Der Arzt hatte einige Tabletten für Lizzie dagelassen, und sie schlief beinahe vierundzwanzig Stunden lang. Am zweiten Tag wollte sie die Tabletten nicht mehr nehmen. Um zehn Uhr vormittags stand sie auf, zog sich an und ging nach unten.
Bertha sagte: »Oh, Mädchen, du hättest liegenbleiben sollen.« Doch Meg meinte: »Lassen Sie sie nur, es ist das beste, was sie tun kann. Willst du etwas essen, Lizzie?« Lizzie antwortete höflich: »Nein, danke, Meg; ich möchte nur etwas Tee.« Sie trank zwei Tassen, dann erhob sie sich vom Tisch und verließ wortlos die Küche.
Sie setzte sich ins Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster, auf die zu zierlichen Knoten verknüpften Blätter der Narzissen, hinter denen einige große, orangefarbene Mohnblumen ihre schweren Köpfe hängen ließen. Das kleine Beet war von violettem Storchschnabel eingefaßt. Dies war der einzige Teil des Gartens, der noch den Blumen Vorbehalten war, die anderen Beete waren mit Gemüse bepflanzt. Doch Lizzie nahm den Garten gar nicht wahr. Sie fühlte sich merkwürdig: Ihre Gedanken befanden sich nicht in der Gegenwart, sondern stahlen sich zurück zu der Zeit, als sie begonnen hatte, den Schreibmaschinenkurs zu besuchen und immer mit dem Fahrrad hin- und zurückfuhr. Und sie sah einen jungen Mann zu Pferde, der oft anhielt und ihr zulächelte. Und dann kam der Tag, als sie über den Zaunübertritt geklettert war und sich an einem Nagel eine Laufmasche in den Strumpf gerissen hatte, die ganze Wade entlang; und sie drehte sich gerade um, um den Schaden zu begutachten, als der Reiter über den Hügel herankam. Er sprang vom Pferd und fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein?« und Lizzie deutete auf den Übertritt und antwortete: »Der blöde Nagel!«, was den Reiter zum Lachen brachte. Und als sie sagte:
»Ich habe deswegen meine ganzen Blaubeeren verstreut«, erwiderte er: »Ich helfe Ihnen, neue zu pflücken.« Und das hatte er auch getan. An diesem Tag war ihm ihr Herz zugeflogen, und jetzt hatte sie nichts mehr davon übrig. Sie konnte nichts fühlen, weil er tot war. Er war tot, und sie war es auch und würde nie wieder zum Leben erwachen. Niemals, niemals wieder!
Sie hörte Stimmen vor der Tür. Meg sagte: »Geoff ist nach Durham gefahren, um die Medizin für seinen Vater zu holen. Er ist bald wieder hier. Lizzie ist da drin.«
Lizzie drehte sich nicht um, als die Tür aufging. Sie blickte Meg nur kurz an, als diese hereinkam und sich über sie beugte, wie man es bei Kranken tut. »Du hast Besuch, Kindchen.«
Lizzie wollte keinen Besuch. Sie wollte niemanden sehen. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden, wollte allein sein in dieser Leere, in der nichts außer ihr selbst existierte, nicht einmal Andrew.
»Hallo, Lizzie.« Sie schaute in das narbige Gesicht, das auf sie herabsah, und sagte weich: »Oh, Richard.«
»Möchten Sie eine Tasse Tee?« fragte Meg, und Richard Boneford antwortete: »Ja, bitte, sehr gerne, Meg.« Dann setzte er sich neben Lizzie, nahm ihre Hand und sah ihr ins Gesicht. Tiefe Trauer lag in seinem gesunden Auge.
»O Lizzie, was soll ich sagen? Ich … ich habe es erst vergangene Nacht erfahren.«
In ihr regte sich der Gedanke, daß er sich sofort auf den Weg gemacht haben mußte. Es war eine weite Reise. Doch sie sagte nichts, sondern schaute ihn nur an.
»Er war der netteste Kerl, den ich kannte. Wir haben Pläne geschmiedet: Vielleicht hat er es Ihnen erzählt. Wir wollten gemeinsam etwas aufbauen, wenn der Krieg vorbei wäre. O Lizzie, Lizzie!«
Tief in Lizzies Kehle regte sich etwas. Sie schaffte es, einige Worte hervorzustoßen. »Ich bekomme ein Baby, Richard«, sagte sie.
