuletzt aufgerichtet oder angelehnt gesehen? War es vor acht Monaten gewesen, oder schon vor zehn? Es mußte kurz nach seiner Beförderung zum Sergeanten gewesen sein. Bei diesem Treffen hatte er zu ihr gesagt: »Ich bin auf der Erfolgsleiter zum Offizier«, worauf sie gleichgültig geantwortet hatte: »Freu dich nicht zu früh.«

»Wenn es Krieg gibt«, erwiderte er, »wirst du auf irgendein Schlachtfeld gestellt, tust dies, tust jenes, und dann stellt sich der Erfolg fast von selbst ein.«

»Das paßt ausgezeichnet zu dem Sprichwort, das du immer zitierst: Gibt Gott das Häslein, gibt er auch das Gräslein.«

War damals Richard Bonefords Name zum ersten Mal gefallen? Geoffreys Mutter hatte ihn taktvoll darauf hingewiesen, daß Miß Janis im Country Magazin abgebildet war ‒ beim Tanz mit einem Mr. Dickie Boneford, der, so schien es, Güter in Schottland besaß und die Jagd zu Pferde betrieb.

Also sprach er Janis darauf an. »Was höre ich da von dir … und diesem Boneford-Knaben, dem bekannten Herrn Soundso?«

Darauf hatte sie geantwortet: »Und was hast du gehört? Daß wir auf dem Jagdball zusammen getanzt haben? Ich habe noch mit zehn anderen Männern getanzt, von denen vier noch zu haben sind. Was sagst du dazu?«

Er sagte nichts dazu; bis zu seinem nächsten Urlaub, als er das Schild im Gras liegend fand. Zwei Wochen später erhielt er einen Brief von Janis, den ersten Brief, den sie ihm je geschrieben hatte, adressiert an seine Kaserne. Es war ein Brief, wie man ihn in einem Roman, der am Ende des letzten Jahrhunderts spielt, finden könnte. Sie schrieb, wie sehr sie seine Freundschaft und Kameradschaft während der ganzen Jahre geschätzt hatte, doch jetzt müsse sie an ihre Zukunft denken. Ihre Eltern wünschten, daß sie heiratete, und sie teilte ihm mit, daß sie sich mit Richard Boneford verloben würde Sie wüßte, daß Geoff sie verstehen würde und daß er ihre Lage von Anfang an verstanden hätte. Sie würde immer in Freundschaft an ihn denken. Unterschrieben war der Brief nur mit ›Janis‹.

Geoffrey konnte es anfangs nicht fassen. Es war nicht nur die Tatsache, daß sie sich verlobte, sondern daß sie überhaupt einen solchen Brief an ihn schreiben konnte. Es war, als hätte man sie gelehrt, sich niemals schriftlich auf etwas festzulegen. Er hatte auf seinem Bett gesessen und auf den Brief gestarrt, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen. Ihre Beziehung war nicht so oberflächlich gewesen, wie der Brief vermuten ließ. Vor zwei Jahren hatte sie sich ihm bereitwillig hingegeben. Sie hatte ihm selbst gestanden, daß sie nur für die Zeit lebte, wenn er auf Urlaub war.

Der Brief hätte Geoffs Stolz verletzen und seine Gefühle für Janis abtöten sollen. Er hätte herausschreien sollen, daß sie nicht besser sei als eine Hure und kalt wie ein Stück Eis. Aber er sagte nichts dergleichen, nicht einmal zu sich selbst. Statt dessen seufzte er wieder und wieder ihren Namen: »Janis! Oh, Janis!« Doch gleichzeitig verachtete er sich wegen seiner Weichheit. Schließlich war er Sergeant Geoffrey Fulton, er war in der Armee, und ‒ so wahr ihm Gott helfe ‒ er würde aufsteigen! Wer zum Teufel war sie überhaupt? Nur die neureiche Tochter eines Emporkömmlings! Aber seine Selbstverachtung reichte nicht tief; sie hatte ihr Gegengewicht in den Pflichten des Soldaten, den Paraden, dem Drill, den Manövern, dem Stolz auf das Bataillon, dem Respekt der Männer; denn, wie jeder Soldat wußte: Offiziere gab es zuhauf, aber es waren die Sergeanten, die die Armee zusammenhielten.

