Kapitel 1

Mai 1943. Viel war geschehen ‒ sowohl im Inland als im Ausland, und auch im Hause Fulton. Im März waren viele Schiffe versenkt worden. Das ganze Land rang nach Atem. Alle hofften, die Amerikaner würden in das Kriegsgeschehen eingreifen und eine Wende herbeiführen.

An diesem 27. Mai, einem Donnerstag, saß Meg am Küchentisch, der zum Tee gedeckt war, und schaute durch einen Tränenschleier auf die vier anderen Anwesenden: Bertha, John, Lizzie und Geoffrey. Lizzie streckte die Hand aus und berührte Meg. »Wein doch nicht, Meg«, sagte sie, während Bertha einwarf: »Trink noch einen starken Tee. So, so.«

Meg wischte sich flüchtig mit einem großen Taschentuch übers Gesicht und meinte: »Nein, danke, Bertha; mir ist, als hätte ich schon den ganzen Tag lang Tee getrunken. Alle waren freundlich«, schluchzte sie. »So was habt ihr noch nie gesehen. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen als den Marktplatz an jenem Donnerstag, 1941. Aber heute liegt unsere ganze Straße in Trümmern. Mein Haus steht nicht mehr, und alle meine Habseligkeiten sind verloren. Andererseits, was macht es? All die Toten und die vielen Verletzten! Ich habe nur dagestanden und geweint. Ich habe geheult wie noch nie in meinem Leben. Als ich die Zwillinge verlor, nachdem das Boot kenterte, habe ich geweint. Und als ich meinen Mann verloren habe, habe ich auch geweint. Aber heute habe ich anders geweint. Wie gut, daß ich die Fotos mitgenommen habe. Das ist alles, was mir von ihnen geblieben ist.«

John erhob sich und legte eine Hand auf Megs Schulter. »Du hast dein Haus verloren, Meg«, sagte er, »aber du sollst wissen, daß du hier ein Heim hast, so lange du bei uns bleiben möchtest. Stimmt’s, Bertha?« Er blickte über den Tisch, und Bertha nickte bestätigend. »Ganz gewiß, Meg. Und das weißt du auch, nicht wahr?«

Wieder trocknete Meg ihr Gesicht mit dem Taschentuch. »Das ist nett von euch, sehr nett, John ‒ Bertha, aber … aber ich werde alt und möchte niemandem zur Last fallen. Und die Beamten haben mir gesagt, daß sie mir helfen werden, ein gutes Unterkommen zu finden, wenn … wenn ich zurückgehe.« Sie rang sich ein Lächeln ab und fuhr fort: »Es wird mir schwerfallen, wieder in der Stadt zu wohnen, nachdem ich hier auf dem Land gelebt habe. Ich habe mich irgendwie dran gewöhnt. Wenn man sich vorstellt, daß die Leute meinen, auf dem Land wäre es langweilig! Ich habe hier mehr erlebt als in der Stadt.«

»Oh, bei uns passiert allerhand. Damit können wir schon dienen.« John hatte sich wieder hingesetzt und grinste seinem Sohn zu. »Ja, hier ist eine Menge los, nicht wahr, Geoff?«

Geoff drehte den Kopf zur Seite und lächelte knapp. »Ja, Ereignisse aller Art: Ringelreihen, Volkstänze, Saufereien und dergleichen.« Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. John beobachtete ihn und dachte bei sich, wie verändert sein Sohn war. Er hatte geglaubt, daß Geoffs Kanten und Ecken sich durch den neuen Rang, den er innehatte, abgeschliffen hätten. Statt dessen zeigte er die meiste Zeit ein verdrießliches Gesicht, während er früher für einen Scherz immer zu haben war. Jetzt waren seine Antworten weder witzig noch humorvoll, sondern meist von einer nichtssagenden Art ‒ wie gerade eben. Vielleicht hatten seine Verwundungen sein Wesen beeinflußt, obwohl er doch Glück gehabt hatte, so gut davongekommen zu sein. Natürlich würde er für den Rest seines Lebens hinken, und sein rechter Unterarm war kaum zu gebrauchen. Trotzdem: Er lebte noch und sollte dankbar dafür sein.

Geoff war jetzt seit über zwei Monaten zu Hause, hatte aber noch keine Ruhe gefunden. Es war, als wäre sein Geist schlimmer verletzt als sein Körper.

