Wie Meg zu sagen pflegte: Ereignisse kommen immer zu dritt. Da war seit vier Tagen der arme Kerl oben in Geoffs Zimmer, der nicht wußte, wo er eigentlich war. Gehirnerschütterung, meinte der Arzt. Lizzie hatte eine Erkältung, die ihr die Brust zu zerreißen schien. Dann waren da die feine Dame und er, der große Lärmmacher, vom Gutshaus. Sie waren zweimal hiergewesen, und beide waren nach oben gegangen mit einem Gesichtsausdruck, als würden sie etwas Unangenehmes riechen. Und heute früh war sie auch noch dagewesen ‒ Bonefords Frau. Es war ziemlich mühsam gewesen, sie ausfindig zu machen. Sie war weggefahren, ohne ihrem Ehemann oder ihren Eltern mitzuteilen, wo sie sich aufhielt. Man hatte sie erst letzte Nacht aufgestöbert. Sie war recht höflich gewesen, das mußte selbst Meg zugeben, sogar etwas bedrückt. Meg wollte Richard gerade waschen, als die Tür sich öffnete und John verkündete: »Meg, Mrs. Boneford ist hier.«
Richard war an diesem Morgen bei klarem Bewußtsein und wieder ganz richtig im Kopf. Er hatte ganz vernünftig mit Meg gesprochen, hatte sich vielmals für die Mühe entschuldigt, die er ihr bereitet hatte, und gesagt, daß es ihm besser ginge und er nach Hause wolle. Dann war die Tür aufgegangen und er sah seine Frau. Im selben Augenblick wurde er verschlossen wie eine Auster. Janis hatte ihm auch nicht viel zu sagen gehabt, zumindest nicht, solange Meg im Zimmer war. Sie hatte sich nicht wie eine besorgte Ehefrau benommen, sondern war am Fußende des Bettes stehengeblieben und hatte höflich gefragt: »Wie geht es dir?« Er hatte nicht geantwortet, sondern sie nur mit seinem guten Auge fixiert, diesem Auge, das so viel ausdrücken konnte, wenn man nur darauf achtete.
Meg hatte sich unbehaglich gefühlt ‒ ein Gefühl, das ihr völlig neu war ‒ und hatte beim Hinausgehen irgend etwas Albernes dahergeplappert, wie: »Ich komme in ein paar Minuten wieder, dann machen wir weiter.« Dann ließ sie die beiden allein. Sie war jedoch kaum die Treppe hinuntergegangen, als seine Frau hinter ihr herkam und fragte: »Ist Mrs. Fulton zu Hause?« Und Meg hatte geantwortet: »Sie ist oben in ihrem Zimmer. Sie hat schlechte Nachrichten bekommen.«
»Das tut mir leid«, hatte Janis gesagt. »Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«
»Nun, sie weiß nicht, wie schlimm es ist. Aber man hat ihr geschrieben, daß ihr Sohn Geoffrey verwundet wurde.«
»Geoffrey ist verwundet?«
»Ja. Dabei hat sie erst kürzlich einen Brief von ihm erhalten. Ohne Datum, natürlich. Sie können sich also vorstellen, daß sie ziemlich aufgeregt ist. John ist bei ihr.«
»Ja, natürlich. Das tut mir leid«, hatte sie gesagt und war zur Tür gegangen.
»Wenn Sie heute nachmittag wiederkommen, können Sie vielleicht mit ihr sprechen«, hatte Meg noch herausgebracht. Janis hatte sich an der Tür umgedreht und geantwortet: »Ich … ich komme heute nachmittag wahrscheinlich nicht. Aber sagen Sie Mrs. Fulton, daß mir das mit ihrem Sohn leid tut. Sehr leid.«
»Ja, ich sag’s ihr.«
Und mm stand Meg in der Küche und führte Selbstgespräche, während sie eine Kanne Tee zubereitete. »Zwischen den beiden stimmt was nicht. Wahrscheinlich hat er nicht mal mit ihr gesprochen. Machte jedenfalls nicht den Eindruck. Armer Kerl, er tut mir so leid. Warum können die nicht braune Haut transplantieren statt dieses rosaroten Zeugs? Wo haben sie das überhaupt her? Daß die Haut so straff über die Knochen gezogen wird, wäre ja gar nicht so schlimm, aber diese Farbe! So rosa wie ein Babypopo.«
Eine Woche später gingen Lizzie beinahe dieselben Gedanken durch den Kopf, als sie Richard im Wohnzimmer gegenübersaß.
Seine Uniform war inzwischen gereinigt und gebügelt. Sein verrenkter Knöchel war fast wieder in Ordnung. Er hatte seinen Stock, der zwischen ihm und Bertha eine etwas gezwungene Heiterkeit hervorgerufen hatte, an den Sessel gelehnt.
Lizzie und Richard saßen seit einer Viertelstunde allein im Wohnzimmer. Ihr Unterhaltung drehte sich in erster Linie um das Wetter, das Schnee verhieß. »Wie lange werden Sie bis nach Hause brauchen, falls es nicht zu stark schneit?« fragte Lizzie.
