Kapitel 4

Die Monate, die folgten, hinterließen in Lizzie einen seltsamen Eindruck. Jedes Haushaltsmitglied schien nur eine Aufgabe zu kennen: Lizzie von ihrem Schmerz abzulenken. Meg schwatzte ununterbrochen und erzählte lustige Schnurren über die Originale am Tyne-Fluß. »Hast du je von Jessie Bugs und Wiggie gehört? Sie waren bekannt in ganz Gateshead«, sagte sie und plauderte weiter: über den blinden Glöckner in Felling; der ein lebendes Nachrichtenblatt war; aber Brücken-Tommy müsse Lizzie doch ein Begriff sein. Er war blöde und es war ein Wunder, daß man ihn nicht eingesperrt hatte, denn fünfzig Jahre lang hatte er auf der Brücke gestanden und mit den Armen gewedelt. Und hatte sie Lizzie schon erzählt, wie Raffertys Haus in Flammen aufgegangen war? Ja? Nun, sie konnte trotzdem immer wieder darüber lachen, wenn sie an Peggy Rafferty dachte, wie sie die Kinder aus dem Haus geschafft hatte ‒ sie hatte neun ‒ und eines nach seinem Vater fragte. »Er ist im Bett«, hatte Peggy geantwortet, »und ich hoffe, er verbrutzelt drin, was mit dem ganzen Whisky, den er intus hat, nicht schwierig sein dürfte.« Meg kringelte sich vor Lachen. »Ich wußte nicht«, fuhr sie fort, »daß der Alte wirklich da oben war. Aber die Feuerwehrleute sind noch mal ins Haus gestürmt und haben ihn rausgeholt. Das Bett brannte, aber er schlief immer noch.«

Meg redete und redete, und manchmal lachte sie so herzhaft, daß ihr die Tränen übers Gesicht liefen.

Bertha wiederum erzählte über ihre eigene Kindheit, als zu dem Haus noch eine lebhafte kleine Farm gehört hatte.

Merkwürdigerweise war es jedoch John, der den größten Teil der Unterhaltungen bestritt. Er wandte sich gezielt an Geoffrey, der kaum jemals den Mund aufmachte, und rief ihm verschiedene Ereignisse der ersten Kriegszeit in Erinnerung. Damit erregte er Lizzies Aufmerksamkeit, denn er hatte bisher keineswegs den Anschein erweckt, sich für Einzelheiten dieses Krieges zu interessieren.

Er begann fast immer mit denselben Worten. »Du hättest hier sein sollen, mein Junge. Damals, Mitte Juli 1940, fing es an. Die Bomber kamen aus Deutschland herüber und oft auch die Jagdflieger mit ihnen, und daraus entwickelte sich die Luftschlacht um England. Dowding war fabelhaft. Er mußte nicht nur gegen die deutsche Luftwaffe kämpfen, sondern auch gegen unsere unbewegliche Regierung. ›Beschützt die Konvois‹, sagte die, ›denkt an all die Schiffe, die die Deutschen versenken.‹ Aber nein, er verstärkte die Luftabwehr, und unsere Jungs haben dreihundert deutsche Flugzeuge abgeschossen. Und was glaubst du, taten die Deutschen dann? Sie haben versucht, unsere Luftwaffenstützpunkte in Kent zu zerstören, und es ist ihnen beinahe gelungen! Wir haben dort über einhundertachtzig Flugzeuge verloren. Und wohin haben sie sich als nächstes gewandt? Nach London natürlich! Nun, Junge, das war eigentlich verständlich, denn wir haben ja bei ihnen auch Berlin und einige andere Städte zerbombt. Es war eine Art Heimzahlung, und was für eine, bei Gott! Wir dachten alle, jetzt sind wir dran; jetzt werden sie jeden Augenblick auf der Insel landen.«

Er redete endlos. Geoff saß ihm gegenüber, starrte ihn an und versuchte dabei, den Wirbel seiner Gedanken, den die Erzählungen seines Vaters immer in ihm auslösten, anzuhalten ‒ diesen sandigen Wirbel, der ihm die Kehle zuklebte und das Schlucken verhinderte. Seine Beine wurden schwer wie Blei, und er war kaum in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dann plötzlich konnte er sie wunderbarerweise wieder bewegen, und er fing an zu rennen, warf sich flach auf den Boden, schrie anderen etwas zu, jedes zweite Wort ein Fluch, und in seinen Gedanken ein unaufhörliches Kreischen. Wenn er den verdammten Feind nur sehen könnte! Doch plötzlich stand er vor ihm, wie aus dem Erdboden gewachsen! Geoff sah, wie der Kerl drauf und dran war, den jungen Fairbanks mit dem Bajonett aufzuspießen. Er schoß und schoß, bis sein Magazin leer war. Dann half er dem jungen Korporal auf die Füße, denn der lag steif da, als wäre er ebenfalls tot. »Danke, Sarge«, stammelte Fairbanks wieder und wieder. Geoff sah sich nach anderen Deutschen um, aber es waren keine da. Wie, zum Teufel, hatte der Kerl so aus dem Nichts auftauchen können? ‒ Und sein Vater redete und redete.

»Was hast du gesagt, mein Junge?«

Geoff sah seinen Vater an. »Nichts. Nur daß Lizzie müde aussieht. Sie sollte schlafen gehen.«

Lizzie war wirklich müde. Sie fühlte sich jetzt fast immer müde. Und am ermüdendsten erschien ihr all dieses Gerede über den Krieg. Sie dachte, daß John sehr unsensibel geworden war. Warum mußte er immer vom Krieg sprechen? Aber Geoff war freundlich. Sie wußte nicht, wie sie die letzten paar Wochen ohne ihn durchgehalten hätte. Er brachte sie morgens zum Bus und holte sie abends wieder ab.

Und je schwerer ihr Körper wurde, desto mehr wurde sie auch ihres eigenen Zustandes müde. Als sich die Schwangerschaft zum ersten Mal körperlich bemerkbar gemacht hatte, hatte sie das mit Freude erfüllt. Doch alles, wovon sie jetzt erfüllt war, war ein dumpfer Schmerz.

Sie sollte demnächst Urlaub erhalten und hatte sich entschlossen, Richards Angebot anzunehmen und einige Tage auf seinem Gut zu verbringen. Er hatte sich in der letzten Zeit zweimal telefonisch nach ihrem Befinden erkundigt, und sie hatten sich über Andrew unterhalten. Richard war der einzige, mit dem sie über Andrew sprechen konnte; die anderen erwähnten seinen Namen nicht.

Letzte Nacht hatte sie den Entschluß gefaßt, nach Schottland zu fahren. Sie mußte der einengenden Atmosphäre dieses Hauses entfliehen. Alle hier kümmerten sich so betont um sie; niemand benahm sich natürlich.

Als sie Geoff von ihrem Vorhaben erzählte, bemerkte sie sofort, daß es ihm nicht recht war. »Warum willst du dahin fahren?« wollte er wissen.

»Es wird eine Abwechslung sein«, antwortete Lizzie, »und er hat mich schon mehrmals eingeladen.«

Worauf Geoff brummte: »Und … und seine Gesellschaft macht dir nichts aus, obwohl er so aussieht?«

Lizzies gab gereizt zurück: »Nein, es macht mir nichts aus. Er kann nichts für sein Aussehen. Ich hatte eigentlich gedacht, das wüßtest du. Jedenfalls ist er unter seiner Haut derselbe geblieben, und ich kann mich gut mit ihm unterhalten.«

»Und mit mir kannst du das nicht ‒ willst du das damit sagen?«

»Nein, natürlich nicht«, schnappte sie zurück. »Aber du bist anders.«

»Ja, bei Gott, das bin ich!«

Lizzie war erstaunt und verwirrt, als er sich umwandte und schnell davonging, wobei sein Hinken deutlicher als sonst zutage trat. Mit einem Anflug von Trotz ging sie zum Telefon und wählte Richards Nummer. Sie fragte ihn, ob es ihm recht wäre, wenn sie am Montag käme. Freude war aus seiner Stimme herauszuhören, als er ihr antwortete und Anweisungen gab. Er wollte sie in Edinburgh vom Zug abholen. Wenn sie alle Anschlußzüge erwischte, würde sie um sechs Uhr abends ankommen.

Auch Bertha war über ihr Vorhaben verwundert. Und zum ersten Mal erwähnte sie Andrew: »Du hast doch nicht vergessen, daß Mr. Boneford mit Andrews Schwester verheiratet war? Und … und wir wissen noch nicht, ob die Scheidung schon erfolgt ist.«

Berthas Ton hatte Lizzie überrascht und verletzt. »Was macht das für einen Unterschied?« rief sie. »Ich will ihm doch keinen Heiratsantrag machen! Ich will nur seine Eltern kennenlernen.«

»Nun, nun.« John kam seiner Frau zu Hilfe. »Deswegen mußt du dich nicht so erregen, Lizzie. Bertha wollte nur sagen …«

»Ich weiß, was sie gesagt hat!« Lizzie hatte sich wieder in der Gewalt. »Es tut mir leid, aber ich muß mal hier raus. Und, das wißt ihr so gut wie ich, es hat mich niemand sonst eingeladen. Ihr wollt doch nicht, daß ich meine Stiefmutter in Gateshead besuche, oder?«

John und Bertha waren erschrocken. Das war nicht die Lizzie, die sie kannten. Doch sie waren bereit, Zugeständnisse zu machen. Lizzie hatte einen schweren Verlust erlitten, zwar nicht den eines Ehemannes, doch immerhin eines Geliebten, dessen Kind sie trug. Ja, sie mußten Zugeständnisse machen.