John sah, wie Geoff zur Hintertür ging und seine Kappe von dem hölzernen Garderobenständer nahm. Obwohl seine Dienstzeit beendet war, trug er immer noch seine Leutnantsuniform; sogar wenn er nur einen Waldspaziergang unternehmen wollte, putzte er sich heraus. John hatte sich nach der Heimkehr seines Sohnes gesehnt, aber nun fand er, daß im Haus eine ständige Anspannung herrschte, seit Geoff wieder da war. Er war nicht mehr derselbe, als der, der zur Armee gegangen war. Was immer er auch durchgemacht hatte, es hatte ihn völlig verändert…

Geoff ging die Straße zwischen den beiden Wäldchen entlang. Der Takt seiner Schritte wurde dadurch bestimmt, daß er sein linkes Bein stark vom Boden abheben mußte, bevor er es wieder niedersetzen und mit dem Körpergewicht belasten konnte. Mit einem Gehstock wäre es leichter gewesen, doch er lehnte dieses Hilfsmittel ab. Es reichte, so meinte er, daß seine Mutter einen Stock benutzen mußte. Geoffs Schultern hingen leicht nach vorne, und sein Kopf war gesenkt. Wenn er so ging, sah es aus, als wäre er geschrumpft.

Wieder und wieder hatte er sich in den vergangenen Wochen gefragt, was er nun anfangen solle. Sich einen Schreibtischjob suchen und ein Bürohengst werden? Er blickte auf seinen linken Arm. Dieser schwang beim Gehen nicht im gleichen Rhythmus wie der rechte. Vermutlich sollte er dankbar sein, daß er diesen Arm überhaupt noch hatte, und daß an seiner Stelle keine Blechröhre mit einem Eisenhaken am Ende saß. Es gab eine Menge Dinge, für die er dankbar sein sollte, doch er schaffte es einfach nicht. Dort draußen, wo er sich wichtig gefühlt hatte, war alles so anders gewesen. Er war befördert worden und hätte es noch weiterbringen können. Man hatte ihn anerkannt und als erstklassige Führungspersönlichkeit akzeptiert. Er hatte sich ein dickes Fell zugelegt, und was er sich tief im Innersten noch an Gefühl und Sensibilität bewahrt hatte, war zerstört worden. Es starb zu Weihnachten in Sidi Barrani, nachdem sie die Italiener durch Bardia, Tobruk, Dema und Benghazi bis Agheila getrieben hatten. Natürlich mußten sie sich dann wieder schnellstens aus Tobruk zurückziehen, nachdem die verfluchten Deutschen sich eingemischt hatten. Trotzdem kamen sie gegen Ende 1941 wieder zurück und gelangten bis in die Nähe von Agheila. Es war verdammt brenzlig gewesen, aber er hatte bis dahin nicht einen Kratzer abbekommen. Als er seine Männer um sich herum sterben sah, selbst jedoch nur von einer Kugel am Helm gestreift wurde, gelangte er zu der Überzeugung, ihm persönlich könne nichts geschehen. Dann jedoch schlug das Pendel in die andere Richtung aus, und der deutsch-italienische Gegenangriff warf sie zurück bis zur Ghaza-Linie außerhalb von Tobruk. Plötzlich hatte er seinen Schutzengel verloren. Es war nicht nur die Tatsache, daß es ihn auf seiner linken Seite voll erwischt hatte, denn das bemerkte er zuerst gar nicht, während er weiterkroch, die Namen seiner Männer schreiend. Doch dann war die Granate explodiert und hatte alle niedergemäht. Auch seinen Sergeanten, Jim Rolston, und den jungen Hai Fairbanks. Er hatte Fairbanks erst vor einigen Wochen zum Korporal ernannt. Und Bodger Ripton, den fähigsten Schieber im Bataillon. Was immer man brauchte, Bodger besorgte es und wurde fast jedesmal dabei erwischt. Und Spud Winter, der haarsträubende Geschichten über seine Mutter erzählte, die, wenn man seine Worte für wahr nahm, die größte Hure von Dublin gewesen sein mußte. Spud war seit Kriegsbeginn bei ihm gewesen, und er hatte ihm gefehlt, nachdem er befördert worden war. Doch wenn er ihm über den Weg lief, war er immer noch der alte: »Sarge, ich meine, Sir, ich meine … nun, es war so, Sir. Sehen Sie, meine Mutter …«

O Spud, Spud! Und dann Harry Cole. Captain Harry Cole. Er war gut zu Geoff gewesen, jawohl. Das war das einzige Wort, mit dem man ihn beschreiben konnte: gut. Er hatte ihn in der Offiziersmesse willkommen geheißen. Harry hatte Geoff nie wie manche andere spüren lassen, daß er aus der Mannschaft aufgestiegen war, nicht Harry. Harry kam von ganz oben. Sein Vater war ein immens wichtiger Mann, und Harry war der einzige Sohn. Und dann lag er da ohne Gesicht, ohne Schultern, ohne Arme; nur noch ein blutiger Haufen. Bloß seine Beine waren noch ganz, und die lagen quer über Spud.