Er verschaffte sich Erleichterung, indem er seine Männer für die Krönungsparade im Mai drillte.

Und dann, am 3. Juli, kam der Befehl: Einschiffung mit Ziel Suezkanal im Oktober. Geoffrey hatte das begrüßt, denn es bedeutete für ihn, daß er nicht in jedem Urlaub nach Hause fahren konnte.

Und doch, dies war nun sein letzter Urlaub vor der Versetzung, und seine Qual war ebenso stark wie früher. Nein, nicht ganz; denn er war von einer Bitterkeit durchdrungen, die sein Inneres härter gemacht hatte. Trotzdem ‒ er wollte sich nicht geschlagen geben, bis er ihr gesagt hatte, was er von ihr hielt.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Er gab Janis noch zehn Minuten. War sie dann noch nicht da, so würde er ohne Zögern gehen. Aber einen Brief würde er ihr schreiben, ohne falsche Rücksichtnahme, und ihr darin seine Vorstellung von Freundschaft klarmachen. Und er würde kein Blatt vor den Mund nehmen …

Plötzlich befand er sich wieder in der Gegenwart, denn Janis war gekommen. Sie stand in der Tür, und ihr Schatten zeichnete sich gegen das Zwielicht ab. Sanft sagte sie: »Das ist sehr unfair von dir, Geoff.«

»Unfair? Das sehe ich nicht so.« Seine Stimme klang spöttisch. »Du weißt vermutlich, daß ich mich auf Abschiedsurlaub befinde. Ich wollte dir nur Lebewohl sagen, denn wir werden uns wohl nicht Wiedersehen, nicht wahr?«

»Nein, vermutlich nicht … jedenfalls vorläufig nicht. Daher sehe ich keinen Sinn in unserem Treffen.«

»Warum bist du dann gekommen?«

»Weil ich wußte, daß du mich verletzen willst und keine Ruhe geben wirst, bis du es geschafft hast.«

Sie sprach noch immer in demselben weichen, klagenden Ton. Ihr ganzes Benehmen war anders, als er es von ihr kannte. Immer war sie stürmisch gewesen, schnippisch, und hatte versucht, alles, was er sagte, zu übertrumpfen, sogar seine Witze. Wütend rief er: »Hör auf damit! Diese Verlobung kann dich doch nicht so verändert haben. Hör auf mit diesem sanftmütigen Getue und sei du selbst!«

Was sie sofort tat und erwiderte: »Genau, so bist du! Das ist der Grund, warum es unmöglich war mit uns beiden. Du könntest dich niemals ändern! Du wirst immer so roh bleiben. Es war schlimm genug mit dir, bevor du zur Armee gingst, mit deiner ewigen Besserwisserei, aber dort bist du ordinär geworden! Wie hätten wir jemals Zusammenleben können? Das muß dir doch von Anfang an klar gewesen sein!«

Das Wort ›ordinär‹ versetzte ihm einen Stich. Er wollte darauf antworten, besann sich aber eines Besseren. Ruhig sagte er: »Nein, Miß Bradford-Brown, ich wußte es nicht von Anfang an, denn ich ließ mich in die Irre führen: Ich dachte, du hättest genügend Charakter, auf eigenen Füßen zu stehen und eine wirkliche Frau zu werden, eine, die ihren geldscheffelnden Vater durchschaut und ihre standesbewußte Mutter, die, so reizend sie sich gibt, keinen Augenblick lang vergißt, daß sie etwas Besseres ist. Und ich habe die Tatsache übersehen, daß du ein Erbteil von beiden mitbekommen hast: den Snobismus deiner Mutter und die Habgier deines Vaters, der trotz all seines Geldes ein ungehobelter Klotz bleibt, der nicht wahrhaben will, daß die Gesellschaft ihn nur wegen seiner Frau toleriert. Nein, ich hatte wirklich nicht verstanden ‒ bis jetzt. Aber sag mir noch eins, bevor wir auseinandergehen«, er machte eine weitausholende Geste mit dem Arm, »weiß Richard Boneford über uns Bescheid? Ich meine ‒ nun, du weißt, was ich meine.«