Meg war die einzige, die meinte, daß die Reise Lizzie guttun würde, und als sie mit ihr allein war, sagte sie: »So ist es recht, Mädel. Du brauchst etwas Abwechslung. Und außerdem schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe, weil der arme Kerl dadurch auch mal in den Genuß weiblicher Gesellschaft kommt.«

So kam der Montag heran, und Geoff begleitete Lizzie nicht nur zum Bus, sondern brachte sie bis zum Bahnhof, kaufte ihr die Fahrkarte und ging mit ihr ins Abteil. »Vergiß uns nicht ganz«, sagte er, bevor der Zug abfuhr.

»O Geoff.« Lizzie schüttelte den Kopf. »Bitte versuch mich zu verstehen.« Geoffrey nickte und lächelte sie an. »Ja, ich werde es versuchen; aber trotzdem freue ich mich schon auf deine Rückkehr. Ruf uns am Abend an, ja? Wir wollen wissen, ob du gut angekommen bist.«

»Das werde ich tun. Und sag Mam, es tut mir leid, daß ich sie aufgeregt habe. Ich habe das nicht gewollt.«

Sie lehnte sich in ihren Sitz zurück, während der Zug anfuhr. Aus dem Fenster beobachtete sie, wie Geoff zum Ausgang strebte, sich dann noch einmal umdrehte und zurückblickte. Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus.

Die Fahrt erschien ihr endlos. Sie hatte keinen Blick für die Landschaft, die sich vor dem Fenster ausbreitete, denn sie hing ihren eigenen Gedanken nach.

Es war jetzt Anfang September, und ihre Schwangerschaft dauerte nun schon fast fünf Monate. Ihr Leib wölbte sich deutlich, und ihr trüber Geist schien ihren Körper angesteckt zu haben, denn sie fühlte sich ständig unwohl. Mrs. Logan, die vier Kinder hatte und im unteren Büro arbeitete, hatte gesagt, daß sie sich bei jeder Schwangerschaft glücklich gefühlt habe. »Du mußt ein wenig heiterer werden«, hatte sie zu Lizzie gesagt, »es tut dem Baby nicht gut, wenn du immer so trübsinnig bist.«

Es war merkwürdig, aber die allgemeine Meinung schien dahin zu gehen, daß man zwar seine Trauer zeigen durfte, wenn man einen Ehemann verloren hatte, nicht jedoch, wenn es sich um jemanden handelte, mit dem man noch nicht verheiratet war, auch wenn man von ihm ein Kind erwartete. In diesem Fall sollte man irgendwie nicht dasselbe fühlen und auch nicht dieselbe Rücksichtnahme und das gleiche Mitgefühl erwarten. Diese Ansicht hatte auch eine von Lizzies Kolleginnen geäußert, als sie Lizzie außer Hörweite wähnte: »Man kann schließlich nicht seinen Spaß haben und dann nicht dafür zahlen wollen, nicht wahr? Man weiß doch schließlich, was heute so abläuft.«

Menschen konnten grausam sein. Menschen waren grausam. Es war eine verrückte Welt, und Lizzie wünschte, sie könnte ihr entfliehen. Manchmal war ihr so verzweifelt und einsam zumute, besonders wenn sie zu Hause war und alle sich um sie bemühten. Sie konnte jetzt verstehen, wie Richard sich gefühlt haben mußte, als er versucht hatte, ein Ende zu machen …

Richard erwartete sie am Bahnsteig. Er lief neben dem Zug her, als er Lizzie am Fenster stehen sah, und riß die Tür auf, als die Räder zum Stillstand kamen; dann nahm er ihr den Koffer ab und half ihr die Stufen herab.

»Ich bin so froh, daß Sie da sind, Lizzie«, begrüßte er sie.

»Und ich freue mich, Sie zu sehen, Richard. Ich hoffe, es hat Ihnen keine Umstände gemacht, mich abzuholen.« Das klang ziemlich flach, aber irgend etwas mußte sie ja sagen. »Seien Sie nicht albern«, gab er zurück, »Umstände? Ich habe die Stunden gezählt, bis Sie kommen!« Dann fügte er schnell hinzu: »Und mein Vater und meine Mutter auch. Sie warten schon so auf Sie. Wir müssen jetzt zuerst den Bus nehmen, aber draußen vor der Stadt wartet Matty auf uns.« Er schaute sie an. »Matty ist … Nun«, lachte er, »manchmal frage ich mich selbst, wer Matty ist. Er gehört fast zur Familie. Er kam zu uns, als er zehn war, und als ich geboren wurde, war er schon alt. Sein Vater war bei uns fürs Vieh zuständig. Matty selbst ist ein Hansdampf in allen Gassen und kann eine Menge Dinge. Er wird Ihnen gefallen.«

Lizzie betrachtete Richard. Er trug Kniebundhosen mit Ledergamaschen, ein grünes Tweedjackett und einen Tweedhut mit weicher Krempe, die auf einer Seite tief herabgezogen war und vor Blicken schützte. Er sah gepflegt aus, zumindest was seinen Körper betraf. Und er machte einen völlig anderen Eindruck als bei ihrer letzten Begegnung. Er schien viel lebhafter zu sein und sprach angeregt. Aber nein, das stimmte nicht ganz: Er sprang von einem Thema zum nächsten, als wäre er aufgeregt oder verlegen.

Auch im Bus redete er ständig weiter. Nachdem sie eine ziemlich lange Fahrt hinter sich hatten, sagte er: »Hier steigen wir aus. Und hier wartet auch Matty.« Er half Lizzie auf die Straße. »Er bringt den Einspänner nicht in die Stadt«, erklärte er, »weil Pedro Autos nicht leiden kann. Aber Pedro ist das einzige Pferd, das vor den Einspänner paßt.« Er lachte, und Lizzie stimmte mit ein.

Der Mann, der neben dem Pferd stand, lächelte sie an. Es war ein knappes Lächeln, begleitet von einem Blick aus schmalen Augen. Als Richard Lizzie vorstellte, neigte der Mann seinen Kopf und sagte: »Ma’am.« Und Lizzie antwortete: »Guten Tag.«

Kurze Zeit darauf saßen sie alle im Wagen und holperten eine schmale Straße entlang. Lizzie blickte um sich. »Es ist wirklich schön hier. Es erinnert mich ein wenig an einige Gegenden um Durham.«

»Oho«, ‒ Richard wandte sich ihr zu, und sein gutes Auge schien zu blinzeln ‒ »bei allem Respekt, Madam, eine Landschaft wie hier werden Sie um ganz Durham nicht finden, und dabei ist das erst der Anfang!« Wie verändert er war. Aber natürlich war er hier zu Hause und mit allem vertraut. Als er sich zu Matty vorbeugte und ihn fragte: »Ich hab’ doch recht, Matty, oder?« nickte der nur ohne sich umzuwenden und antwortete mit kehliger Stimme: »Und ob, Mr. Richard, und ob.«

Lizzie betrachtete das schmale Profil des Kutschers. Wenn das kein Schotte bis ins Mark war!

»Wie lange werden wir bis zu Ihrem Haus brauchen?« fragte sie Richard.

»Eine gute halbe Stunde, falls Pedro sein Tempo beibehält.«

Als die halbe Stunde vorüber war, mußte sie zugeben, daß die Landschaft von Durham sehr verschieden war. Sie war immer der Meinung gewesen, Schottland bestehe in erster Linie aus zerklüfteten Bergen, Schluchten und Meilen von ödem Geröll, wohl weil die beiden Reisen, die sie bisher nach Edinburgh gemacht hatte, sie über die Cheviots geführt hatten. Dies jedoch war ein ganz anderes Land, weich und üppig. Sie kamen durch Dörfer mit blühenden Gärten und durch Wälder mit sanft murmelnden Bächen. Doch plötzlich veränderte sich die Szenerie: Sie erreichten eine wildere, ursprünglichere Landschaft, und die Berge am Horizont schienen den Himmel zu berühren.

»Wir sind bald da«, sagte Richard. »Sind Sie müde?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Es war eine lange Fahrt.« Er stockte und fuhr dann fort: »Soll ich mich dafür entschuldigen, daß wir einen Umweg gefahren sind? Nein, ich wage es nicht, jedenfalls nicht in Mattys Hörweite.« Er streckte die Hand aus und boxte Matty gutmütig zwischen die Schulterblätter, worauf dieser ein kurzes Grunzen hören ließ.

