Kapitel 1

Es war jetzt zwei Monate her, daß sie Bertha begraben hatten. Ihr Tod schien jedes Mitglied des Haushalts verändert zu haben, am allermeisten John. Er glich einer ›verlorenen Seele‹, wie er morgens aus dem Haus ging und sich, wenn er von der Arbeit wiederkam, in irgendeinen Sessel hockte und auf das Piano starrte, als könne er Bertha dort spielen sehen.

Manchmal redete er, meistens mit Geoff, über den Krieg. Das Blatt wendete sich, seit die Amerikaner eingegriffen hatten. Das lag an den vielen Zerstörern, die sie ausschickten, und die so viele deutsche U-Boote versenkten. Allein in diesem Jahr hatten sie fünfzig vernichtet.

John sprach über den Krieg, als würde er sich für diese Vorgänge interessieren, aber alle wußten, daß er nur die Schlagzeilen wiederholte, die er am Morgen in der Zeitung gelesen hatte. Er war wirklich ein verlorener Mann. Bertha war sein Halt gewesen, so wie er sich in seinen frühen Jugendtagen an seinen Bruder geklammert hatte. Die einzige wirklich selbständige Tat in seinem Leben war die Heirat mit Bertha gewesen. Und jetzt gab es Bertha nicht mehr; nur das Bild, das er heraufbeschwor, wenn er auf das Piano starrte, war ihm geblieben.

Auch Geoffrey hatte sich verändert, jedoch auf andere Weise als sein Vater; er hatte die Regie im Haus übernommen und sich stillschweigend zum Haushaltsvorstand ernannt. Er verließ sein Zuhause nur, wenn er zu einer Routineuntersuchung ins Militärhospital mußte. Als man ihn einmal zwei Nächte dort behielt, kam er sehr beunruhigt nach Hause. Er schien aber nicht so sehr um das Wohlergehen seines Vaters, sondern mehr um das von Lizzie besorgt zu sein.

Lizzie hatte gearbeitet, bis sie vor einer Woche wegen einer Erkältung zu Hause bleiben mußte. Das Wetter war unangenehm. Morgens waren die Fensterscheiben von Reif überzogen, und gelegentlich ging ein Graupelschauer nieder. Geoff bestand darauf, daß der Arzt ins Haus kam, obwohl Lizzie beteuerte, sie habe nur eine Erkältung. Nach der Untersuchung riet ihr der Arzt, die Arbeit auf der Stelle aufzugeben und sich auszuruhen. Ihre Beine waren geschwollen, und sie gestand, daß sie sich schon seit einiger Zeit nicht gut gefühlt hatte.

Als der Arzt an jenem Morgen ging, sprach er mit Geoff, als wäre dieser der Ehemann: »Passen Sie gut auf sie auf. Wenn sie genügend Ruhe hat, dürfte es keine vorzeitigen Wehen geben.« Und wie ein Ehemann hatte Geoff geantwortet: »Ja, ich werde mich darum kümmern. Ich werde darauf bestehen.« Das gleiche sagte er zu Lizzie, als er wieder in ihr Schlafzimmer kam.

»Weißt du, was der Doktor gerade gesagt hat?«

»Nein, was hat er denn gesagt?«

»Du sollst auf dich aufpassen. Wenn du keine vorzeitigen Wehen riskieren willst, mußt du dir Ruhe gönnen; also tu, was man dir sagt.«

»Hör zu«, gab sie zurück, »du brauchst keinen Aufstand deswegen zu machen. Ich habe nur eine leichte Erkältung; ich weiß schließlich, wie ich mich fühle.«

»Das denkst du vielleicht, aber ich meine, der Arzt weiß es besser. Ich werde morgen deinem Vorgesetzten Bescheid geben.«

»Das wirst du nicht tun. Ich kann schließlich noch laufen; deshalb werde ich hingehen und es ihm selbst sagen. Also bitte, Geoff«, sie hob abwehrend die Hand, »überlaß das mir.«

Geoff stand neben dem Bett und schaute auf Lizzie hinunter. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte er weich.