Mit zusammengekniffenen Lippen blickte sie ihn an. »Das würdest du nicht wagen!«

»Und ob ich das würde! Und ich würde es sogar tun, ordinärer Bauerntrampel, der ich bin. Das ist doch etwas, mit dem man im Pub herumprahlen kann: die Eroberung der Tochter vom Herrenhaus!«

Janis’ blaue Augen trübten sich, und die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie hatte Angst, daß er seine Drohung wahr machen würde; sie traute es ihm tatsächlich zu. Würde er es wirklich fertigbringen?

Ihre ganze Haltung änderte sich; sie trat näher an ihn heran und streckte ihre Hand nach seinem Arm aus. Geoff wußte, daß sie versuchen wollte, ihn herumzukriegen; das erstaunte und betrübte ihn, stieß ihn aber auch ab. In der Sekunde, als er ihre Berührung fühlte, schlug er sie hart aufs Handgelenk. Janis stieß einen Schrei aus.

Während sie ihr schmerzendes Handgelenk rieb, sagte Geoff höhnisch: »Weißt du was? Du bist keinen Pfifferling wert, laß dir das von meinem ordinären Mund sagen! Du würdest dich bereitwillig mit mir im Gras wälzen, nur damit ich meinen Mund halte, nicht wahr?«

Er schob sie beiseite und ging aus der Scheune. Er war schon ein gutes Stück entfernt, als er Janis’ Stimme hinter sich hörte: »Warte, Geoff!«

Er blieb stehen und drehte sich um. Mit vor Wut weißem Gesicht rief er: »Fahr zur Hölle, Janis!«

Lässig und hoch erhobenen Hauptes ging er weiter, bis er beim Dickicht ankam. Hier blieb er stehen, umklammerte mit beiden Händen ein junges Bäumchen und schüttelte es, bis die Wurzeln sich in der Erde bewegten.

Nun, jetzt war es vorbei, zu Ende.

Geoffreys Schritt verlangsamte sich, während er den Heimweg einschlug. Er ging jetzt nicht mehr so aufrecht, sein Rücken war leicht gekrümmt, sein Kopf nach vorne gesunken. Ordinär hatte sie gesagt. Ordinär!

Er betrat das Haus durch die Hintertür. An der Küche ließ sich noch unschwer das Bauernhaus erkennen: ein langer, heller Holztisch in der Mitte des Raumes, die offene Feuerstelle flankiert von Öfen, altersgeschwärzte Deckenbalken und ein Eichenregal voller Geschirr. Vor diesem Regal stand Lizzie und hängte Tassen an die Haken, die am untersten Regalfach angebracht waren. Sie drehte sich zu ihm um. »Hallo«, grüßte sie.

Es dauerte einen Augenblick, bis er sich zu einer Antwort aufraffte. »Hallo. Wie geht’s dir?«

»Oh, sehr gut, wirklich. Es gefällt mir hier.«

»Gut.«

»Soll … soll ich Ihnen etwas machen? Eine Tasse Tee vielleicht? Ihre Mam spielt gerade auf dem Klavier.« Das war nicht zu überhören.

»Ist mein Vater schon zu Hause?« fragte Geoff. Lizzie nickte. »Ja, und er hat mit mir geredet. Er … er sagte, ich wäre willkommen.« Sie lächelte breit.

»Das ist gut«, antwortete er, »sehr gut. Dann gehörst du jetzt zum Haus.«

Er wußte, daß er eigentlich hineingehen und seinen Vater begrüßen sollte, doch er fühlte sich dazu im Augenblick nicht in der Lage.

Er nickte Lizzie zu, ging über den Korridor zur hinteren Treppe und von dort in sein Schlafzimmer.