Geoff hatte auf der Seite gelegen, im Begriff, langsam wegzudämmern, doch kurz bevor sein Bewußtsein völlig schwand, hatte er sich an die Überbleibsel von Harry und Spud geklammert. Dann wußte er nichts mehr, bis eine Stimme ihm zurief: »Hallo da! Wie geht’s?« und er in ein Gesicht über einem weißen Kittel blickte. Und anstatt zu sagen: »Danke, Sir« hatte er gebrüllt und geflucht, bis seine Stimme in seinem Kopf ein einziger Schrei war. Danach wurde alles still. Und so war es geblieben. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er jetzt in seinen Träumen schrie und dann beim Erwachen wimmernd die Namen seiner Kameraden hersagte.

Er drehte sich plötzlich um, um zum Haus zurückzukehren. Da sah er Lizzie herauskommen. Sie trug ein blaubedrucktes Kleid mit einem kurzen weißen Wollmantel darüber. Ihre Füße steckten in kittfarbenen Sandalen, und auf ihrem Kopf saß ein heller Strohhut.

Sie blieb stehen, als sie ihn erreicht hatte. Lizzie sprach zuerst. »Hast du deinen Spaziergang genossen?«

»Ja, ja«, nickte er und schwieg dann einige Sekunden. Dann sagte er: »Weißt du, ich kann es noch immer nicht fassen. Ich sehe immer noch dieses spillerige, nichtssagende Geschöpf vor mir, das ich damals ins Haus gebracht habe. Wie lange ist das her?« Er beugte den Kopf zu ihr herab und sah sie fragend an.

»Nun, das solltest du doch wissen. Das war 1937, und jetzt haben wir 1943.«

»Dann bist du jetzt neunzehn?« Geoff schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich werde bald zwanzig.«

Wieder schwieg Geoff. Lizzie war schön. Sie machte auf ihn einen Eindruck von Frische, den er nicht in Worte fassen konnte. Es waren nicht nur ihre Augen oder ihre Haut, sondern ihr ganzes Wesen. Und sie würde Andrew Bradford-Brown heiraten.

Geoff hatte vor einiger Zeit herausgefunden, daß er wenig Lust zum Reden hatte, doch wenn er sprach, dachte er nicht darüber nach ‒ oder konnte nicht darüber nachdenken ‒, was er sagte. Er sprach einfach aus, was ihm in den Sinn kam. »Bist du sicher, daß du Andrew heiraten willst?«

Lizzie starrte ihn einen Augenblick lang an. Dies war das erstemal, daß er sie auf die Heirat angesprochen hatte. Er schien das Thema bisher absichtlich gemieden zu haben. Sogar als Andrew einige Male auf der Wohnzimmer-Couch übernachtet hatte, hatte Geoff nichts dazu gesagt. Als Lizzie das später Andrew gegenüber erwähnte und hinzufügte, daß Geoff dem Bild von dem Mann, der sie vor Jahren ins Haus geholt hatte, nicht mehr entsprach, hatte Andrew sie zurechtgewiesen. Sie müsse bedenken, was Geoff möglicherweise durchgemacht habe, und es sei kein Wunder, wenn solche Erlebnisse einen Menschen veränderten. Er führte Richard als Beispiel an. Nach Andrews Meinung war Richard noch viel schlechter dran, der selbst gesagt hatte: »Man kann der Welt nur ein mutiges Gesicht zeigen, wenn man überhaupt ein Gesicht hat, das man ihr zeigen kann.«

Als Lizzie jetzt Geoffs Frage beantwortete, klang ihre Stimme barsch. »Natürlich werde ich Andrew heiraten, das weißt du doch. Warum fragst du nach solchen Selbstverständlichkeiten?«

»Weil er ein Bradford-Brown ist. Sie sind nicht zuverlässig, weißt du, keiner von denen. Schau nur, wie seine Familie ihm die Tür verschließt; und doch ist er immer noch einer von ihnen. Was deine Eltern dir einpflanzen, wirst du niemals los.«

»Andrew ist nicht wie seine Mutter, sein Vater oder seine Schwester!« Bei den letzten Worten warf sie energisch den Kopf zurück.

Geoffs Haut war normalerweise mißfarben, denn seine afrikanische Sonnenbräune war noch nicht geschwunden; doch gelegentlich, wie auch jetzt, wich diese Farbe einem fahlen Grau. Lizzie wußte über Geoffs voreheliche Beziehung zu Richards Frau Bescheid; ganz genau sogar, denn sie war darüber nicht von Bertha oder John, auch nicht von Meg unterrichtet worden, sondern von Nancy Basset, die früher einmal Waschfrau im Herrenhaus gewesen war. Nancy, eine alte Klatschtante, half jetzt in einer Kantine in Durham aus. Vielleicht hätte Lizzie nicht zuhören sollen, als Nancy ihr Wissen über die Bewohner von The Hall zum Besten gab; sie hatte es aber doch getan.