Sie flatterte nervös mit den Augenlidern und wandte sich von ihm ab. »Ich bin dir sehr dankbar, Geoff, wirklich; aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es werden ständig Babys geboren, und Meg ist auch noch da, um mir beizustehen.«

»Sie ist alt.«

»Alt!« wiederholte Lizzie aufgebracht. »Vielleicht ist sie alt den Jahren nach, aber sie ist noch immer sehr rüstig und hat einen vernünftigen Kopf auf ihren Schultern; das ist mehr, als mancher von sich behaupten kann.«

»Willst du damit sagen, daß sie dir besser helfen kann als ich?«

»Ja, in diesem Fall schon, denn sie ist eine Frau.«

Lizzie lächelte jetzt wieder, und nach kurzem Zögern lächelte Geoffrey zurück. »Es gibt auch männliche Krankenpfleger; ich hatte schon mit einigen zu tun, und an einen erinnere ich mich besonders gut: Er hatte eine Stimme wie ein Muttersöhnchen, aber Hände wie ein Schaufelbagger. Einmal habe ich zu ihm gesagt: ›Es ist eine Schande, daß deine Hände nicht mit deiner Stimme tauschen können.‹ und er antwortete ganz beleidigt: ›Was denn, was denn! Du bist ja ein komischer Kerl.‹ Ich gab zurück: ›Nicht halb so komisch wie du!‹ Da ist er aus dem Zimmer gerauscht wie ein arrogantes Mädchen. Wir hatten in unserer Krankenabteilung mehr Spaß mit ihm als mit einer ganzen Komikertruppe.«

»Der Arme!«

»Ja, vielleicht«, nickte Geoffrey.

Bei dem Gespräch über Krankenhäuser fiel Lizzie ein, daß sie sich seit einigen Tagen nicht mehr nach Geoffs Befinden erkundigt hatte. Darum fragte sie: »Wie geht es deinem Bein?«

»Prima!« Er klatschte sich auf den Schenkel. »Aber schau, meinem Arm geht’s besser!« Er hob seinen Unterarm in Brusthöhe. »Das konnte ich bisher nicht, aber es scheint, als würden die Muskeln wieder anfangen zu arbeiten. Ich hätte nie geglaubt, daß das möglich wäre.«

»Siehst du«, lächelte Lizzie, »das kommt davon, wenn man den Hausmann spielt. Es gibt nichts Besseres als Hausarbeit, um seine Muskeln zu trainieren.«

»Da hast du recht. Ich dachte erst heute nachmittag, wenn die Jungs mich jetzt sehen könnten!« Sein Gesicht wurde wieder ernst. »Fehlt dir die Armee?« fragte Lizzie.

Geoff dachte nach. »Ja und nein. Manchmal vermisse ich die Kameradschaft, die Hektik, die Aufregung …« Er schaute über das Bett hinweg ins Leere. »Das Vorstürmen, das Geschrei in einer Minute und die Stille in der nächsten, wenn man sich wie die Taubstummen nur durch Zeichen verständigte. Diese stillen Zeiten waren die schlimmsten, wenn man sich auf dem Bauch vorwärtsschob, einerseits krank vor Angst, andererseits fast verrückt danach, aufzuspringen, zu rennen, zu schießen, zu stechen, zu verwunden ‒ zu töten!«

Lizzie hatte sich aufgerichtet und rief mit scharfer Stimme: »Geoff ‒ Geoff!« Verwirrt kehrte er in die Gegenwart zurück. »Siehst du«, sagte er, »es geht schon wieder los.« Er lachte. »Das war nur das Vorspiel zu dem großen Film!«

Lizzie sah ihn an und fragte leise: »Also haben Männer doch Angst vor der Schlacht?«

Geoff wandte sich abrupt von ihr ab und ging zur Tür. Mit scharfer Stimme sagte er, bevor er hinausging: »Jeder, der das Gegenteil behauptet, ist ein verdammter Lügner, oder er ist verrückt und gehört in eine Anstalt.«

Lizzie ließ sich in die Kissen zurücksinken und starrte auf die geschlossene Tür. Auf seine Art, dachte sie, ist Geoff genauso verletzt wie Richard, nur sind seine Narben unsichtbar. Und doch hatte sie ihn gelegentlich seine Schmerzen herausschreien hören. Als sie ihn zum ersten Mal des Nachts gehört hatte, war sie auf den Korridor geeilt, wo Meg bereits vor seiner Tür stand. Seit seine Mutter gestorben war, war das mehrmals vorgekommen.