Dort legte er seinen Mantel ab und lockerte seine Krawatte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu diesem Wort zurück: ordinär. Seltsam, doch diese Bezeichnung kränkte ihn im Moment mehr als die Ablehnung seiner ganzen Person.

Er war immer stolz darauf gewesen, daß er nie Probleme gehabt hatte, Konversation zu machen. Er konnte sich Zitate gut merken, womit er so manchen Gesprächspartner beeindruckt hatte. Sein Englischlehrer in der Schule, der alte Pybus, hegte eine Vorliebe für die Geschichte des Altertums und hatte versucht, sie den Quadratschädeln in seiner Klasse einzuhämmern. Merkwürdigerweise hatte Geoff angefangen, sich dafür zu interessieren; und dieses Wissen stellte eine bedeutende Quelle für seine Zitate dar.

Er ging zum anderen Ende des Zimmers und öffnete eine Schranktür. Dahinter bewahrte seine Mutter die Erinnerungen an seine Schulzeit auf. Zuoberst waren seine Bücher: Die Schatzinsel, Die Entführung, David Copperfield, Der letzte Mohikaner, Die Sagen des klassischen Altertums und einige Stapel einer Jugendzeitschrift.

Er zog eines der Bücher heraus, blätterte darin und stellte es energisch wieder zurück. »Ordinär!« murmelte er.

Er suchte ein Wörterbuch und las die Erklärung des Wortes: alltäglich, primitiv, banal, ungebildet.

Ungebildet. Ja, das umfaßte auch seine eigene Interpretation. Und im stillen fügte er hinzu: Ungebildeter, versoffener Langweiler. Er mußte an Bill Titon denken, der in der Dorfkneipe beinahe wohnte. Und es gab noch mehrere Männer in der Gegend, denen er die Worte ›alltäglich‹ oder ›banal‹ zuordnen konnte. Aber primitiv? Nein, dazu mußte man schon ausgesprochen geringe Geistesgaben besitzen. Aber er wußte jetzt, was Janis gemeint hatte, als sie ihn ordinär nannte: ungebildet. Ja, das hatte sie damit sagen wollen.

Doch hatte sie ihn auch ungebildet gefunden, als sie mit ihm bei der Scheune im hohen, wirren Gras gelegen hatte? Gewiß nicht! Sie hatte ihm gesagt, wie wundervoll er sei und wie er ihr das Gefühl gebe, der Welt zu entfliehen. Das hatte sie nicht einmal, sondern wieder und wieder gesagt; und dabei hatte sie ihn ebenso leidenschaftlich geküßt wie er sie. Damals war er überzeugt gewesen, daß sie füreinander geschaffen waren. Nichts, so hatte er geglaubt, könne sie trennen. Und sie hatte ihm gesagt, daß er ihr mehr bedeutete als alle Männer, die sie kannte ‒ dieser ganze jagende, angelnde, schießwütige Landadel. Das war, wenn sie sich zufrieden in seinen Arm gekuschelt hatte. Sie kannten ihre Körper und fanden Gefallen aneinander. Aber jetzt war er ordinär … und sie war ein Flittchen! Soviel zum Thema ewige Liebe! Geoff fühlte einen Schmerz in seiner Brust, scharf und reißend wie ein Bajonettstich.

Er hörte die Stimme seiner Mutter: »Bist du oben, Geoff? Dad ist da!«

Er öffnete seine Zimmertür und rief hinunter: »Ich komme gleich!«

Fünf Minuten später betrat er mit verkniffenem Gesicht, jedoch mit geradem Rücken und erhobenem Kopf das Wohnzimmer.

»Du hast es also überstanden?« fragte er seinen Vater, der neben dem Kamin saß.

»Ja, mein Junge, und ich bin froh, daß ich wieder hier bin. Du meine Güte! Ich würde verrückt werden, wenn ich in der Stadt leben müßte. Keine Ahnung, wie Henry das ausgehalten hat!«

»O John, du weißt doch, wie gut es ihm in der Stadt gefallen hat. Er hat das Landleben gehaßt!« sagte Bertha.