Richards Augenlider flatterten ungleichmäßig, dann erwiderte er sanft: »Ich freue mich darüber, Lizzie. Dann ist Andrew immer noch bei Ihnen; Sie haben ihn nicht ganz verloren, wenn Sie sein Kind haben.«
»Ach, Richard!« Mit hoher Stimme wiederholte sie: »Ach, Richard!« Es war wie ein Ruf aus weiter Feme. »Was soll ich tun, Richard? Ich … ich kann ohne Andrew nicht leben!«
Sie war aufgestanden, ihr Mund war weit geöffnet; der Klumpen in ihrem Hals schien sie ersticken zu wollen. Sie rang nach Atem, und als sie Richards Arme um sich fühlte, klammerte sie sich an ihn. Sie waren wieder im Fluß, wurden hin und her geworfen. Sie schluckte Wasser; es schmeckte schauderhaft. Sie schrie etwas und konnte sich selbst nicht hören wegen des lauten Wasserrauschens.
Richard drückte sie fester an sich und rief aus: »Ja, ja, so ist’s gut, meine Liebe, so ist’s gut. Lassen Sie es raus. Es wird Ihnen gleich bessergehen.«
»Oh, Richard!«
»Ich bin da, Liebes, ich bin da. So, so.« An seinem Arm stolperte sie zur Couch, und als er sie darauf niedergleiten lassen wollte, hielt sie sich an ihm fest, so daß er an ihrer Seite niederfiel und sie wieder wie ein Kind in den Arm nahm. Als jedoch ihr Schluchzen immer heftiger wurde, blickte er besorgt zur Tür, die sich in diesem Augenblick öffnete. Ein großer Soldat kam herein, hielt einen Moment inne und stürmte dann vor.
Der Mann beachtete Richard nicht, sondern legte seine Hand auf Lizzies Schulter und schrie sie an: »Hör auf! Hör auf damit! Du machst dich krank!« Dann wandte er sich an Richard. »Überlassen Sie sie mir.«
Doch als Richard sich von der Couch erheben wollte, klammerte sie sich an ihn und weinte: »Nein, nein!«
Inzwischen waren auch Bertha und Meg erschienen. Bertha legte ihre Hand sanft auf Lizzies Schulter. »Komm jetzt, komm. Das reicht. Es ist genug. Es ist alles vorbei, Liebes. Du machst dich nur fertig.«
Berthas Gesicht war dem von Richard nahe, doch sie hielt ihre Augen abgewandt, bis er zu ihr sagte: »Sie sollten jetzt besser den Arzt anrufen.« Dann drehte er den Kopf und sah Geoff ins finstere Gesicht. »Legen Sie Ihren Arm um ihren Rücken. So können wir sie die Treppe hinauftragen.«
Geoff zögerte einen Augenblick, bevor er Richards Worten gehorchte, die wie ein Befehl geklungen hatten. Er beugte sich nieder und schob seinen Arm beinahe grob unter Lizzies Achseln, indem er sie aus Richards Griff löste. Doch Lizzie war kaum auf den Beinen, als sie Geoff mit einer Kraft, die ihn beinahe umwarf, beiseite stieß. Keuchend blickte sie von einem zum anderen und sagte mit deutlichen, klar voneinander abgesetzten Worten: »Laßt ‒ mich ‒ allein ‒ ich ‒ bin ‒ in Ordnung ‒ also ‒ bitte ‒ laßt ‒ mich allein.«
Alle starrten sie an, als sie Meg und Bertha beiseite schob, zu einem hochlehnigen Sessel ging und sich hineinsetzte. Dann ließ sie den Kopf hängen, und schwer atmend sagte sie: »Ich ‒ will ‒ keinen ‒ Arzt. ‒ Laßt ‒ mich ‒ in ‒Ruhe.«
»Ich bringe dir eine Tasse Tee, Herzchen.« Meg schlurfte davon. Bertha humpelte auf Lizzie zu und fragte sie ruhig: »Möchtest du dich nicht hinlegen, meine Liebe?«
»Nein … nein, Mam.« Lizzie schüttelte den Kopf. »Es geht mir schon besser. Ich brauche nur etwas Ruhe.« Sie wandte sich Richard zu. »Es tut mir leid, Richard.«
»O meine Liebe.« Er ging zu ihr und ergriff ihre Hand. Bertha, die sah, wie ihr Sohn den Besucher anstarrte, fragte Geoff: »Hast du Dads Medizin?«
Geoff blinzelte verwirrt. »Ja, ja.«
»Nun, dann komm bitte mit, wir geben ihm etwas davon ein.« Auf Lizzie blickend, meinte sie: »Wir sind gleich wieder da, Liebes.«
Es dauerte einige Sekunden, bis Geoff ihr folgte. Während er hinter seiner Mutter über die Diele ging, hatte er nur einen Gedanken: Mein Gott, was habe ich für ein Glück gehabt!