Von Nancy hatte sie von den Auftritten zwischen dem Herrn und der Herrin des Hauses erfahren, und daß Mrs. Boneford es nicht ertragen konnte, ihren Mann anzusehen, und von der jahrelangen Beziehung zwischen Geoff und Janis.

Als Geoff heimgekehrt war, hatte Lizzie ihn bedauert: Es war ein ähnliches Gefühl, wie sie es auch für Richard empfand. Als jedoch die Zeit verging und er sich als übellaunig und schwierig erwiesen hatte, war dieses Gefühl verebbt. Sie stellte sogar fest, daß sie ihn nicht mochte, was auch aus ihrer Stimme herausklang, als sie jetzt hinzufügte: »Natürlich weißt du mehr über sie als ich, aber man redet über das, was man kennt, und ich habe Andrew nur als gut und freundlich und …«, sie stockte, »als Gentleman kennengelernt.«

Sie blickten sich einige Sekunden lang feindselig an, dann entspannte sich Geoffs Miene und er lachte kurz auf. »So was nennt man einen Vergleich anstellen, nicht wahr? Du willst damit sagen, daß ich diese Eigenschaften nicht besitze. Oho!« Er erhob seine Hand wie ein Warnsignal. »Ist schon recht, ich weiß, wie ich bin. Und es tut mir leid, daß du mich so siehst, aber« ‒ seine Stimme wurde leise ‒ »ich war lange weg, es ist viel passiert, und ich kenne die Bradford-Browns besser als du. Aber ich muß zugeben, daß ich mit Andrew nicht viel zu tun hatte und … und wenn du glaubst, daß du glücklich wirst, so freue ich mich für dich.«

Damit hatte er Lizzie den Wind aus den Segeln genommen. Das Gefühl der Antipathie schwand. »Ich weiß, daß ich glücklich werde, Geoff«, sagte sie. Sie streckte ihm die Hand entgegen: »Warum kommst du nicht mit mir ins Konzert? Mag sein, daß dir die Auftritte nicht gefallen, aber du wirst sicher etwas zum Lachen haben.«

»Nein, aber trotzdem vielen Dank. Ich komme ein anderes Mal. Mam hat mir erzählt, daß du dir in der Stadt einen Namen gemacht hast. Was findet heute abend statt, ein Liederabend?«

Lizzie schüttelte den Kopf. »O nein, nichts so gewöhnliches. Ich habe einen von zwölf Auftritten. Ich eröffne aber nur den ersten und den zweiten Teil. Wie eine gewisse Sopranistin, die zufällig im Konzertkomitee sitzt, letzthin zu mir sagte: ›Unsere Sterne unter den Stars heben wir immer bis zum Schluß auf.‹«

Geoff lachte jetzt etwas fröhlicher. »Was hast du darauf geantwortet?« fragte er.

»Ich sagte, daß ich mich bemühen würde, die Abenddämmerung so lange wie möglich dauern zu lassen, und das habe ich letztesmal auch getan. Es war nicht schwierig, denn die Jungs haben immer wieder eine Zugabe verlangt. In dieser Art Konzert sind Zugaben eigentlich nicht erlaubt, jedenfalls nicht vor dem Schluß, aber ich gab drei, und lauter solche, bei denen sie mitsingen konnten. Die Dame war blaß vor Zorn, und als ich von der Bühne abging«, ‒ jetzt kicherte sie ‒ »sagte ich zu ihr: ›Jetzt kann der Vollmond aufgehen‹. Denn nach mir kamen zwei Komiker, die das Publikum immer zum Toben bringen; und da konnte ich es mir nicht verkneifen, noch zu ihr zu sagen: ›Und wahrscheinlich wird der Vollmond heute die Sterne überstrahlen‹. Du mußt wissen, daß der Saal um zehn Uhr geschlossen wird, so daß sie am Schluß kaum noch ihr Lied absingen konnte. Ich fühlte mich nachher ein wenig gemein, aber sie hat mich einfach auf dem falschen Fuß erwischt, wie Meg sagen würde.«

Geoffs Gesicht war jetzt hell und offen. »Ist sie heute abend auch dort?«

»Ja. Sie ist eine stadtbekannte Persönlichkeit und mischt im Geschäft mit den Kriegsanleihen mit.«