Als sie in eine Allee einbogen, verlangsamte das Pferd seinen Gang. »Auch wenn ich stockbetrunken wäre, wüßte ich, daß wir jetzt nach Hause kommen. Pedro ist schon einmalig«, meinte Richard. Er zeigte mit dem Finger auf den schwingenden Rumpf des Pferdes. »Es ist komisch, aber schon seit er zum ersten Mal vor den Wagen gespannt wurde, hat er sich geweigert, schnell zu laufen, sobald er sich auf unserem Land befand. Hier«, er wedelte mit der Hand nach beiden Seiten, »fängt unser Grund und Boden an. Ist es nicht merkwürdig, daß ein Pferd sich so benimmt?«

»Ja, wirklich. Warum tut es das wohl?«

»Ich weiß es nicht. Keiner weiß es. Es ist, als sei ihm klar, daß er sich hier auf sicherem Boden befindet und keinen Grund hat, sich abzuhetzen.«

Nachdem sie etwa eine Meile zurückgelegt hatten, sah Lizzie Richard erstaunt an: »All das … all das gehört zu Ihrem Gut?«

»Ja; aber es ist hauptsächlich rauhes Grasland. Wo es möglich ist, haben wir hie und da ein Stück kultiviert. Sehen Sie, es ist zuviel Arbeit; man bekommt niemanden dafür heutzutage. Es gibt drei Mädchen, die zweimal in der Woche aushelfen, aber sonst haben wir nur Jock ‒ den Viehhirten ‒ und einen Jungen, die sich um das Farmland kümmern können. Nun, ich werde Ihnen morgen alles zeigen.«

Das Pferd änderte die Richtung, passierte zwei eiserne Torflügel und trottete an einem steinernen Häuschen vorbei, das zurückgesetzt zur Rechten lag.

Der Weg war größtenteils mit Gras überwachsen, das zwischen dem Kies hervorsproß; nur zwei Fahrrinnen, in denen das Pferd jetzt bedächtig den Wagen dahinzog, waren frei.

Der Weg schien nicht enden zu wollen, bis Lizzie endlich am Ende eines dunklen, von überhängenden Bäumen gebildeten Tunnels ein niedriges, efeuüberwachsenes Haus erkannte, mit einer flachen Terrasse davor. In den Fenstern, die tief in den sandfarbenen Stein eingeschnitten schienen, spiegelte sich die untergehende Sonne.

Als der Einspänner vor der Eingangstür zum Stehen kam, erschienen auf der Terrasse zwei Gestalten. Richard hatte gesagt, seine Eltern seien alt; deshalb glaubte Lizzie einen Augenblick lang, ein anderes Paar vor sich zu haben, bis die beiden näher keimen. Der Mann, obwohl noch aufrecht, war wirklich alt. Sein immer noch volles Haar war weiß; darunter versank das ganze Gesicht bis hinunter zum Hals in tiefen Hautfalten. Doch seine blauen Augen waren hell und klar, und der Händedruck, mit dem er Lizzie begrüßte, war fest. »Wir freuen uns, daß Sie hier sind. Hatten Sie eine angenehme Reise?«

»Ja, danke.«

»Das ist meine Mutter«, stellte Richard vor. »Mutter, das ist Lizzie.« Er schaute Lizzie an. »Mutter weiß alles über Sie.«

Lizzie und die Frau blickten sich an, als sie sich die Hände reichten. Einen Augenblick lang dachte Lizzie, die Frau müsse weitaus jünger sein als ihr Ehemann; doch dann bemerkte sie den grauen Glanz der braunen Haare, die weißen Strähnen über den Schläfen und die Falten unter den Augen. Und obwohl Mund und Wangen jugendlich wirkten, konnte der Hals das Alter nicht verleugnen. Doch im ganzen gesehen war es ein freundliches, warmes, einladendes Gesicht.

»Hallo, Lizzie.«

»Hallo, Mrs. Boneford.«

»O nein, nicht Mrs. Boneford!« Der große alte Mann war schon auf dem Weg ins Haus. Er drehte sich um und grinste Lizzie über die Schulter hinweg an. »Sie heißt Edith und ich bin James. So wollen wir’s halten, nicht wahr, Lizzie?« Lachend antwortete Lizzie: »In Ordnung, James!«

Als sie die Eingangshalle betraten, blieb Lizzie überwältigt stehen. Sie hatte von solchen Hallen gelesen und Bilder davon in Magazinen gesehen. Aber dies war Wirklichkeit. Von draußen mochte das Haus einen gemütlichen Eindruck erweckt haben, doch jetzt stand sie in einem langgestreckten Raum, dem die sandfarbenen Steinwände ein strenges Aussehen verliehen. Am einen Ende war ein tiefer Kamin eingelassen, vor dem ein Schutzgitter, flankiert von zwei großen Kaminhunden, stand. Es brannte kein Feuer, aber im Kamin stapelten sich halbverbrannte Scheite über einem Haufen Asche. Der Fußboden der Halle bestand aus quadratischen Steinplatten und wurde teilweise von zwei Teppichen bedeckt, deren rote und blaue Farbe im Laufe der Zeit zu einer harmonischen Neutralität ausgeblichen war.

Am anderen Ende, gegenüber der Feuerstelle, ging eine Treppe mit flachen Stufen aus Schwarzeiche zu einem Absatz auf halber Höhe, bevor sie einen Knick in die andere Richtung machte und dort die Teilansicht einer Galerie freigab.

Einige Türen führten aus der Halle, und neben dem Kamin befand sich eine tiefe, steinerne Wölbung, die wer weiß wohin führte. Die Decke wurde von Balken aus dem gleichen Holz wie die Treppe getragen und war von einer hölzernen Zierleiste umgeben, an der in Abständen an Ketten Ölgemälde aufgehängt waren.

»Möchten Sie zuerst eine Tasse Tee, oder würden Sie lieber auf Ihr Zimmer gehen und sich ein wenig ausruhen?«

Lizzie legte den Kopf auf die Seite und antwortete lächelnd: »Ich hätte gerne eine Tasse Tee.«

»Das ist schön, ich auch.« Edith wandte sich zu ihrem Mann: »Sag Phyllis, daß wir soweit sind, ja?«

Der alte Herr drehte sich schwungvoll auf dem Absatz herum und antwortete mit jugendlicher Frische: »Mach’ ich!« In diesem Moment ertönte vom anderen Ende der Halle eine Stimme: »Ich bin hier, Ma’am!« Woraufhin der Hausherr anklagend erwiderte: »Ja, neugierig gewesen! Das war ja nicht anders zu erwarten. Könnten Sie statt dessen nicht mal morgens pünktlich auftauchen?«

Mit leicht geöffnetem Mund starrte Lizzie auf Richards Vater und die Frau in mittlerem Alter, die offensichtlich das Dienstmädchen war. Sie trug ein blaugemustertes Kleid mit weißem Kragen, und um ihre füllige Taille war eine kleine Halbschürze gebunden.

Lizzie sperrte den Mund noch weiter auf, als diese Person in breitem schottischem Dialekt antwortete: »Wenn ich zu ’ner anständigen Zeit ins Bett komme, kann ich auch zu ’ner früheren Stunde aufstehen un’ mich um Sie kümmern. Sie woll’n jetzt Ihren Tee haben, Ma’am?« Sie wandte sich zu ihrer Herrin, und Edith antwortete lächelnd: »Ja, bitte, Phyllis.«

Richard, der Lizzie Hut und Mantel abgenommen hatte, führte sie jetzt durch den Steinbogen und erklärte lachend: »So was werden Sie hier öfter zu hören bekommen. Das geht schon seit Jahren so.«

»Wirklich?« flüsterte Lizzie beeindruckt.

»Ach, das war noch gar nichts; warten Sie nur, bis sie richtig loslegt.« Er öffnete eine Tür für sie. »Sie werden unseren Haushalt wahrscheinlich recht seltsam finden.«

Lizzie gab keine Antwort. Es mochte seltsam sein in diesem Haus, aber bereits jetzt fühlte sie die Wärme, die es ausstrahlte. Es war, als würde das Haus sie umarmen. Doch als sie nun das Wohnzimmer betrat, schnappte sie beinahe nach Luft. Dieser Raum war das ganze Gegenteil der Halle. Zuerst fiel ihr das rosige Grau der Wände und das Blau des Teppichs auf. Eine große chintzbezogene Couch und zwei aus Samt standen zwischen zahlreichen Tischchen und Vitrinen. In ihrem ganzen Leben hatte sie kein so schönes Zimmer gesehen; sie hätte sich ein so schönes Zimmer überhaupt nicht träumen lassen. Trotzdem war deutlich zu sehen, daß es fleißig benutzt wurde, denn als Lizzie sich auf der Couch niederließ, stellte sie fest, daß der Stoff der gepolsterten Armlehnen bis auf Schuß und Kette abgenutzt war.