Drinnen im Wohnzimmer wiederholte Lizzie: »Es tut mir leid, Richard. Es mußte wohl so kommen, aber nicht …«
»O Lizzie, bitte. Für mich ist es ein Kompliment, nein, mehr sogar: daß Sie von allen Menschen gerade mir Ihr Vertrauen schenkten.«
Sie betrachtete sein Gesicht. Vielleicht kam es ihr nur so vor, weil ihre Augen noch immer von Tränen getrübt waren, aber es schien ihr, als hätte die gespannte, rosafarbene Haut sich ausgebreitet und das verbliebene, gesunde Hautstück zurückgedrängt. Sie reichte ihm beide Hände und sagte: »Ich hatte Ihnen gerade erzählt, daß ich ein Baby bekomme.«
»Ja. Ich freue mich sehr für Sie.«
»Tim Sie das wirklich?«
»O ja, wahrhaftig, und«, seine Gesichtshaut bewegte sich, als er die dünnen Lippen zu einem Lächeln verzog und dabei erstaunlich gute Zähne zeigte, »ich nehme hiermit das Recht in Anspruch, Pate zu stehen, sei es nun Junge oder Mädchen.«
Sie drückte seine Hände und erwiderte bewegt: »Sie sind ein guter Mensch, Richard. Auch Andrew hat das gesagt. Andrew hatte Sie sehr gern.«
Er antwortete nicht. Lizzie wandte den Blick ab. Es war seltsam, daß sie jetzt über Andrew reden konnte. Sie hatte geglaubt, seinen Namen nur noch in ihrem Gedächtnis aussprechen zu können. Während der vergangenen zwei Tage waren ihre Gedanken gewandert; wohin, wußte sie selbst nicht zu sagen. So mußte es wohl auch sein, dachte sie, wenn man den Verstand verlor: Die Gedanken wandern einfach davon. Aber jetzt war sie in die Wirklichkeit zurückgekehrt; und diese Wirklichkeit war schmerzhaft. Sie wollte den Verlust ihrer Liebe hinausschreien. Sie wollte Andrews Namen wimmern, aber das durfte sie nicht; sie durfte sich nie wieder so gehenlassen wie vorhin. Es war erschreckend gewesen. Für kurze Zeit hatte sie gemeint, ertrinken zu müssen, so wie damals, als sie mit Richard ins Wasser gefallen war. Sie sah ihn an und fragte leise: »Und wie geht es Ihnen?«
Ebenso ruhig antwortete er: »Nicht besonders. Vor Ihnen kann ich das zugeben. Merkwürdig, nicht wahr, daß ich zu Ihnen nicht sagen muß: ›Oh, es geht mir gut. Ich sehe den Dingen ins Auge.‹ So lächerliche Worte! Jemand hat tatsächlich zu mir gesagt: ›Sie müssen den Dingen ins Auge sehen! ‹ Und das muß ich auch, meinen Eltern zuliebe. Anders gesagt, ich ziehe eine Schau ab, weil sie immer so besorgt um mich sind.« Er zog seine Finger aus ihren Händen, rückte einen Stuhl heran und setzte sich, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Finger ineinander verkrampft, darauf nieder. »Sehen Sie«, fuhr er fort, »für einen Sohn in meinem Alter sind sie schon ziemlich betagt. Meine Mutter war zweiundvierzig, als sie mich zur Welt brachte, und mein Vater war fünfundvierzig. Es war seine dritte Ehe. Er war bereits zweimal kinderlos verwitwet, und als er eine zweiundvierzigjährige Frau heiratete, rechnete er nicht mehr damit, Vater zu werden. Aber es ist passiert, meine Mutter wurde schwanger, und das Leben meiner Eltern veränderte sich von Grund auf. Sie haben mich mit so viel Liebe aufgezogen und sind jetzt meinetwegen so unglücklich. Würden Sie … würden Sie irgendwann kommen und uns besuchen? Bald? Ich … nun, ich habe ihnen erzählt, daß Sie es tun würden. Sie erinnern sich, ich habe Sie schon einmal darum gebeten. Es ist so ‒«, Richard senkte den Kopf so tief, daß Lizzie nur noch seinen Scheitel, aber nicht das Gesicht sehen konnte. Sein tiefbraunes Haar war kräftig und gewellt. Lizzie dachte, wie gut er einmal ausgesehen haben mußte … Sie versuchte, sich wieder auf seine Worte zu konzentrieren. »Meine Eltern begreifen, daß sich hie und da ein Freund mit mir abgibt, aber nicht eine Frau. Deswegen, Lizzie, wenn Sie uns eines Tages besuchen würden, würden Sie mir nicht nur einen großen Gefallen erweisen, sondern mir etwas weitaus größeres schenken; etwas, das ich bisher nicht mit Worten ausdrücken kann.«