»Jaja, Geld regiert die Welt. Aber du hast auch etwas, auf das du stolz sein kannst… ich habe das von Anfang an gewußt. Erinnerst du dich an den Tag, als ich dich nach Hause brachte?«

Lizzie nickte. »O ja, ich erinnere mich sehr gut daran; und ich habe dir niemals wirklich dafür gedankt; aber jetzt tue ich es. Du hast mir an diesem Tag die Chance auf ein neues Leben gegeben ‒ und eine Mutter und einen Vater. War es seltsam für dich, daß ich deine Eltern ›Mam‹ und ›Dad‹ nenne?«

»Nein, nein; überhaupt nicht. Mutter hat dich vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen. Für sie bist du ihre Tochter.«

»Und du bist mein großer Bruder.«

Geoff antwortete erst nach einer Weile. »Ja, so betrachtet stimmt das wohl.« Und wieder fand er sich nicht in der Lage, seine Gedanken unausgesprochen zu lassen. »Weißt du, daß du schön bist, Lizzie? Du bist eine wunderschöne Frau geworden. Es ist kaum zu glauben. Ich erinnere mich, wie ich vor Wochen nach Hause kam, und dachte, du wärst jemand anders. Ich wußte nicht, wer du bist. Es war wie ein Schock, als mir klar wurde, daß eine Reihe von Jahren vergangen war und … und daß ich so viel verpaßt habe.«

Lizzie errötete und antwortete lachend: »Na ja, was die Schönheit betrifft… ich glaube, deine Augen wurden wohl auch in Mitleidenschaft gezogen.«

»Komm«, ‒ Geoffs Stimme war jetzt rauh ‒ »spiel nicht die Bescheidene, das steht dir nicht. Du weißt, wie du aussiehst und wie du bist. Und jetzt verschwinde, bevor ich aufhöre, dir Höflichkeiten zu sagen.«

Lachend sagte sie: »Bis bald, Geoff.«

»Bis bald«, erwiderte er.

Nach einigen Schritten blickte Lizzie zurück und rief ihm zu: »Wenn ich jetzt deinetwegen den Bus verpaßt habe, bekommst du was zu hören!«

Geoff antwortete nicht, aber er behielt sie im Auge, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Dann zog er die Unterlippe zwischen die Zähne, drehte sich um und ging zurück zum Haus.

Der Saal war voll. Lizzie hatte den zweiten Teil des Konzerts mit zwei Stücken von Chopin eröffnet ‒ zuerst eine Etüde, dann ein Walzer ‒ und stand jetzt am Rand der Bühne, um ein Quartett an sich vorbeizulassen, als jemand nah an ihrem Ohr sagte: »Dort drüben steht dein Verehrer. Er wartet auf dich. Gib mir deine Noten, ich werde darauf aufpassen.«

»Was?« fragte sie automatisch und erkannte den Bühnenmanager. Dann blickte sie schnell in die Richtung, die er andeutete und erkannte Andrew, der am Ende des Ganges stand und grüßend die Hand hob. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich zu ihm durchdrängte. Flüsternd fragte sie ihn: »Was ist los? Wann bist du angekommen? Du hast du doch geschrieben, daß du erst nächste Woche kommst.«

»Komm weg von hier«. Andrew nahm sie an der Hand und zog sie durch ein Hinterzimmer in einen anderen Gang, wo sie Hut und Mantel von einem Kleiderständer nahm. Dann standen sie auf der Straße und betrachteten einander im weichen Zwielicht der Abenddämmerung.

»Andrew! Wie lang kannst du bleiben?«

»Nicht lange. Hör zu, ich muß den Mitternachtszug erwischen. Laß uns ein Stück gehen.« Beinahe grob faßte er sie am Arm und führte sie die Straße entlang.

»Wohin?« fragte Lizzie. »Sollen wir heimgehen?«

»Nein, dafür haben wir keine Zeit. Laß uns einfach vor der Stadt Spazierengehen.«

»Was ist los, Andrew?«

Er seufzte. »Es ist irgend etwas im Busch. Ich weiß nicht genau, was. Mein Urlaub wäre in vierzehn Tagen fällig gewesen, und alles war geregelt, auch die Heiratslizenz. Richard hat geschrieben, er wolle mein Trauzeuge sein. Aber dann hat mich heute früh der Adjutant in sein Büro gerufen und mir gesagt, daß ich wahrscheinlich keine Woche Urlaub bekommen könnte, sondern höchstens ein, zwei Tage. Es hat in letzter Zeit eine Menge Versetzungen von den Minensuchbooten auf die großen Schiffe gegeben.«