Von ihrem Platz blickte sie auf einen weiteren offenen Kamin, und in diesem brannte ein gemütliches Feuer.

Nachdem Richard und seine Mutter sich gesetzt und sein Vater sich lässig vor den Kamin gestellt hatte, erlebte Lizzie eine neue Überraschung, als Edith ausrief: »Mein Gott, James, setz dich doch hin! Mir ist kalt! Du fängst die ganze Wärme ab!« Erklärend wandte sie sich an Lizzie: »Ich friere dauernd; und er tut das immer mit Absicht.«

Lizzie wußte nicht, was sie antworten sollte. Sie schaute von einem zum anderen. Richard lächelte über das ganze Gesicht. Sein narbiger Mund schien entspannt, sein gesundes Auge war weit geöffnet; er sah glücklich aus, dachte Lizzie, auf jeden Fall anders als sonst.

»Was treibt Phyllis nur?« meinte James. »Mary muß den Tee doch schon fertig haben. Ich gehe mal nachsehen.«

»Laß nur, Vater. Ich gehe.«

Schweigen breitete sich im Raum aus, nachdem Richard gegangen war. Endlich fragte Edith Boneford leise: »Wie fühlen Sie sich, meine Liebe?« Noch ehe Lizzie antworten konnte, beugte James sich von der anderen Couch herüber und fragte ebenfalls: »Ja, wie fühlen Sie sich?«

Lizzie sah die beiden an und antwortete ruhig: »Gut. Ja, sehr gut.«

»Wann soll es denn kommen?«

Lizzie war ein wenig überrascht, daß Richards Vater eine solche Frage stellte, und sie erwartete eine Zurechtweisung von seiner Frau. Aber Edith sah nur Lizzie erwartungsvoll an. »Etwa Mitte Januar«, erwiderte Lizzie.

»Oh, das ist ein kalter Monat«, bemerkte Edith. »Haben Sie zu Hause jemanden, der sich um Sie kümmert?«

»Ja, meine Mutter, und Meg, eine Freundin, die bei uns wohnt.«

»Ich dachte, Ihre Mutter sei invalide?«

»Ja, aber nicht, wie Sie vielleicht denken. Sie hat eine schlimme Hüfte, aber sie kommt zurecht. Ich … ich werde schon ordentlich versorgt werden. Geoff ist auch noch da. Er ist … er ist«, hilflos bewegte sie die Hände, »nun, Sie wissen vielleicht, daß Mr. und Mrs. Fulton nicht meine Eltern sind. Als ich vierzehn war, kam ich in ihr Haus, um dort zu arbeiten, und sie haben mich sozusagen in Pflege genommen. Geoff, ihr Sohn, war in der Armee und ist kürzlich zurückgekehrt. Er war verwundet; aber jetzt ist er die ganze Zeit zu Hause, und er ist sehr praktisch veranlagt.«

»O ja ‒ ja, wir haben von ihm gehört.«

Der angespannte Ton in Mrs. Bonefords Stimme machte Lizzie verlegen; doch Mr. Bonefords nächste Worte überraschten sie. »Wir wollten Ihnen nur sagen, daß Sie uns willkommen sind, falls Sie ein Heim während Ihrer Wöchnerinnenzeit suchen. Sehen Sie, wir haben Andrew sehr gern gehabt. Er war völlig anders als sein Vater.« Er erhob sich und nahm wieder seinen Platz vor der Feuerstelle ein. Doch diesmal schalt Edith ihn nicht, sondern fuhr da fort, wo er aufgehört hatte: »Ja, wir mochten Andrew sehr gern. Wie James sagte, kam er weder nach seinem Vater noch nach seiner Mutter. Ich war verwundert, als Alida ihrem eigenen Sohn die Tür verschloß. Sie hätte sich ihrem widerlichen Mann entgegenstellen sollen. Doch Alicia konnte nie den kleinsten Skandal vertragen ‒ obwohl sie wissen mußte, daß sie durch ihre Heirat mit Bradford-Brown selbst an Ansehen verloren hatte.«

Lizzie war jetzt wirklich peinlich berührt. Aus der Unterhaltung der Bonefords mußte sie entnehmen, daß diese nicht wußten, daß sie, Lizzie, der Grund war, daß Andrews Familie ihn aus dem Haus geworfen hatte. Andererseits, falls sie es doch wußten ‒ und eigentlich mußten sie es wissen, waren sie einfach taktlos. Trotzdem, es konnte auch etwas anderes dahinterstecken. Lizzie konnte es nicht ergründen.

Als die Tür aufging und Richard mit einem Teewagen hereinkam, gefolgt von Phyllis, die ein vollbeladendes Silbertablett balancierte, wechselten Mr. und Mrs. Boneford übergangslos das Gesprächsthema.

»Haben Sie Gummistiefel mitgebracht?« fragte Mrs. Boneford. »Nun, wahrscheinlich haben Sie nicht daran gedacht, aber in letzter Zeit hat es hier ziemlich stark geregnet, und es ist stellenweise recht morastig.« Ihr Mann nahm den Faden auf und deutete auf Lizzies Sandalen. »Wenn Sie darin herumlaufen, werden wir Sie bis zu den Knien in den Bach stecken müssen, um den Schlamm von Ihren Beinen zu bekommen«, rief er, um danach ruhig zu fragen: »Hätten Sie Lust, ein wenig wandern zu gehen?«

»Nein, das hat sie nicht, Vater«, antwortete Richard an Lizzies Stelle und schob den Teewagen neben die Couch, auf der seine Mutter saß. »Wenn sie auf der Farm und in der nächsten Umgebung herumläuft, reicht das völlig. Du wirst sie nicht auf eine deiner sogenannten Kurzwanderungen mitnehmen!«

»Ich denke gar nicht daran, sie auf eine meiner ›Kurzwanderungen‹ mitzunehmen. Aber ich bin sicher, daß sie ja sagen würde, wenn ich sie frage. Und sie würde es auch schaffen, nicht wahr?« Ohne Lizzies Antwort abzuwarten, verließ er seinen Platz am Kamin und setzte sich in einen großen Ohrensessel.

Phyllis hatte inzwischen das schwere Tablett auf einem Couchtischchen abgestellt und bot ihrem Herrn eine Platte mit Scones an. »Haben Sie keine Augen im Kopf? Wir haben einen Gast!« fauchte Mr. Boneford.

Phyllis zischelte deutlich hörbar zurück: »Wohl hab’ ich Augen, aber Sie woll’n sich doch sonst Ihren Wanst auch immer als erster vollschlagen!« Lizzie senkte den Kopf und verbiß sich ein Lachen. Als Phyllis ihr die heißen, gebutterten Scones anbot, sagte sie blinzelnd zu Lizzie: »Er gibt bloß an«, was bei Richard und Mr. Boneford ein schallendes Gelächter auslöste. Das ist die reinste Komödie, dachte Lizzie. Aber bei einer richtigen Komödie wäre das Dienstmädchen mit einer solchen Frechheit nicht durchgekommen. Es war eine merkwürdige Situation.

Als Phyllis sich einige Minuten später zum Heimgehen fertig machte, rief ihr Herr ihr nach: »Vergessen Sie nicht, morgen rechtzeitig da zu sein!«

»Das werden wir sehen!«

»Und ob! Gehen Sie rechtzeitig schlafen, damit Sie morgen aus den Augen sehen und Ihre Arbeit anständig machen können!« Worauf Phyllis sich umwandte und zurückgab: »Ach Sie! So’n Quatsch!« Dann ging sie und machte leise die Tür hinter sich zu.

»Sie denken sicher, Sie wären in einem Irrenhaus gelandet«, sagte Richard. »Die beiden kennen kein Ansehen der Person. Man sollte meinen, sie könnten sich nicht ausstehen, aber wenn einem von beiden der kleine Finger weh tut, leidet der andere mit.«

»Das stimmt.« Mrs. Boneford reichte Lizzie eine Tasse Tee. Lizzies Hand zitterte, weil sie ein hysterisches Lachen unterdrücken mußte. Sie fühlte sich ganz merkwürdig; es war, als hätte sie wie Alice im Wunderland eine ganz andere Welt betreten. Was sie zuvor nicht bemerkt hatte, fiel ihr jetzt auf: daß die Anspannung, unter der sie seit Wochen gestanden hatte, in diesem Hause von ihr abgefallen war. Sie konnte jetzt mit diesen Menschen, die ihr gegenüber den Regeln, die sie in dieser Gesellschaftsschicht erwartet hatte, so seltsam nonkonformistisch erschienen, unbefangen umgehen.

Während des Abendessens, als Edith Boneford sich über einige Zwischenfälle in diesem Haus ausließ, in das sie vor beinahe dreißig Jahren als junge Ehefrau gekommen war, prustete Lizzie mehrmals lauthals heraus.

Und als Mary Catton, die Köchin, die noch älter war als Phyllis, hereinkam, um beim Auf- und Abtragen zu helfen, wurde sie in die Fröhlichkeit eingeschlossen.