Was Richard gesagt hatte, ließ Lizzie den Schmerz, der sich wie ein Abszeß in ihrer Brust eingenistet hatte, für kurze Zeit vergessen. »Natürlich, Richard«, antwortete sie, »ich würde Sie sehr gern besuchen. Ich fühle mich Ihnen im Augenblick näher als irgend jemandem hier. Das kommt vermutlich daher, weil Sie Andrew kannten, und weil ich weiß, daß er Sie mochte. Geoff, obwohl er sehr höflich zu ihm war, hat nie vergessen, daß er ein Bradford-Brown war; und auch Mam und Dad konnten sich nicht mit seiner höheren gesellschaftlichen Position abfinden. Meg schien die einzige zu sein, die uns für das nahm, was wir waren: zwei Verliebte, die heiraten wollten.« Sie senkte den Kopf und fuhr leise fort: »Wir hätten nur noch eine Woche oder zehn Tage gebraucht, aber irgendwie ist das jetzt nicht mehr wichtig. Wissen Sie, Richard«, ‒ sie sah ihn wieder an ‒ »es hätte mir jetzt sehr leid getan, wenn wir … wenn wir nicht zusammengekommen wären. Wir waren verheiratet. In unseren Augen waren wir verheiratet.«
»Ja, natürlich waren Sie das, meine Liebe; und alles wird in Ordnung kommen. Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Familie wird Ihnen beistehen. Und Geoff scheint ein sehr fähiger Mann zu sein.«
»Ja, das ist er.« Lizzies Gedanken schweiften ab, und sie fragte sich, ob Richard wohl daran dachte, daß Geoff einer der Männer war, mit denen seine Frau sich abgegeben hatte. Sie hatte gehört, wie Bertha dem Arzt erzählt hatte, daß Janis die Nachricht von Andrews Tod überbracht hatte. Warum gerade sie? Lizzie wollte dieser Frage später nachgehen.
Die Tür ging auf, und Geoff trat herein. Er ging geradewegs zu Lizzie und legte die Hand auf ihre Schulter. Sein Griff war fest und beschützerisch. »Wie fühlst du dich?« fragte er.
Lizzie nickte ihm zu. »Besser. Viel besser.«
»Gut.«
Geoff sah Richard in die Augen, dann sagte er: »Tut mir leid, was Ihnen da passiert ist.«
Doch Richard beachtete ihn nicht, sondern stellte sich neben Lizzie und beugte sich zu ihr hinab. »Ich werde meinen Eltern schreiben und alles arrangieren. Vielleicht können Sie ein paar Tage bleiben. Es wäre eine Abwechslung für Sie. Um diese Jahreszeit ist es da oben sehr schön.«
»Danke, Richard. Ich werde kommen.«
»Bald?«
»Ja, bald.«
»Ich werde Ihrer Mutter unsere Telefonnummer geben.«
»Tun Sie das. Auf Wiedersehen, Richard. Und vielen Dank.«
»Auf Wiedersehen, meine Liebe.«
Es fiel Lizzie auf, daß Richard sie in der vergangenen Stunde mehrmals ›meine Liebe‹ genannt hatte. Er war ein so netter Mann ‒ entsetzlich, daß sein Gesicht so schlimm vernarbt war. Und merkwürdig, daß seine alten Eltern sich Sorgen machten, weil er keine Freundin hatte ‒ keine, die ihn auch nur ansehen wollte.
Als die Tür sich hinter Richard geschlossen hatte, erkundigte sich Geoff: »Was hat das zu bedeuten? Wirst du dorthin fahren?«
»Er hat mich eingeladen. Er war mit Andrew befreundet, weißt du? Sie wollten Partner werden nach dem Krieg.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Partner bei was?«
»In der Landwirtschaft. Richard hat ein Gut in Schottland.«
»Schön für ihn. Auf jeden Fall wird es ihm guttun, sich mit irgendwas zu beschäftigen.«
Lizzie dachte daran, daß Geoff und Richard kaum miteinander gesprochen hatten. Es war klar, daß sie einander nicht leiden konnten. Aber wie sollten sie auch? Richards Frau hatte die Möglichkeit für die beiden Männer, einander besser zu verstehen, zerstört. Durch sie hatte Richard auch den Freund verloren, mit dem sie ihn betrogen hatte. Warum hatte ausgerechnet sie die Nachricht von Andrews Tod überbracht? Und warum kümmerte es Lizzie überhaupt, denn was machte das jetzt noch aus? Der Schmerz breitete sich wieder in ihrer Brust aus. Wie lange würde das noch so weitergehen? »Für immer und ewig«, meinte Lizzie. Es hieß doch, die Zeit heilt alle Wunden. Aber solche Sprichwörter waren dumm; sie konnten nur von Menschen stammen, die niemals einen Verlust erlitten hatten.