»Na ja, wenn ich Mattys Fahrweise bedenke, noch dazu wenn er hinter dem Steuer eines Armeefahrzeugs sitzt, dann sollten wir es wohl in vier Stunden schaffen.«
Sie hatten sich zu beiden Seiten des Kamins plaziert und sahen sich jetzt über die freie Fläche hinweg an. Lizzie beugte sich vor und schob mit dem Schürhaken ein Holzscheit in die rotglühende Mitte des Feuers. Leise fragte sie: »Warum gehen Sie nicht ins Gutshaus zurück?«
Er drehte ihr die gute Seite seines Gesichts zu, wobei sein Lid zuckte. Dann sagte er ruhig: »Um diese Frage zu beantworten, müßte ich Ihnen erzählen, warum ich versucht habe, meinem Leben ein Ende zu setzen.« Er berührte seine entstellte Wange und fuhr fort: »Ob Sie es glauben oder nicht, es war nicht nur deswegen; im Krankenhaus gibt es Männer, die noch schlimmer dran sind, viel schlimmer. Es war auch nicht aus dem Grund, daß meine Frau meinen Anblick nicht erträgt, obwohl ich daran am Anfang fast zerbrochen bin. Es war …«, er stieß einen tiefen Atemzug aus und befeuchtete die Lippen mit der Zunge, ehe er fortfuhr: »Es war, weil ich sie mit einem meiner Freunde ertappt habe. Ich hatte schon seit einiger Zeit den Verdacht, daß es da jemanden gäbe, aber als ich herausfand, daß er es war …«Er schwieg abrupt, erhob sich aus dem Sessel und stellte sich ans Feuer. Er blickte einige Sekunden in die Flammen, dann drehte er sich um, ergriff seinen Stock und sah auf Lizzie nieder. »Ich war am Tag zuvor noch mit ihm zusammen. Wir haben etwas getrunken und uns lange unterhalten. Und dann ‒ fand ich ihn da mit ihr. Es war nur durch Zufall. Er und ich hatten darüber gesprochen, gemeinsam auf Jagd zu gehen; und plötzlich fühlte ich mich so niedergedrückt, daß ich beschloß, heimzufahren … in mein eigenes Zuhause, und da ich wußte, daß er bald Urlaub bekäme, wollte ich ihn bitten, mitzukommen. Ich … ich fuhr nach Durham, wo er einquartiert ist. Ich war schon ein paarmal dort gewesen. Ich habe ihn Janis vorgestellt. Als ich anklopfte und seine Hauswirtin die Tür öffnete, starrte sie mich mit offenem Mund an und rief: ›O mein Gott!‹ Dann stotterte sie: ›Er ist nicht da, er ist nicht da.‹ Sie wollte die Tür schließen, aber ich stellte meinen Fuß dazwischen. Durch den Türspalt sah ich über dem Sessel in der Diele einen grünen Wettermantel mit pelzgefütterter Kapuze liegen. Ein elegantes Stück. Ich hatte es Janis in der ersten Zeit unserer Ehe gekauft.«
Richard hielt inne, und Lizzie sah den Schweiß in kleinen Rinnsalen über seine narbige Haut fließen. Dann fuhr er fort: »Ich drückte die Tür auf und warf dabei fast die arme Frau um. Dann raste ich die Treppe hinauf. Hinter der zweiten Tür, die ich öffnete, sah ich die beiden; wenn ich dazu imstande gewesen wäre, hätte ich nicht ihn, sondern sie erwürgt. Aber seit ich das habe«, dabei berührte er sein Gesicht mit dem Finger, »fühle ich keine Courage mehr in mir, keine Stärke. Ich habe all meine Energie verloren. Was also tat ich? Ich drehte mich einfach um und ging aus dem Zimmer. Den Rest der Geschichte kennen Sie.« Er drehte ihr den Rücken zu und legte eine Hand auf den Kaminsims, während er seine Rede beschloß. »Ich fühlte mich bis ins Innerste gedemütigt; ich fühlte mich nicht mehr als Mann. Ich sehe nicht wie ein Mann aus, und ich wurde nicht mehr als Mann anerkannt. Ich sagte mir, ich solle sie nicht anklagen, denn alles, was ich von ihr wollte, waren Trost, Verständnis, die mich so lange aufrechthalten sollten, bis das Wunder geschieht und ich wieder wie ein menschliches Wesen aussehe, obwohl ich weiß, daß das in meinem Fall niemals Wirklichkeit wird.«
»Oh, Mr. Richard!« Lizzie erhob sich und ergriff seine Hand. »Sie werden es schaffen, das weiß ich. Nach dem, was geschahen ist, werden Sie es schaffen. Halten Sie durch! Wann müssen Sie wieder ins Krankenhaus?«
»In zwei Wochen.«
»Das ist doch schon wieder ein Schritt nach vorne.«
»Ich will nicht hingehen. Ich habe beschlossen, daß es reicht.«