Drei Stunden später sah Lizzie klarer. Sie saß im Morgenrock auf ihrem Bett in einem gemütlichen, aber altmodisch eingerichteten Schlafzimmer. Der Teppich war abgenutzt, besonders neben dem Bett. Das Mobiliar bestand aus solidem Mahagoni. Es gab kein fließendes Wasser, sondern einen Waschtisch mit Marmorplatte, auf dem ein Krug und eine Waschschüssel standen. Das Badezimmer befand sich am Ende des Flurs. Mrs. Boneford hatte Lizzie dieses Zimmer, das eigentlich ein Ankleideraum war, zugeteilt, da es neben ihrem Schlafzimmer und gegenüber dem von Richard lag. Wenn Lizzie also in der Nacht irgend etwas brauchte, wären sie jederzeit bereit. Die Bonefords schienen der Ansicht zu sein, daß Lizzies Niederkunft unmittelbar bevorstand.

Es klopfte an die Tür. Lizzie rief »Herein« und Edith Boneford betrat das Zimmer.

Sie trug einen langen, samtenen Schlafrock mit großem Kragen. Sie sah nun ganz anders aus ‒ alt und zerbrechlich.

Als Lizzie höflich aufstand, sagte Mrs. Boneford: »Setzen Sie sich, Kind.« Es tat Lizzie wohl, Kind genannt zu werden. Edith deutete auf das Bett und fragte: »Darf ich Platz nehmen?«, was Lizzie veranlaßte, über das Betragen dieser Frau nachzudenken, die fragte, ob sie sich auf eines ihrer eigenen Betten setzen dürfe. Dies war Höflichkeit in Vollendung.

Nachdem sie sich gesetzt hatte, betrachtete Mrs. Boneford Lizzie einige Sekunden, dann meinte sie: »Sie werden sich über das Benehmen gewundert haben, das wir seit Ihrer Ankunft an den Tag gelegt haben … nun, ich glaube, ich muß Ihnen das erklären, meine Liebe. Sehen Sie, es ist eine Art von Spiel, in dem jeder von uns eine Rolle hat, besonders James und Phyllis, wie Ihnen zweifellos aufgefallen ist. Wir tun es für Richard. Wir geben vor, alles sei so normal wie vor dem Krieg.« Sie lächelte ein wenig und fügte hinzu: »Auch damals haben James und Phyllis schon ihre Scheingefechte ausgetragen. Sehen Sie, sie sind alle schon so lange bei uns … Mary, Phyllis und Matty. Da waren noch andere, aber sie sind gestorben; und die jüngeren … sind im Kriegsdienst. Die beiden Söhne von Matty sind auf See, und Marys einziger Sohn ist in den ersten Kriegstagen umgekommen.«

Sie beugte sich vor und spielte mit dem untersten Knopf ihres Schlafrocks. »Sie haben keine Ahnung, wie es war, als Richard zum ersten Mal nach Hause kam. Er verkroch sich wie ein verwundetes Tier. Ja, sein Gesicht sieht viel besser aus als damals, als wir ihn zum ersten Mal im Krankenhaus sahen. Und ich habe mir wieder und wieder gesagt ‒ und ihm auch: Es gibt so viele Männer, die noch schlimmer dran sind als er; und er hat doch wenigstens noch einen Teil seines gesunden Gesichts. Doch woran er letztendlich zerbrochen ist, war, daß Janis seinen Anblick und seine Nähe nicht ertrug. Damals war er ein gebrochener Mann. Zu jener Zeit habe ich zum ersten Mal von Ihnen gehört. Wir saßen im Wohnzimmer beim Tee, genauso wie heute, und Richard sah mich an und sagte: ›Heute ist mir ein junges Mädchen über den Weg gelaufen, das mir geradewegs ins Gesicht sah, Mutter; keine Krankenschwester oder Pflegerin, sondern ein ganz normales Mädchen von draußen.‹ Und er fügte hinzu«, hier beugte sie sich vor und berührte Lizzies Hand, »›aber sie war kein gewöhnliches Mädchen. Sie war schön und hat mir direkt ins Gesicht geschaut, und ich konnte ihr ansehen, daß sie sich nicht dazu zwingen mußte. Sie hat auch den Kopf nicht weggedreht, und dann haben wir uns unterhalten.‹ Das war nach seiner ersten Begegnung mit Ihnen. Später hat er mir erzählt, daß Andrew und Sie ein Liebespaar wären, und wie Andrews Eltern reagiert haben.« Edith schluckte und fuhr mit zitternder Stimme fort. »Dann, zu der Zeit, als er hinter Janis’ Affäre mit seinem sogenannten Freund kam ‒ was beileibe nicht ihre erste Eskapade war, aber das Faß zum Überlaufen brachte traten Sie in sein Leben, im wahrsten Sinne des Wortes, und retteten ihn. O ja, er hat uns erzählt, daß er Schluß machen wollte. Und, wie er später gesagt hat, hätte das auch Sie das Leben kosten können.«

Edith blickte auf und schlug leise die Hände auf ihrem Schoß zusammen. Ihr Gesicht wurde etwas fröhlicher. »Das war der Wendepunkt in seinem Leben. Er hat jetzt wieder den Willen zu leben. Und das verdankt er Ihnen.«

Lizzie schüttelte den Kopf. »O nein, nein. Er ist ein tapferer Mann. Er hat sich dem Leben aus eigener Kraft gestellt.«

»Das bezweifle ich, meine Liebe. Dieses Ding namens Stolz hat für einen Mann ein anderes Gewicht als für eine Frau. Egal, wie gewöhnlich ein Mann aussieht, er trägt ein gewisses Maß an Eitelkeit in sich. Eine Frau findet sich mit ihrem unattraktiven Äußeren ab, auch wenn sie manchmal daran verzweifelt ‒ nicht so ein Mann. Auch häßliche Männer können attraktiv sein; aber es gibt einen Unterschied zwischen Häßlichkeit und einem Gesicht, das zu einer grotesken Maske wurde. Nein, meine Liebe, Ihre Freundschaft hat Richard den Mut zurückgegeben, den er verloren hatte. Er war so hübsch früher, und wenn er auch nicht damit geprahlt hat, so wußte er doch, daß er gut aussah. Wenn er seine Paradeuniform trug mit dem schwingenden Kilt, so gab es für mich keinen schöneren Anblick. Ich hoffe deshalb, daß Sie verstehen, warum wir alle uns so benehmen. Er weiß, daß wir spielen, und spielt mit, damit wir uns keine Sorgen um ihn machen. Aber wir sorgen uns natürlich alle um ihn. Jedenfalls«, Edith erhob sich vom Bett, »in zwei Wochen geht er wieder ins Krankenhaus, sie werden etwas an seinem Lid operieren. Wenn sie es schaffen, es zu heben, wird das ein großer Fortschritt sein. Dieser Teil seines Gesichtes sieht am schlimmsten aus.« Sie zuckte die Schultern. »Ich habe so viel geredet, und Sie sind sicher müde. Aber … ich wollte Ihnen das erklären«, fügte sie hinzu, »damit Sie uns nicht für komplette Idioten halten.«

Auch Lizzie war aufgestanden und streckte der Frau nun beide Hände hin. »Ich finde, Sie sind alle wundervoll. Und er auch.«

»Wirklich?«

»O ja. Ich bewundere ihn. Er muß unzählige Male durch die Hölle gegangen sein.«

»Sie sind sehr verständnisvoll. Ich verstehe, warum Andrew bereit war, sein Vermögen für Sie aufzugeben. Gute Nacht, meine Liebe.« Edith beugte sich vor und küßte Lizzie auf die Wange, dann ging sie schnell aus dem Zimmer.

Lizzie ging zu Bett, aber sie konnte nicht schlafen. Nachdem sie die Nachttischlampe ausgemacht hatte, lag sie auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit. Sie dachte nicht nur an Richard und ihre Freundschaft zu ihm, sondern merkwürdigerweise auch an Geoff. Sie wünschte, daß Geoff Richard besser leiden könnte. Dann fragte sie sich, warum sie wohl diesen Wunsch hatte. Einer direkten Antwort wich sie jedoch aus, indem sie sich einredete, daß es doch einfach angenehmer wäre, wenn sie alle drei miteinander befreundet sein könnten; denn sie würde gerne wieder in dieses Haus kommen, in dem alle so freundlich zu ihr waren. Doch Lizzie wußte, daß Geoff sich über diese Besuche ärgern würde, und das wollte sie nicht, denn Geoff war in den vergangenen Monaten so gut zu ihr gewesen, beinahe wie ein Bruder … ein Bruder, der ihr sehr nahestand.