»Willst du … willst du damit sagen, daß du vielleicht auf hohe See mußt?«

»Möglicherweise; ich weiß es nicht. Es ist alles sehr geheimnisvoll, und doch hört man Gerede über geänderte Pläne und so weiter. Jedenfalls hat er mir vierundzwanzig Stunden gegeben. Ich bin gerade vor einer halben Stunde angekommen und habe gleich bei dir zu Hause angerufen. Meg war am Telefon und hat mir gesagt, wo ich dich finde.«

»Ach Andrew!« Lizzie umklammerte seine Hand. »Du schienst dort an der Küste so sicher zu sein ‒ mm, ich meine nicht direkt sicher aber jede eurer Aktionen erschien mir wie ein schneller kurzer Sprung nach draußen, und dann warst du wieder in Sicherheit.«

»Mach dir keine Sorgen, wir wissen ja noch nicht, was passiert. Aber hör zu.« Er lachte. »Wahrscheinlich bin ich heutzutage auf hoher See sicherer als an Land oder in London. Du liebe Zeit, London! Lizzie, du kannst es dir nicht vorstellen, jeder Londoner ist ein Held oder eine Heldin. O ja, die Frauen sind alle Heldinnen.«

»Ach Andrew, ich fühle mich so nutzlos hier in diesem dummen Rationierungsbüro. Du weißt, daß ich in die Bürgerwehr eintreten wollte. Ich habe es versucht, aber …«

»Sei nicht albern. Das ist ja das einzige, was mir ein bißchen Seelenfrieden gibt: daß wenigstens du vergleichsweise sicher bist.«

Sie waren am Fluß entlanggegangen und dann unzählige Stufen hinaufgeklettert, nur um sich wieder in der Stadt zu finden. Lachend kehrten sie um und gingen dahin, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten.

»Wie spät ist es?« fragte Lizzie.

»Zehn vor neun.«

»Mußt du diesen Zug nehmen?«

»Ja, dann bin ich morgen vormittag zurück und kann um zwölf wieder meinen Dienst antreten.«

Lizzie blieb plötzlich stehen und drehte Andrew um, so daß er ihr gegenüberstand. »Du erzählst mir das von dem verkürzten Heiratsurlaub doch nicht ohne Grund. Bedeutet das, daß deine Versetzung ins Ausland unmittelbar bevorsteht?«

»Nein, nein.« Andrew hielt ihre Hand fest. »Ich wollte dich nur sehen und es dir selbst sagen. Ich weiß, daß du schon Vorbereitungen getroffen und ein Häuschen im Lake District gebucht hast. Wir können ja trotzdem hinfahren, aber wahrscheinlich nur für einen Tag.«

Als sie bei einem Feld mit niedergebrochenem Tor ankamen, blieben sie stehen und schauten zu einem Wäldchen hinüber, das sich schwarz gegen das tiefer werdende Zwielicht des Abendhimmels abzeichnete. Als hätten sie denselben Gedanken, setzten sich beide gleichzeitig in Bewegung, überquerten das Feld und traten unter die Bäume. Ehe sie sich neben einem Gebüsch niederließen, nahm Andrew Mantel und Kappe ab. Lizzie folgte seinem Beispiel. Dann lagen sie einander in den Armen. Im Schatten der Büsche waren ihre Gesichter nicht mehr zu erkennen. Andrews Stimme klang wie von weit her, als er fragte: »Tut es dir leid wegen letztesmal?«

»Nein, Andrew, niemals.«

»Das … das hat mir Sorgen gemacht.«

»Das sollte es nicht, mein Liebling.«

»Ich werde keine Ruhe finden, bevor wir verheiratet sind. Was, wenn etwas passiert? Ich meine …«

»Ich wäre froh darüber.«

»Ich könnte mich erst freuen, wenn wir verheiratet sind. Ich ertrage es nicht, daran zu denken, daß dir so etwas passiert.«

»Es geschieht auch anderen, es geschieht dauernd, mein Liebster.«

»Das kann sein, aber nicht dir. Nicht dir.«

Lizzie löste sich ein wenig von ihm und sah ihn eindringlich an. Mit leiser, ernster Stimme sagte sie: »Es ist mir gleich, was mit mir geschieht, solange es durch dich geschieht.«

»Lizzie, du machst mich zum glücklichsten Mann auf Erden. Ich weiß, was ich tun werde, wenn das alles vorüber ist; es ist schon alles genau geplant. Das heißt, eigentlich hat Richard mich vor einiger Zeit auf die Idee gebracht. Ich habe es dir erzählt, erinnerst du dich? Er hatte vorgeschlagen, mich mit Landwirtschaft zu beschäftigen. Der Gedanke gefiel mir, denn ich würde Vaters Geschäfte nicht weiterführen, auch wenn ich es könnte. In seinem letzten Brief schrieb Richard, ich müsse unbedingt sein Partner werden. Er scheint sich wieder gefangen zu haben. Er hält große Stücke auf dich, weißt du. Wahrscheinlich beneidet er mich ein wenig, was ich gut verstehen kann. Ja, und ich bin auch froh, daß er Janis bald los ist. Sie taugt weder für ihn noch für einen anderen, nicht einmal für sich selbst… Wärst du gerne die Frau eines Farmers?«