Während sie dalag, hörte sie von unten das Klingeln des Telefons. Als Meg ihr kurz darauf eine Tasse Tee ans Bett brachte, fragte Lizzie sie beiläufig: »Wer war am Telefon?« Meg ließ sich auf den Bettrand fallen und antwortete: »Es war Mr. Richard.«

»Warum hast du mich nicht gerufen?«

»Geoff ist rangegangen. Er hat ihm gesagt, daß es dir nicht gutgeht.«

»So ein Unsinn! Richard wird sich womöglich in den nächsten Zug setzen, um nach mir zu sehen. Das hat Geoff mit Absicht gemacht!«

»Warum sollte er das tun?« fragte Meg mit durchdringendem Blick.

»Weil…, weil er Richard nicht leiden kann, darum.«

»Nun, vielleicht hat er seine Gründe dafür?«

»Was soll das heißen?«

»Na ja, du scheinst dich ziemlich für Richard zu interessieren, obwohl ihr angeblich nur gute Freunde seid.«

Lizzie beugte sich zu Meg vor. »Nun, Meg, dann laß mich das klarstellen: Genau das sind wir ‒ gute Freunde! Und das werden wir auch bleiben. Er tut mir leid. Er hat mir von Anfang an leid getan, und in seiner Lage kann man ein wenig Freundlichkeit gut vertragen.«

»Du weißt doch«, sagte Meg und erhob sich vom Bett, »es heißt, daß Mitleid und Liebe einander sehr ähnlich sind.«

»Ach Meg, sei nicht albern.«

Meg drehte sich herum, stützte die Hände aufs Bett und schob ihr Gesicht nahe an das von Lizzie. Ruhig, aber bestimmt sagte sie: »Mädel, du bist nicht dumm, aber … ich möchte dir eines sagen: Du verschließt deine Augen vor etwas! Der da unten« ‒ sie deutete mit dem Daumen auf den Fußboden ‒ »ist nicht mit dir verwandt, er ist nicht mal ein Cousin dritten oder vierten Grades, und jeder, der Augen im Kopf hat, kann sehen, woher bei ihm der Wind weht.«

»Bitte, Meg!«

»Na gut«, Meg richtete sich wieder auf, »du kannst ruhig tun, als ob nichts wäre, aber eins ist klar, Mädel: Er scharwenzelt nicht die ganze Zeit um dich herum, nur um seine Füße warm zu halten. Schon als seine Mutter noch gelebt hat, war mir klar, woran er gedacht hat, besonders, als du damals in Schottland warst. Jawohl, er hat sich benommen wie ein verwundeter Bär. Und weißt du, was Bertha noch zu mir gesagt hat, bevor sie von uns gegangen ist? Sie sagte: ›Lizzie wird hier immer ein Zuhause haben, solange Geoff da ist.‹ Das hat sie gesagt!« Meg wedelte mit dem Zeigefinger. »Also, Mädel, schau mich nicht so an. Ich bin ein wenig älter als du und weiß genug über Kummer; du kannst nicht immer Trauer tragen. Irgendwann mußt du dich überwinden, weiterzumachen und über die Zukunft nachzudenken. Du erwartest ein Kind. Es wird ein gutes Zuhause brauchen, und ein besseres als hier wirst du nirgends finden, und auch keinen besseren Mann als Geoff. Natürlich hat er seine Fehler, aber wer hat die nicht? Manchmal führt er sich auf wie der liebe Gott persönlich. Aber ihm gehört dieses Haus, denn sein Vater wird nicht mehr heiraten, das steht fest, und Geoff wird eine anständige Pension erhalten und sich dazu einen leichten Job suchen. Du könntest dich hier gemütlich für den Rest deines Lebens niederlassen. Denk darüber nach und frage dich, was für Alternativen du hast.« Jetzt grinste sie, daß ihre Augen fast in den Krähenfüßen verschwanden. »Alternative, ist das nicht ein tolles Wort von mir? Und«, fügte sie hinzu, »du magst ihn doch, oder?« Lizzie wandte den Kopf ab und schaute an die Decke. »Du magst ihn doch, oder?« wiederholte Meg, und Lizzie antwortete leise: »Ja, ich glaube schon. Aber mögen und lieben ist nicht das gleiche.«