Noch nie im Leben hatte Lizzie sich so wohlgefühlt. Sie war zwar nicht glücklich, denn Glück brachte sie mit Andrew in Verbindung; und das Gefühl für Andrew hatte ihr zuerst Aufregung und dann Schmerz gebracht. Der Schmerz war immer noch da, wenn auch inzwischen etwas gedämpft, besonders, seit sie sich in diesem Hause befand. Alle kümmerten sich liebevoll um sie. Aber sie wollte trotzdem beweisen, daß sie in der Lage war, nicht nur auf der Farm herumzuspazieren, sondern auf dem ganzen Gut zu wandern.

Lizzie hatte die Farmhelferinnen kennengelernt, denen Richard sie als Mrs. Brown vorgestellt hatte. Das war sehr taktvoll von ihm, doch es klang merkwürdig in Lizzies Ohren: Mrs. Brown. Ja, wäre nichts dazwischengekommen, dann wäre sie jetzt eine verheiratete Frau. Doch was machte das? Sie wäre gern bereit, Lizzie Gillespie zu bleiben, wenn nur Andrew noch lebte. Aber in ihr lebte er weiter. Jede Bewegung des Babys tat davon kund.

Richard und Lizzie gingen von der Farm zum Herrenhaus zurück. Die Nacht zog herauf, und Lizzie fühlte sich angenehm müde. Sie war vor einer Stunde hinausgegangen, um sich mit Richard zu treffen, der seine tägliche Stallarbeit absolvierte. Jetzt trug er eine große Milchkanne, während Lizzie einen strohgefüllten Korb am Arm hatte, in dem drei Reihen Eier lagen. Eine Zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte Richard: »Sind Sie müde?«

»Nein«, log Lizzie, »es ist mir nie besser gegangen, ich meine, was Müdigkeit betrifft. Trotzdem wäre ich wohl nicht mehr in der Lage, nochmals mit Ihrem Vater die Runde zu machen.«

»Er ist gedankenlos. Er hätte Sie gestern nicht mitnehmen dürfen.«

»Er ist wirklich nicht weit mit mir gegangen, aber er macht große Schritte, und ich glaube, es war ihm ein bißchen lästig, an meiner Seite zu traben anstatt zu galoppieren.«

Richard lachte. »Meine Mutter weigert sich seit einiger Zeit, mit ihm mitzugehen. Er will sich einfach seinem Alter nicht beugen. Können Sie sich vorstellen, daß er bald achtzig wird? Manchmal habe ich Angst um ihn, weil ich fürchte, daß sein Trotz ihn plötzlich umwirft. Und doch, er sagt, genau das wolle er; und wahrscheinlich hat er recht. Es ist besser, gerade aus dem herausgerissen zu werden, was man immer gern getan hat. Und mein Vater ist immer am liebsten an der Spitze seiner Männer marschiert. Ha!« Richard lachte zärtlich. »Es war schon jedesmal komisch, wenn er Mutter zu einem seiner kleinen ›Spaziergänge‹ überredete. Sie warf sich dann irgendwann völlig verausgabt auf einen Abhang und rief hinter ihm her: ›General, Ihre Truppen sind erschöpft‹.«

Sie lachten beide; dann schwiegen sie, bis Lizzie das Gespräch wieder aufnahm. »Wissen Sie, Richard, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schön diese letzten Tage für mich waren. Ich wünschte, so würde es immer bleiben …«

Als er stehenblieb, blinzelte sie verwirrt und redete hastig weiter: »Ich will damit sagen, daß ich mich so friedlich fühle, denn seit Andrew nicht mehr da ist, war mein Inneres in Aufruhr. Verstehen Sie das?«

»Ja, ich verstehe Sie; und ich bin sehr froh, daß Sie hier ein wenig Ruhe gefunden haben. Ich wünschte …«, Richard schwieg einen Moment und blickte zu Boden, dann wiederholte er: »Ja, ich verstehe Sie. Es kommt eine Zeit, da muß der Schmerz leichter werden oder enden. Wäre es anders, würde man den Verstand verlieren oder Schluß machen wollen.« Er wandte sich wieder Lizzie zu. Sie sah seine rechte, gesunde Gesichtsseite; die Stirn und die linke Gesichtshälfte waren von der Krempe des Tweedhutes beschattet. Lizzie sah den Mann vor sich, dessen Ölporträt an der Wand der Galerie hing. Er war in seiner Regimentsuniform abgebildet und, wie Richards Mutter gesagt hatte, ein gutaussehender Mann. »O Richard«, sagte Lizzie und streckte ihm die Hand hin. Richard ergriff sie und hielt sie fest, während sie auf dem Hügel zum Haus hinuntergingen.

Mit dieser Reaktion hatte Lizzie nicht gerechnet, und nach einiger Zeit entzog sie ihm vorsichtig ihre Hand. »Wenn ich nicht aufpasse, gibt es heute Rühreier.«

»Wissen Sie, daß ich bald wieder ins Krankenhaus gehe?« fragte Richard.

»Ja, Ihre Mutter hat es mir gesagt.«

»Sie wollen mich wieder mal operieren; nicht daß ich bisher große Fortschritte feststellen könnte.«

»Unsinn!« erwiderte Lizzie. »Es ist doch jedesmal besser geworden!«

»Meinen Sie wirklich?«

Sie glaubte, einen Anflug von Erregung aus seiner Stimme herauszuhören, und nickte nachdrücklich. »Ja, das meine ich.«

»Sie … sie wollen sich diesmal an meinem Auge versuchen. Das wird eine sehr knifflige Sache.« Er schwieg kurz und fuhr dann seufzend fort: »Wissen Sie, es ist herrlich, so mit Ihnen reden zu können, Lizzie. Mit meinen Eltern kann ich es nicht, und auch nicht mit irgend jemand sonst. Ich bin immer wieder erstaunt, daß Sie mich als ganzen Mann behandeln.«

»Seien Sie doch nicht albern! Sie sind ein ganzer Mann. Und Sie sind der netteste ganze Mann, den ich kenne«, lächelte Lizzie.

»Ach, Lizzie.« Er sah sie nicht an, sondern ging mit gesenkten Augen weiter. Leise sagte er: »Sie wissen nicht, was das für mich bedeutet, daß jemand wie Sie mich als Mensch ansieht, sich nicht abwendet, sich nicht gezwungen fühlt, höfliche Konversation mit mir zu machen über das Wetter, den Krieg, Rationierungshefte oder, wie manche, über die Annehmlichkeiten, die sie nicht mehr genießen können.« Er warf Lizzie einen Blick zu. »Aber genau das passiert, wenn Mutter Freunde einlädt, zu meinem eigenen Besten, wohlgemerkt! Gott! Es ist jedesmal eine Qual. Trotzdem« ‒ seine Stimme klang wieder munterer ‒»werde ich Sie morgen Paddy vorstellen. Er leitet einen Außenposten des RAF-Radios, draußen in den Bergen. Er ist großartig, er wird Ihnen gefallen.«

Sie näherten sich einem Tor, das in den Hof führte. »Lassen Sie uns durch die Küche gehen«, schlug Richard vor, »Mary freut sich immer, wenn sie Gelegenheit zu einem Schwätzchen hat.«

Doch noch ehe sie Milch und Eier auf dem Küchentisch abstellen konnten, eilte Phyllis auf sie zu. »Hier sind Sie! Ich dachte, Sie kämen gar nicht wieder. Sie wurden zweimal am Telefon verlangt, Mrs. Brown. Es waren Anrufe von Ihrer Familie. Sie sollen sich sofort bei ihnen melden!«

Lizzie warf Richard einen schnellen Blick zu. »Ich hoffe, daß alles in Ordnung ist«, meinte er, und sie erwiderte: »Ich … ich weiß nicht, was los sein könnte.« Sie dankte Phyllis für die Nachricht, dann hastete sie in die Halle, um zu Hause anzurufen.