»Ich möchte deine Frau sein, Andrew, gleichgültig ob du Farmer oder Straßenkehrer bist.«

»O Lizzie, Lizzie!« Ihre Lippen fanden sich und ihre Körper drängten zueinander. Die Dämmerung ging in Dunkelheit über, doch die beiden Liebenden lagen immer noch eng aneinandergeschmiegt.

Endlich fragte Lizzie: »Wie spät ist es?«

Andrew schaute auf seine Armbanduhr, deren Leuchtzeiger auf zwanzig vor elf standen.

»Wir müssen uns auf den Rückweg machen«, sagte er.

»Ach Andrew!« Wieder lagen sie einander in den Armen.

Als sie endlich den Staub von ihren Kleidern abklopften, ihre Mäntel anzogen und über das Feld zur Straße zurückgingen, schlug eine ferne Turmuhr elf. Während sie auf die Stadt zueilten, fragte Andrew: »Wie kommst du denn jetzt nach Hause? Es wäre besser, wenn du in einem Hotel übernachtest.«

Lizzie antwortete: »Ich werde daheim anrufen. Dad kann mich mit dem Auto abholen. Er hat immer ein wenig Benzin in Reserve.«

Es war fast halb zwölf, als sie bei der Eisenbahnstation ankamen, von wo aus Lizzie zu Hause anrief. John war am Telefon, und Lizzie sagte: »Hallo, Dad. Meinst du … meinst du, du könntest herkommen und mich abholen? Andrew muß den Zwölf-Uhr-Zug nehmen.«

Johns Antwort klang scharf. »Du hättest uns Bescheid sagen können. Bertha sorgt sich zu Tode!«

»Es tut mir leid, Dad, aber wir hatten so wenig Zeit.«

Johns Ton blieb zurückhaltend. »Ja, gut, gut. Ich fahre gleich los.«

Lizzie trat aus der Telefonzelle. »Es ist in Ordnung. Er kommt. Hast du noch Zeit für eine Tasse Tee?«

»Gerade noch. Der Zug ist noch nicht eingefahren.« Er blickte zum Bahnsteig.

Sie tranken beide je zwei Tassen Tee, doch das Gebäck, das sie mitbestellt hatten, ließen sie unberührt.

Als der Zug in den Bahnhof keuchte, geriet Lizzie plötzlich in Panik. Sie schlang ihre Arme um Andrew und murmelte immer wieder seinen Namen. »O Andrew, ich wünschte, du müßtest nicht gehen.«

»Hab keine Angst, Liebes. Es wird alles gut. Ich komme zurück. Auf jeden Fall rufe ich dich morgen an.«

»Um wieviel Uhr?«

»Zwischen halb sechs und sechs, wenn du nach Hause kommst. Nein, warte mal ‒ ich weiß ja nicht, wo ich um diese Zeit sein werde. Jedenfalls, wenn ich raus muß, werde ich bei dir anrufen und dir eine Nachricht hinterlassen. Gut so?«

»Ja, mein Liebster. Bitte tu das!«

Um sie herum schoben und drängten die Leute, doch Lizzie und Andrew wollten einander nicht loslassen. Endlich, als wäre sie gerade zu sich gekommen, stellte Lizzie fest: »Jetzt wirst du keinen Sitzplatz mehr finden.«

»Doch, doch. Zu dieser Zeit sind nicht so viele Menschen unterwegs.« Er öffnete die nächstliegende Waggontür, trat ins Abteil und zog das Fenster herab. Sein Kopf schwebte jetzt über Lizzie. Im grünlichen Licht der Bahnhofslampen konnten sie kaum ihre Gesichter erkennen.

»Mach dir keine Sorgen, Liebling, alles wird gut. Und nächstesmal«, er deutete auf den Ringfinger seiner linken Hand, »nächstesmal bringe ich ihn mit.«

»Hast du schon einen?«

»Ja. Von Woolworth!«

»Ach Andrew.« Lizzie zwang sich zu einem Lächeln und fügte hinzu: »Einer aus Blech tut’s auch.«

Ein Pfiff ertönte, und die Lokomotive stieß eine gewaltige Dampfwolke aus. Sie konnten ihr eigenes Wort nicht mehr verstehen. Als der Zug sich langsam in Bewegung setzte, lief Lizzie nicht auf dem Bahnsteig mit, sondern blieb stehen und starrte ihm verloren nach.