»Oh, Richard, bitte! Die Ärzte vollbringen heutzutage Wunder. Halten Sie durch. Letzte Woche sagten Sie, Sie schuldeten mir Ihr Leben. Ich will, daß Sie mich jetzt dafür bezahlen: Versprechen Sie, daß Sie die Behandlung fortsetzen lassen … tun Sie das?«
Richard blickte sie kurze Zeit schweigend an, dann verzog sich sein Mund zu einem schiefen Lächeln, und er sagte:
»Ja, in Ordnung, Lizzie. Aber um etwas möchte ich Sie bitten: Würden Sie mich einmal mit Mrs. Fulton und Meg zu Hause besuchen? Meine Eltern würden Sie alle gerne kennenlernen; Sie besonders. Übrigens wissen sie nichts von dieser Geschichte, aber ich werde ihnen alles erzählen, wenn ich dort bin, und auch, daß ich die Scheidung einreichen werde.«
»Die Scheidung?«
»Ja. Ich habe es Janis gesagt. Sie hat nichts dagegen, wohl aber ihre Eltern.« Sein Lächeln wurde grimmig. »Der Skandal, verstehen Sie, der Skandal. Wissen Sie, was ihre Mutter mich gestern fragte? Sie fragte, ob ich die Schuld auf mich nehmen würde. Und sie war sehr erstaunt, als ich sagte, das würde ich nicht tun. ›Du benimmst dich nicht wie ein Gentleman‹, sagte sie. Ha! Ich antwortete: ›Wenn Du Deiner Tochter beigebracht hättest, sich wie eine Lady zu benehmen, hätte ich es vielleicht getan.‹ Was ihren Vater angeht, so kann Meg dir schildern, wie er an die Decke ging. Ich mußte ihn daran erinnern, wo er sich befindet.«
»Sie wollen sich also wirklich scheiden lassen?«
»O ja! Sehen Sie, Bernard war nicht ihr erster Liebhaber, soweit ich weiß, und auch nicht der zweite oder dritte. Ich habe sogar Gerüchte gehört, daß Janis eine lange Affäre mit dem Sohn dieses Hauses hatte.«
Während des folgenden Schweigens, dachte Lizzie: ›Betreten bei Verfolgung verboten.‹
Sie ließ Richards Hand los, die sie die ganze Zeit festgehalten hatte. Er legte den Kopf auf die Seite und sagte weich: »Ich hoffe, daß Sie und Andrew sehr glücklich werden. Et ist wirklich ein guter Kerl. Als ob er nicht zur Familie gehören würde. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, daß jemand mit Ihnen nicht glücklich würde.«
Lizzie errötete. »Ich bin kein Engel. Ich kann sehr aufbrausend sein. Sie haben das noch nicht bemerkt, aber fragen Sie Mam.«
Richard lächelte, dann meinte er ernst: »Ich möchte Ihnen etwas sagen, Lizzie. Es mag im Augenblick albern und sinnlos erscheinen, aber dieser Krieg kann noch lange dauern und viel kann geschehen. Ich will, daß Sie mir versprechen, daß Sie sich an mich wenden, wann immer Sie einen Freund brauchen. Werden Sie das tun?«
Lizzie starrte ihn an. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals in eine so schlimme Situation zu geraten und so dringend einen Freund zu brauchen, daß sie ausgerechnet ihn aufsuchen würde. Trotzdem wäre er sicher ein guter Freund, ein wundervoller Freund; er war ein so netter Mann. »Ich verspreche es, Richard«, sagte sie leise.
Es war ein Versprechen, das leicht gegeben werden konnte, denn sobald er einmal auf seinen Gütern in Schottland war, würde sie ihn wahrscheinlich nie Wiedersehen. Nachdem er sich von seiner Frau scheiden ließ, hatte er keinen Grund mehr, hierherzukommen. Er hatte Lizzie zwar gebeten, ihn mit Mam und Meg zu besuchen. Doch das mochte ebensogut aus Höflichkeit geschehen sein, um sich für die ihm erwiesene Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen. Irgendwie bedauerte sie das, denn sie dachte, sie könnte ihm auf die eine oder andere Art behilflich sein. Er hatte selbst gesagt, daß er gut mit ihr reden könne, und wie Meg immer meinte, konnte sie fast jedermann zum Erzählen bringen. Lizzie konnte nicht nur plaudern, sondern auch zuhören.
Plötzlich sagte Richard: »Da ist der Wagen. Auf Wiedersehen, Lizzie. Und vielen Dank. Ich … ich werde mich jetzt von den anderen verabschieden. Begleiten Sie mich bitte nicht zur Tür«, fügte er hinzu. »Bleiben Sie, wo Sie sind.« Damit wandte er sich abrupt von ihr ab.
Lizzie starrte immer noch auf die Tür, als diese sich längst hinter ihm geschlossen hatte. Sie stellte fest, daß sie es bedauerte, daß er nicht mehr da war.