Nach kurzem Warten meldete sich eine Stimme. »Bist du das, Lizzie?«

»Ja, ich bin’s. Was ist passiert, Geoff?«

»Es ist wegen Mutter. Sie ist sehr krank. Sie hatte heute morgen einen Herzanfall… sie möchte dich sehen.«

»Oh, ich komme, so schnell ich kann, aber ‒«, sie schaute zu Richard, der ihr gefolgt war, »‒ ich glaube, heute nacht schaffe ich es nicht mehr. Aber ich fahre gleich morgen früh los.«

Die Stimme im Hörer wurde harsch. »Warum kannst du heute nicht mehr fahren?«

Auch Lizzies Stimme hob sich jetzt. »Nun, es ist schon sieben Uhr vorbei, und wir sind Meilen vom Bahnhof entfernt, und ich weiß nicht, wann die Züge gehen. Ich werde den ersten morgen früh nehmen.«

»Das könnte zu spät sein. Mutter wird morgen früh vielleicht nicht mehr am Leben sein.«

Lizzie biß die Zähne zusammen, dann sagte sie: »Warte einen Augenblick.« Sie legte die Hand über den Hörer und wandte sich an Richard. »Wenn wir jetzt losfahren, könnte ich dann heute nacht einen Zug nach Durham erreichen?«

Er dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf. »Das bezweifle ich.« Er schaute auf die alte Standuhr. »Es ist sieben Uhr fünfundzwanzig. Vor halb neun könnten wir nicht am Bahnhof sein; die Fahrpläne sind jetzt so ungewiß. Ich weiß, daß ein Zug um sieben Uhr morgens fährt. Den könnten Sie nehmen.«

Lizzie überlegte einen Moment, dann sprach sie wieder ins Telefon. »Der früheste Zug, Geoff, geht morgen um sieben. Wenn ich die Anschlußzüge erwische, bin ich gegen elf in Durham. Ich würde dich dort vom Bahnhof aus anrufen, damit du mich abholen kannst.«

Es dauerte eine Weile, bevor Geoff sich wieder hören ließ. »Nun, wenn das alles ist, was du tun kannst, dann kann man es eben nicht ändern. Ich habe schon vor über einer Stunde angerufen.«

»Ja, möglicherweise hast du das«, Lizzies Stimme war jetzt so scharf wie die von Geoff, »aber zufällig war ich gerade nicht da.«

»Ja, zufällig warst du gerade nicht da. Nun, ich hoffe nur, du kommst noch rechtzeitig, um dich von meiner Mutter zu verabschieden.«

Sie hörte das Klicken, als er auflegte. Hilflos sah sie Richard und seine Eltern an, die inzwischen hereingekommen waren. Ihre Stimme war die eines kleinen Mädchens, als sie sagte: »Ich muß heim. Mam ist sehr krank.«

Edith Boneford ging auf sie zu. »O meine Liebe, es tut mir ja so leid. Wie schade! Geht es um Züge?« fragte sie Richard. »Ja«, antwortete er, »ich glaube es ist am besten, auf den Frühzug zu warten.«

»Könnte ich versuchen, jetzt gleich zum Bahnhof zu fahren und eine Zugverbindung zu bekommen?« wollte Lizzie wissen.

Es war Richards Vater, der antwortete. »Es gab einen Zug, der um zehn Uhr nachts fuhr. Wenn der immer noch fährt und Sie ihn erwischen, werden Sie irgendwann in den Nachtstunden in Durham sein.«

»Dann werde ich es versuchen.«

»Nun, in diesem Fall ‒«, mischte sich Edith Boneford ein, »es ist jetzt halb acht, Sie haben also Zeit, eine Kleinigkeit zu essen. Und was hältst du davon Richard, den Lastwagen von der Farm zu holen? Er ist zwar nicht sehr bequem, aber ihr seid damit viel schneller als mit dem Einspänner.«

»Ja«, nickte Richard. »Das ist eine gute Idee.«

Lizzie ging langsam auf ihr Zimmer und setzte sich dort auf das Bett. Sie beugte sich nach vorne und legte ihre zusammengepreßten Hände zwischen die Knie. Und während sie betete, daß Bertha nichts zustoßen möge, dachte sie auch, Geoff hätte nicht auf diese Weise mit mir reden müssen. Er regte sich immer zu schnell auf. »Ich werde ihn noch mal anrufen«, sagte sie laut, stand auf und begann ihren Koffer zu packen.

Sie hatte ihn gerade auf den Boden neben dem Bett abgestellt, als es klopfte. »Herein«, rief Lizzie und war überrascht, als die Tür sich öffnete und James Boneford eintrat.

Sein weißes Haar, das er sonst immer aus dem Gesicht gekämmt trug, hing ihm unordentlich in die Stirn, als hätte er es mit den Fingern zerrauft. Er befeuchtete seine Lippen und fuhr mit den Fingern innen am Hemdkragen entlang, bevor er zu sprechen anfing. »Wir werden unten keine Gelegenheit mehr haben, ein paar vertrauliche Worte zu wechseln, Lizzie, aber … ich wollte Ihnen einfach ganz persönlich danken für das, was Sie für meinen Sohn getan haben. Er ist … er ist wie ein neuer Mensch, seit er Sie kennengelernt hat. Sie haben sein Leben gerettet, und auch dafür möchte ich Ihnen danken.«

»Oh, Mr. Boneford ‒ James, bitte sagen Sie nichts mehr. Ich habe nichts anderes getan, als mit ihm zu reden, und das tue ich gerne. Es bereitet mir Vergnügen.«

»Mit ihm reden ‒ der arme Kerl. Die meisten Leute können ihn nicht mal zwei Minuten lang ansehen, geschweige denn mit ihm sprechen. Er hat die Hölle durchgemacht. Es war für uns alle die Hölle, denn er bedeutet uns so viel. Aber für ihn war es noch schlimmer, ja.« Er schürzte die Oberlippe, als wollte er seinen gepflegten Schnurrbart in seine schmalen Nasenlöcher stoßen, dann meinte er: »Wenn nur diese andere, die sich seine Frau nannte, einen Funken Ihres Mitgefühls besäße, wie anders wäre dann alles geworden; andererseits«, er rang sich ein schiefes Lächeln ab, »andererseits hätten wir Sie dann nicht kennengelernt, Lizzie, und das war für uns alle eine Freude.«

Lizzie hätte beinahe geantwortet ›Danke, Sir‹, denn sein Benehmen und seine Stimme, die beherrscht und höflich, aber äußerst bedeutungsvoll klang, waren ganz anders als sonst, wenn er sich mit Phyllis kabbelte. Impulsiv beugte Lizzie sich vor und küßte ihn auf den stachligen Schnurrbart, woraufhin James Boneford Lizzie bei den Schultern faßte und ihr einen harten, trockenen Kuß neben die Nase drückte. Dann drehte er sich um und marschierte aus dem Zimmer. Lizzie blieb stehen, und die Tränen kullerten über ihre Wangen. Wenn ich doch nur hierbleiben könnte, dachte sie.

Wie immer aßen sie in dem kleinen Speisezimmer mit dem Tisch für acht, höchstens zehn Personen. Im Hauptspeisesaal, so hatte man ihr gesagt, bot der Tisch, wenn er ausgezogen war, Platz für achtzehn Leute. Die Stühle dort waren lederbezogen, doch hier im kleineren Zimmer standen Hepplewhite-Stühle, deren gepolsterte Sitze von starker Benutzung zeugten. Es war ursprünglich ein Aufwarteraum für den großen Speisesaal gewesen, und nebenan befanden sich noch eine Butlerkammer und etliche andere kleine Arbeitsräume. Die Kammer hatte zwei Türen; eine davon führte in einen Korridor, von dem man in den ehemaligen Aufenthaltsraum der Dienstboten gelangte, von wo aus man wiederum Zugang zur Küche hatte. Nahm man das Dachgeschoß und die Dienstbotenquartiere aus, so zählte das Haus sechsundzwanzig Zimmer und scheinbar zahllose Gänge, in denen Lizzie sich während ihres dreitägigen Aufenthaltes mehr als einmal verlaufen hatte.

Als Lizzie ins Erdgeschoß kam, war das Wohnzimmer noch leer, und sie nahm an, daß sie etwas zu früh dran wäre für das Essen, das entsprechend der Tageszeit aus einem leichten Abendbrot bestand. Oder vielleicht, dachte sie, waren die anderen schon im Speisezimmer.

Auf ihrem Weg dorthin passierte sie den steinernen Bogen und wandte sich nach links in einen der beiden Gänge. Doch erst am Ende des Korridors stellte sie fest, daß sie den falschen genommen hatte, denn dieser führte zum Küchentrakt, was sie an der mit abgenutztem grünem Fries bespannten Tür erkannte, die in die sogenannte Durchreichkammer führte, die ihrerseits wieder einen Zugang zu dem kleinen Speiseraum hatte.

Als Lizzie die Tür öffnen wollte, ließ der Ton von Mrs. Bonefords Stimme sie innehalten. »Richard, Richard! Hör mich an!«

Dann Richards Stimme, die in rauhem Ton antwortete: »Nein, Mutter, nein, das kann ich nicht und ich werde es nicht tun! Es würde alles, was zwischen uns ist, verderben.«

»Sei nicht albern, Richard. Ich sage dir: Frage sie! Sag ihr, daß du warten willst, egal wie lange. Wenn du sie nicht fragst, wird es dir leid tun, denn jemand anders wird sie dir wegschnappen. Ein Mädchen wie sie wird zu keiner Zeit lange in Ruhe gelassen, und jetzt erst recht nicht.«

»Mutter! Hör mir zu! Sie mag mich, sie betrachtet mich als Freund; und was noch mehr ist, sie kann mich ansehen. Ich will, daß sie mich auch später noch ansieht, aber wenn ich sie jetzt frage, wird sie gehen und nie wiederkommen. Andrews Andenken ist noch frisch in ihr. Das Unglück ist noch nicht lange her, und sie ist in anderen Umständen. Es wäre taktlos, sie jetzt zu fragen.«