»Ich will dir mal was erzählen: Meine Mutter hatte eine verteufelt schwere Zeit mit meinem Pa. Er hat gesoffen wie ein gestrandeter Wal. Einmal habe ich sie gefragt: ›Warum machst du das mit? Warum gehst du nicht einfach? Du liebst ihn doch nicht, du kannst ihn nicht lieben.‹ Und sie sagte: ›Nein, vermutlich nicht, aber ich habe ihn gern, und das hält länger als Liebe.‹ Damals war ich noch jung und konnte das nicht glauben. Aber Jahre später habe ich es selbst erlebt. Wenn man jemanden liebt, ohne von Anfang an gute Kameraden zu sein, wird man diese Kameradschaft auch nur sehr, sehr selten aufbauen können. Aber wenn man sich gern hat, wird in neun von zehn Fällen Liebe daraus. Außerdem gibt es alle möglichen Arten von Liebe. Na! Jetzt schwatze ich schon wieder! Jedenfalls ‒ möchtest du, daß ich Richard anrufe und ihm sage, daß du nicht im Sterben liegst, damit er nicht unverhofft vor der Tür steht?«

Lizzie überlegte einen Moment. »Ja, bitte. Und sag ihm, daß ich ihn morgen anrufe.«

»Mach’ ich, Mädel. Jetzt leg dich hin und genieß deinen Schnupfen.«

Als Meg ging, hinterließ sie in Lizzies Gedanken ein großes Fragezeichen. Die dazugehörige Frage lautete: »Könnte ich Geoff heiraten?« Sie dachte lange nach, bis sie sich eine Meinung gebildet hatte. Ja, möglicherweise, aber … jetzt noch nicht; nicht, ehe der Schmerz um Andrew abgeklungen ist.

Es war am Tag vor Heiligabend. Lizzie ging die Treppe hinab und befand sich auf der vorletzten Stufe, als sie stolperte und dem herbeieilenden Geoff, der gerade durch die Diele ging, in die Arme fiel. Sie lag einige Sekunden an seiner Brust, wobei ihr vorgewölbter Bauch eine Berührung der Gesichter verhinderte. »Beim dritten Mal erwischt es einen«, sagte Geoff leise. »Was?« fragte Lizzie verwundert.

»Beim dritten Mal erwischt es einen. Du erinnerst dich doch?«

Langsam löste sich Lizzie von ihm. »Woran sollte ich mich erinnern?«

»Nun«, Geoff wies auf die Küchentür, »es war einmal, vor vielen Jahren, daß ich beinahe ein junges Mädchen umwarf, als ich die Küchentür öffnete; und als ich sie auffing, da sagte sie zu mir: ›Beim dritten Mal erwischt es einen.‹«

Lizzie mußte lachen. »Du liebe Zeit! Ich kann mich kaum daran erinnern, aber … daß du das noch weißt!«

Geoff ging neben ihr her zum Wohnzimmer. »Ich kann mich noch an vieles über dich erinnern aus den wenigen Tagen, bevor ich damals ins Ausland versetzt wurde. Und merkwürdigerweise warst du in meinen Gedanken immer das kleine Mädchen, bis ich zurückkam und plötzlich eine junge Frau vor mir stand. Es war wie ein Schock für mich. Und«, er beugte sich vor, um ihr die Tür zu öffnen, »vergiß nicht, daß ich dich vor der Fabrik gerettet habe.«

»Nein, das habe ich niemals vergessen, Geoff«, antwortete Lizzie, während sie das Wohnzimmer betrat.

Geoffs Gesicht wurde ernst. »Ich habe das scherzhaft gemeint; ich will dafür keine Verdienstmedaille. Wer weiß, vielleicht wärst du als Fabrikbesitzersgattin geendet, wenn du hingegangen wärst.«

Lizzie lachte. »Ja, du hast recht; es haben sich schon merkwürdigere Dinge ereignet. Vielleicht hätte er eine Pflegerin im Alter gebraucht.«

Kichernd gab Geoff zurück: »Stimmt, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie du einen Rollstuhl umherschiebst.«

Er wurde wieder ernst, und in seiner Stimme schwang ein trauriger Unterton mit, als er fortfuhr: »Meinst du nicht auch, daß das ein seltsames Weihnachtsfest wird, ohne Mam? Ich mache mir Sorgen um Dad. Er scheint so gleichgültig gegenüber allem, was im Haus und außerhalb vorgeht. Merkwürdig«, er setzte sich Lizzie gegenüber, die sich auf der Couch niedergelassen hatte, in einen Sessel, »manche Männer können nur einmal lieben. Sie sind nicht in der Lage, die gleichen Gefühle einer anderen Frau entgegenzubringen. Ob das gut oder schlecht ist, kann ich nicht entscheiden.«

»Das kannst du nicht?« wäre es Lizzie beinahe entfahren, denn als sie über eine mögliche Zukunft an Geoffs Seite nachgedacht hatte, war ihr natürlich auch seine Verbindung zu Richards Frau in den Sinn gekommen.