»Ja, du hast wohl recht.«

Bertha wandte sich an Geoff. »Dein Dad fühlt sich schuldig, weil Henry ihm sein Geld hinterlassen hat.«

»Nein!« Lächelnd blickte Geoff seinen Vater an. »Ist es viel?«

»Ob es viel ist?« mischte sich seine Mutter wieder ein. »Wie Henry sich benommen hat, mußte man glauben, er nage am Hungertuch, obwohl er doch seine gute Stelle hatte. Er war immer so geizig. Und dabei hatte er so viel Geld auf der Bank!«

»So viel Geld?« fragte Geoff seinen Vater, und seine Mutter rief dazwischen: »Sag’s ihm, sag’s ihm!«

»Es waren zweitausendsiebenhundert Pfund!«

»Wie? Und die hat er dir vererbt?« Für einen Augenblick vergaß Geoffrey den Vorfall mit Janis. Aufgeregt setzte er sich neben seinen Vater und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das ist eine ganze Menge ‒ zweitausendsiebenhundert Pfund! Jetzt kannst du dein Fahrrad auf den Schrott werfen und dir endlich ein Auto kaufen.«

»Ein Auto?« John Fulton kniff die Augen zusammen. »Kannst du dir vorstellen, daß ich ein Auto steuere?«

»Ja, allerdings. Tragt das Geld bloß nicht auf die Bank, sondern freut euch daran und leistet euch etwas. Geht aus oder verreist!«

»Ich weiß nicht recht.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich irgendwie schuldig. Ich habe mich in letzter Zeit wenig um Henry gekümmert; er ist mir auf die Nerven gegangen. Und dennoch wußte ich, daß ich ihm etwas dafür schulde, daß er für mich gesorgt hat, als ich ein Kind war. Er hat mich aufgezogen, weißt du? Das kann man nicht vergessen. Und nur seiner Schwäche für Campingausflüge verdanke ich es, daß ich diese Frau gefunden habe und heute hier bin.« Er streckte die Hand aus und legte sie auf Berthas Finger, die den Stock umklammerten. Er fuhr fort: »Er war mir seit Jahren gram …«

»Nicht dir, sondern mir«, unterbrach ihn Bertha. »Er konnte Frauen nicht ausstehen. Er litt nicht einmal eine Putzfrau um sich. Dabei hätte er sich ohne weiteres eine leisten können.« Sie seufzte und lächelte dann. »Auf jeden Fall haben wir ein ereignisreiches Wochenende hinter uns.«

»Ja, Phil Connor hat mir davon erzählt«, erwiderte John. »Ich traf ihn auf der Straße, als ich zurückkam. Er erzählte, daß gestern etwas los gewesen wäre bei der Rice-Kate. Jemand hat versucht einzubrechen, und Mr. Kidderley handelte sich einen gebrochenen Kiefer ein, als er den Kerl abwehrte. Er ist jetzt im Krankenhaus. So etwas ist hier noch nie passiert. Was hat der Einbrecher sich wohl erhofft?«

Geoffrey sah seine Mutter fragend an. »Hast du ihm das nicht erzählt?«

»Nein, diesen Teil nicht.«

»Wovon redet ihr?« fragte John. »Verheimlicht ihr mir etwas? Sollte ich da vielleicht etwas wissen?«

Bertha schürzte die Lippen und deutete mit dem Daumen auf Geoffrey. »Dieser Soldat hier war der Eindringling. Kidderly hat das Mädchen belästigt und es schrie um Hilfe.«

John betrachtete seinen Sohn nachdenklich. »Hat er dich erkannt?« fragte er.