»O Richard, mein Liebling, du kennst die Frauen nicht. Du hast von Anfang an immer die falsche Wahl getroffen. Ich habe versucht, das anzudeuten, aber du hast nicht auf mich gehört. Deshalb höre jetzt auf mich! Dieses Mädchen braucht jemanden, der sie hebt ‒ und das Kind, das sie erwartet. Sie hat uns alle gern, das weiß ich. Dein Vater hält sie für einen wundervollen Menschen und … und vergiß nicht, daß Mary einen Narren an ihr gefressen hat. Mary ist wie ein Barometer. Sie konnte Janis von Anfang an nicht leiden, aber Lizzie … Weißt du, was sie gestern zu mir gesagt hat? ›Missis‹, sagte sie, ›das wäre die Richtige gewesen.‹«

»Um Gottes willen, Mutter, sei still und hör mir zu. Ein für allemal: Ich kann Lizzie nicht bitten, mich jetzt zu heiraten. Auch wenn sich etwas ändern würde, könnte ich es nicht. Sogar, wenn mich die Ärzte soweit zurechtflicken, daß die kleinen Kinder nicht mehr vor mir erschrecken, hätte ich doch immer noch das Gefühl, ich sei ein Ungeheuer. Ich bin dankbar für das, was wir haben: Wir sind Freunde, wir können miteinander reden. Wenn ich sie nicht sehe, weiß ich, daß ich sie jederzeit anrufen und mich mit ihr unterhalten kann. Sie würde sogar herkommen, so wie jetzt, und ich könnte eine Zeitlang ihre Gesellschaft genießen; aber mehr als das ‒ nein, Mutter! Du weißt nicht, was du von mir verlangst. Sich vorzustellen, daß ich jemals wieder einem Mädchen einen Heiratsantrag machen kann! Nein! Noch dazu jemand wie Lizzie. Gütiger Gott, niemals!«

In der darauf folgenden Stille ging Lizzie mit angehaltenem Atem und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, damit ja kein Bodenbrett knarrte, den Weg zurück, den sie gekommen war.

In der Halle traf sie auf Mrs. Boneford, die durch den anderen Gang gekommen war und sofort auf Lizzie zueilte. »Was ist los, meine Liebe? Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen so blaß aus.«

»Ich … ich …«, Lizzie fand keine Antwort.

»Ich glaube nicht, daß Sie heute nacht fahren sollten.«

Endlich konnte Lizzie sich einige Worte abringen. »O doch, ich muß unbedingt fahren.«

»Nun, dann kommen Sie mit und lassen Sie uns essen. Sie haben eine lange Reise vor sich …«

Es fiel zwar auf, daß Lizzie kaum etwas aß und außer ›bitte‹ und ›danke‹ nichts zu sagen wußte, doch schrieb man das der Sorge um ihre Mutter zu. Auch als sie sich von Mary und Phyllis verabschiedete und James und Edith sie umarmten, fand sie nur wenige Dankesworte, während ihre Gastgeber ihr erzählten, wie sehr sie sich über ihren Besuch gefreut hatten, und daß sie bald wieder für längere Zeit kommen müsse, und zwar noch vor der Geburt des Babys, da sie im Winter hier oft eingeschneit würden … Zuletzt sagte Edith noch: »Das wäre doch wunderbar, wenn wir eingeschneit wären und Sie das Baby hier zur Welt bringen würden, nicht wahr?« Und Lizzie hatte es geschafft, lächelnd zu antworten: »Kälte vertrage ich nicht gut.« Woraufhin James ausrief: »Ich werde für Sie in jedem Zimmer ein Riesenfeuer im Kamin anzünden, meine Liebe …«

Lizzie und Richard sprachen wenig, während sie durch die Nacht fuhren. Zweimal kam er mit dem Wagen von der Straße ab, doch landete er glücklicherweise jedesmal auf einem Grasstreifen und nicht im Graben. Er entschuldigte sich verlegen und meinte, er wäre mehr daran gewöhnt, einen Einspänner zu lenken als ein Auto.

Es war eine anstrengende Fahrt, und Lizzie war dankbar, als sie die Ausläufer der Stadt erreichten und die holprigen Landstraßen hinter sich hatten.

Vom Bahnhof aus rief sie wieder zu Hause an. Diesmal war Meg am Apparat. »Bist du das, Mädel? Bin ich froh, deine Stimme zu hören, wahrhaftig. Und du bist jetzt auf dem Weg? Das sind gute Nachrichten, Bertha wird glücklich sein. Hier ist Geoff.«

»Du wirst also noch einen Zug erwischen?« fragte er.

»Ja«, gab Lizzie kurz zurück, »aber es ist ein Bummelzug. Ich weiß nicht, wann ich ankomme; wahrscheinlich mitten in der Nacht. Ich werde dich vom Bahnhof in Durham aus anrufen.«

»Ich werde mich über die Verbindungen erkundigen und dich abholen.«

»In Ordnung. Wie geht es Mam?«

»Nicht gut. Gar nicht gut.«

»Ich … ich werde bald da sein.«

»Gut, Lizzie, gut.« Seine Stimme klang mm sanfter.

Lizzie hängte den Hörer ein und blickte den Bahnsteig entlang, von wo aus Richard auf sie zukam.

»Sie haben Glück, der Zug geht um halb zehn.« Er nahm ihr Gepäck. »Kommen Sie, er steht schon auf dem Gleis.«

Durch die trübe erleuchteten Abteilfenster konnte man erkennen, daß der Zug vollbesetzt war. »Sie steigen jetzt besser ein, aber bleiben Sie nicht stehen; setzen Sie sich im Gang auf Ihren Koffer«, riet Richard. Er öffnete die Waggontür und hievte Lizzies Koffer in den Zug. »Wenn ein paar anständige Leute drin sind, wird Ihnen jemand einen Platz anbieten.« Sie blickten einander in dem schwachen, grünlichen Licht an.

»Es tut mir leid, Lizzie, daß Sie uns so verlassen müssen; aber Sie werden mich anrufen und mich wissen lassen, wie es Ihrer Mutter geht, nicht wahr?«

»Ja, das werde ich, Richard.«

»Für mich waren das drei wundervolle Tage«, sagte Richard, und seine Haut bewegte sich dabei wie starres Pergament.

»Für mich war es auch schön, Richard.«

»Werden Sie wiederkommen?«

»O ja, ganz bestimmt. Ich komme sehr gerne wieder.« Sie konnte das bedenkenlos sagen, denn sie hatte noch seine Worte im Ohr: ›Ich werde sie niemals bitten, mich zu heiraten.‹ Das machte die Entscheidung einfach.

Lizzie hatte niemals in Erwägung gezogen, Richard zu heiraten, aber ‒ hatte sie nicht bemerkt, daß er ihr mehr als nur Zuneigung entgegenbrachte? Doch, es war ihr aufgefallen; aber wie er selbst gesagte hatte, er würde niemals erwarten, daß sie ihn heiratete.

Sie reichte ihm die Hand. »Ich sollte jetzt lieber einsteigen. Auf Wiedersehen, Richard, und danke.« Sie beugte sich vor und berührte seine Lippen mit ihrem Mund. Das war keine Grausamkeit. Es war nichts weiter als ihre Art, sich für seine Güte erkenntlich zu zeigen; sie konnte ihn küssen, da sie wußte, daß er von ihr nie etwas anderes verlangen würde.

Er erwiderte den Kuß nicht, sondern stand bewegungslos, bis Lizzie eingestiegen war und die Hand ausstreckte, um die Waggontür hinter sich zu schließen; erst da rührte er sich wieder und warf die Tür zu.

Ein Pfiff ertönte.

»Auf Wiedersehen, Richard. Ich werde Sie anrufen.«

»Auf Wiedersehen, Lizzie.« Mehr sagte er nicht. Er bewegte sich nicht; und das letzte, was Lizzie aus dem Fenster sah, war der Umriß eines großen Mannes unter einem trüben, grünen Licht.

Die Reise war ein Alptraum. Niemand bot ihr einen Sitzplatz an. Im Korridor standen Leute. Wie Lizzie da auf ihrem Koffer hockte, bot sie das Bild einer jungen, gesunden Frau, die die Unbequemlichkeiten der Fahrt ebenso gut ertragen konnte wie die anderen Passagiere.

Auf der Strecke von Newcastle nach Durham wurde es etwas besser. Lizzie ergatterte einen Platz zwischen einigen schlafenden Soldaten, die nach schalem Bier und Schnaps rochen.

Es wurde schon fast hell draußen, als sie endlich in Durham hielten. Als sie aus dem Waggon stolperte, fiel sie beinahe in Geoffs Arme. »Was für eine Reise! Es war ein Alptraum!« stieß sie hervor.

Geoff ging neben ihr und trug den Koffer. An der Sperre händigte Lizzie ihre Fahrkarte einem Kontrolleur mit entzündeten Augen aus. Dann waren sie draußen auf der Straße, und sie atmete tief die frische Luft ein, bevor sie fragte: »Wie geht es ihr?« Geoff blickte auf sie hinab. »Sie ist heute nacht um halb zwei gestorben«, sagte er.