Es gab Zeiten, in denen sie sich nach Richards Gegenwart sehnte, ein Gefühl, das sie selbst nicht erklären konnte; es sei denn, weil sie sich so gut mit ihm unterhalten und auch mit ihm lachen konnte. Sie schienen dieselbe Art von Humor zu besitzen.

Bertha hatte immer viel von Geoffs Sinn für Humor gesprochen. Auch Lizzie war der Meinung, daß er ein großer Spaßmacher war, aber sie fand seinen Humor einseitig. Häufig war es Geoff selbst, der das größte Vergnügen an seinen Witzen hatte, während die Opfer seiner derben Scherze davon meist weniger begeistert waren.

Lizzie sah ihn an und überlegte, warum sie ihn jetzt auseinandernahm. Das war dumm und unfreundlich, nun, wo sie so gut miteinander auskamen. Er war so besorgt um sie, und sie sollte froh sein, daß sie ihn hatte. Und das war sie auch, o ja!

In ihre Überlegungen hinein läutete das Telefon. Geoff stand auf und wollte zur Tür gehen, als diese sich öffnete und Meg rief: »Es ist Mr. Richard!«

»Ich gehe ran«, sagte Geoff.

»Nein, bitte«, rief Lizzie, »laß mich das machen.« Sie erhob sich mühsam von der Couch und ging an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. Sie war sich bewußt, daß er sie genau beobachtete.

In der Diele nahm sie den Hörer auf. »Hallo, Richard.«

»Hallo, Lizzie. Wie geht’s Ihnen?«

»Es geht mir gut, danke. Und Ihnen?«

»Auch gut. Ich … ich bin in Newcastle. Könnte ich wohl bei Ihnen vorbeikommen?«

»O ja, bitte tun Sie das. Woher kommen Sie gerade? Aus dem Krankenhaus?«

»Nein, von zu Hause. Aber ich hatte geschäftlich in der Gegend zu tun, und dachte, ich schaue bei Ihnen vorbei.«

»Ich würde mich sehr freuen, Sie zu sehen.«

»Schneit es bei Ihnen?«

»Nein, keine Spur. Die Straßen sind frei.«

»Dann werde ich wohl in einer guten Stunde da sein.«

»Das wäre wunderbar, Richard. Auf bald!«

Als sie den Hörer auflegte, sah sie Geoff in der Wohnzimmertür stehen. Er ging nicht zur Seite, als sie an ihm vorbei wieder ihrem Platz auf der Couch zustrebte, sondern blieb stehen und äffte sie nach: »Ich würde mich freuen, Sie zu sehen; das wäre wunderbar, Richard.« Als sie sich gesetzt hatte, stellte er sich vor sie und sagte ernst: »Ich hoffe, du weißt, daß du ihn auf Ideen bringen könntest.«

Lizzie blickte zu ihm auf. »Ja, Geoff, das weiß ich. Eine dieser Ideen könnte es sein, daß er in mir eine Freundin hat; und gleichgültig, was du sagst oder denkst, das werden wir auch bleiben. Er wird immer mein Freund sein.«

»Ach, wenn du das so siehst …«

»Ja, so sehe ich das.«

»Nun, ich denke, wir sollten das miteinander ausdiskutieren.«

Lizzie starrte ihn an. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Ach, Lizzie, das weißt du doch genau. Ich … ich werde warten, bis das Kind geboren ist, und dann bringen wir alles in Ordnung, was?«

Er wartete auf eine Antwort, erhielt aber keine. Daraufhin drehte er sich brüsk um und marschierte aus dem Zimmer.