»Nein.«

»Aber er hat deine Uniform gesehen.«

»Ich trug deinen alten Regenmantel und deinen Hut.«

»Stell dir vor«, warf Bertha ein, »er hatte sich vorgenommen, Ted Honeysett zu schnappen.«

»Ach ‒ wozu das denn?«

»Ich hatte keinen bestimmten Grund. Wahrscheinlich war mir einfach langweilig. Vermutlich fehlen mir die Manöver in der Armee. Ich wollte wohl nur sehen, ob ich es schaffe. Du hast doch immer gesagt, er sei so schlau wie zehn Wiesel.«

»Und, hast du ihn erwischt?« fragte sein Vater lächelnd. Geoff schüttelte den Kopf. »Nein, er hat mich erwischt. Er muß mich die ganze Zeit beobachtet haben, denn er war es, der den Arzt anrief. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte der Kerl dort liegenbleiben können. Er war schließlich nicht tot, also hätte er es schon überstanden. Doch Ted hat telefoniert und den barmherzigen Samariter gespielt.«

»Ted ist ganz in Ordnung. Er ist zwar ein Gauner, wenn es um Fisch und Geflügel geht ‒ um Schonzeiten kümmert er sich nicht. Doch unter der Schale steckt ein guter Kern. Wir kommen gut miteinander aus. Und ich möchte wetten, daß er wußte, daß nicht ich in dem Mantel gesteckt habe. Bist du stehengeblieben?«

»Ja, kurz.«

»Nun, er wird sich ganz schön ins Fäustchen gelacht haben. Kaum ist man weg, geschehen die interessantesten Dinge. Aber, wie es so schön auf den Sirup-Dosen heißt: ›Aus der Stärke entsteht die Süße‹, so kommt auch aus dem Schlechten etwas Gutes, denn das Mädel gefällt mir. Sie paßt zu uns.« Er zuckte die Schultern. »Allerdings weiß ich nicht, wie sie reagieren wird, wenn sie herausfindet, daß sie unter das Kommando eines weiblichen Unteroffiziers geraten ist!«

»Ach, du!« Bertha stupste ihn mit ihrem Stock an der Wade. »Ich habe nie im Leben jemanden kommandiert! Belehrt, ja ‒ aber niemals kommandiert! Ich weiß also nicht, nach wem dein Sohn geraten ist.« Sie sah Geoff an und fügte hinzu: »Weißt du, es ist merkwürdig, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie du andere Leute anbrüllst, noch dazu erwachsene Männer, von denen manche bestimmt ganz schön widerborstig sind.«

»Warte nur, bis er Oberfeldwebel ist.« John nickte seinem Sohn zu, und dieser antwortete mit ironisch hochgezogener Augenbraue: »Ja, wartet nur; dann geht’s erst richtig los!« Er drehte sich um und fügte hinzu: »Ich gehe in die Küche und suche mir etwas Eßbares. Nein, bleib sitzen«, er streckte abwehrend die Hand gegen seine Mutter aus, »ich bin schon ein großer Junge und kann das alleine!«

Als er zur Tür hinaus war, hielt er inne. Jawohl, dachte er, dann geht’s los. Oberfeldwebel ‒ ich werde es schaffen, bei Gott! Ich werde es ihr zeigen … Ungebildet!

Im Paradeschritt marschierte er über den Flur, stieß die Küchentür auf und hätte beinahe Lizzie umgeworfen. Schnell streckte er die Arme aus und fing sie auf, bevor sie fallen konnte. Er hielt sie einen Moment fest und sah ihr ins Gesicht. »Das ist das zweite Mal innerhalb von zwei Abenden, daß du dich von mir retten läßt«, sagte er zu ihr. »Das scheint zur Gewohnheit zu werden.«

Lizzie strich ihr Haar aus der Stirn und schaute ihn an. »Ja, nicht wahr? Beim dritten Mal erwischt es einen, sagt man.«

Das war ein Spruch unter Kindern, und zwar ein ziemlich rätselhafter, denn was mußte beim ersten- und zweiten Mal geschehen, damit es einen beim dritten Mal erwischte? Und was passierte, wenn es geschah? Ihr kindlicher Verstand hatte noch nie so weit gedacht, daher ließ sie ihn mit einem Lächeln stehen und ging ins Wohnzimmer, während Geoff die Küche betrat und vor sich hin sagte: »Beim dritten Mal erwischt es einen.«