Als der Zug nicht mehr zu sehen war, fragte sie sich: »Was ist eigentlich los mit mir?« Langsam drehte sie sich um und verließ den Bahnhof. Draußen am Randstein standen wartend John und Geoff. Sie sahen sie an, und als sie nichts sagte, knipste John seine abgedunkelte Taschenlampe an und leuchtete ihr ins Gesicht. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete Lizzie mit dünner Stimme.

John setzte sich hinter das Lenkrad, und Geoff half Lizzie auf den Rücksitz des Wagens. Er hatte nichts gesagt und schwieg auch während der ganzen Heimfahrt.

Im Haus wurde sie von Meg empfangen. »Alles in Ordnung, Mädel?« Dann, nachdem Meg Lizzie etwas eingehender betrachtet hatte, meinte sie: »Du kannst sagen, was du willst, es geht dir nicht gut. Komm, ich habe gerade etwas Kakao gemacht, er ist noch schön heiß; schluck ihn runter! Gib mir deine Sachen.« Sie zog Lizzie den Mantel von den Schultern und nahm ihr den Hut ab. John fragte: »Schläft Bertha?«

Meg antwortete: »Nein, ich glaube nicht, obwohl sie ihre Tablette eingenommen hat.«

John ging schnell aus der Küche, um nach seiner Frau zu sehen, während Meg Geoff anschaute und fragte: »Noch eine Tasse?« Er nickte nur zur Antwort und setzte sich neben Lizzie auf die Bank. »Geht’s dir gut?« fragte er ruhig.

»Ja, es geht mir gut.«

»Du siehst aber nicht so aus. Ist er dran?«

»Dran?«

»Ja; Versetzung?«

»Oh, nun, … er weiß es nicht. Möglicherweise, er ist nicht sicher.«

»Na, dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Er erhob sich. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, antwortete Lizzie.

»Gute Nacht, Meg.«

»Gute Nacht, schlaf gut.«

Als sie allein waren, ging Meg zu Lizzie hinüber und spähte in ihr Gesicht. »Was war los?« fragte sie. »Habt ihr gestritten oder so was?«

»Nein, nein.« Lizzie schüttelte heftig den Kopf.

»Was war es dann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Die Hochzeit wird doch nicht abgeblasen?«

»Nein, aber Andrew bekommt keine Woche Urlaub, höchstens zwei Tage. Aber es ist alles arrangiert. Er hat die Lizenz und«, jetzt lächelte sie und deutete auf ihren linken Ringfinger, »den Ring.«

»Na siehst du, das ist ein gutes Zeichen. Die zwei Sachen sind das wichtigste. Jetzt dauert es nicht mehr lange, Mädel.« Sie tätschelte Lizzies Schulter. »Also mach dir keine Sorgen: Die Warterei ist vorüber, auch wenn es lange gedauert hat, alles auf die Reihe zu kriegen.«

»Meg?«

»Ja, Mädel?«

»Ich hatte ein so schreckliches Gefühl, als er weggefahren ist. So ein Gefühl hatte ich noch nie in meinem Leben. Ich kann es nicht beschreiben.«

»Ach, das ist nichts, Mädel. So ging es mir jedesmal, wenn mein Junge auf sein Schiff mußte, und damals war kein Krieg. Das ist normal, wenn man jemanden gern hat. Du würdest das nicht fühlen, wenn du ihn nicht so gern hättest. Das ist ganz natürlich. Aber jetzt bin ich so müde, daß ich kaum die Treppen schaffe. Es war ein langer Tag.«

»Es tut mir leid, Meg, daß du meinetwegen aufbleiben mußtest.«

»Ich bin nicht wegen dir, sondern wegen mir aufgeblieben. Ich muß einfach herumwirtschaften, damit ich nicht zuviel denke. Ich kann einfach nicht darüber wegkommen, was in Shields passiert ist. Naja, für etwas sollte ich vermutlich dankbar sein: daß ich weder Kind noch Kegel habe, um die ich mich noch sorgen muß. Und trotzdem sorge ich mich anscheinend um alle möglichen Leute, vor allem um dich, Kind. Los, komm hoch von diesem Stuhl und geh schlafen.«

Sie zerrte Lizzie auf die Füße, und nachdem diese die Tür hinter sich geschlossen hatte, starrte Meg noch lange darauf und sagte zu sich selbst: »Warum habe ich ihr gesagt, daß ich immer das gleiche Gefühl hatte, wenn mein Junge auf See ging? Ich hatte dieses Gefühl gar nicht. Niemals.«