Lizzie hatte sehr energisch geklungen, als sie über ihre Freundschaft zu Richard gesprochen hatte. Aber sie konnte nicht alles haben. Geoff war ein Mann, der mit niemandem teilen würde. Merkwürdig, daß sie zu einer Wahl gezwungen wurde; aber sie mußte an ihre Zukunft und die des Kindes denken. Dies hier war ihr Zuhause, sie war hier glücklich gewesen und konnte es mit der Zeit vielleicht wieder werden. Sie durfte nicht immer nur an sich selbst denken. Sie war alles, was John und Geoff jetzt noch hatten. Meg würde nach Shields zurückkehren, wenn der Krieg vorüber war; daß ihr Herz an Shields hing, bewies sie durch ihre ständigen Fahrten dorthin, um sich über das Wohl und Wehe der Stadt zu unterrichten.

Nun, somit stand es fest. Jetzt mußte sie noch Richard schonend ihre Absichten beibringen; und er, anständig wie er war, hätte Verständnis für ein Abkühlen ihrer Freundschaft. Aber ‒ ob er das wohl wirklich hätte, nach dem, was er für sie fühlte? Armer Richard. Und warum litt sie schon jetzt mit ihm…?

Es dauerte nicht eine, sondern beinahe zwei Stunden, bis er vor der Tür stand. Lizzie bemerkte sofort die Verbesserung in seinem Gesicht, aber sie sagte nichts.

In der Küche schüttelte Richard Meg herzlich die Hand. Er hatte zwei flache Päckchen dabei, die er nun auf den Küchentisch legte. Eines davon schob er Meg zu. »Frohe Weihnachten, Meg. Das ist von meiner Mutter.«

»Für mich? Ein Geschenk von Ihrer Mutter? Wenn das nicht nett ist!« Sie schaute Lizzie an. »Ist das nicht nett, und das, obwohl sie mich gar nicht kennt!«

Richard gab Lizzie das andere Päckchen. »Das ist auch von meiner Mutter, aber fragen Sie mich nicht, woher sie die Wolle hat, denn sonst müßte ich sagen, sie hat Freunde bei Hof… und auf den Inseln.«

Lizzie und Meg öffneten ihre Pakete. Meg hielt einen Fair-Isle-Pullover hoch und erfüllte die ganze Küche mit ihren Freudenrufen: »Na so was! So einen wollte ich immer schon haben. Wirklich, Mr. Richard, immer schon! Wenn ich mir vorstelle, daß Ihre Mutter den für mich gestrickt hat!«

»Äh, nein, diesen hat sie nicht selbst gestrickt, sie hat ihn in Auftrag gegeben, und ich mußte Ihre ungefähre … Oberweite angeben.«

Meg schob die Hände unter ihre ausladenden Brüste und hob sie hoch. »Sie sind ein fixer Junge, daß Sie das geschafft haben; dabei mußten Sie noch doppelt raten, denn wenn ich die Dinger in mein Mieder stecke, können Sie noch mal drei Zoll dazurechnen.«

Alle lachten, während nun auch Lizzie ihr Paket öffnete. Eine weiche Angorajacke kam zum Vorschein. »O Richard«, rief Lizzie, »sie ist wundervoll ‒ so weich. Was soll ich nur sagen? Ich muß nachher unbedingt Ihre Mutter anrufen. Hat sie die gestrickt? Ich weiß, daß sie gelegentlich strickt.«

»Ja, die hat sie selber gestrickt, und ich weiß, daß sie Freude daran hatte. Aber, wie geht es Ihnen?«

Meg antwortete für Lizzie, die die Jacke vorsichtig wieder in das Papier einwickelte: »Das kann sie Ihnen im Wohnzimmer erzählen; dort steht schon seit über einer halben Stunde der Tee bereit. Was hat Sie aufgehalten?«

Richard gab bereitwillig Auskunft. »Ihr Busfahrer wußte nicht, daß ich komme, und ist ohne mich losgefahren. Ich mußte von Füllers Kreuzung zu Fuß gehen.«

»Nun, dann wird Ihnen eine Tasse Tee guttun. Gehen Sie vor, ich hole den Tee.«

Als Lizzie und Richard die Küche verließen, fragte er: »Ist Geoff zu Hause?«

Lizzie zögerte einen Augenblick. »Nein; er … er ist nach Durham zum Einkaufen gefahren. Er kann jeden Moment zurückkommen.«

Im Wohnzimmer setzten sie sich einander gegenüber und sahen sich an. Beide fingen gleichzeitig zu sprechen an und lachten. Sanft sagte Richard: »Sie zuerst.«

Lizzie sah ihn zärtlich an und sagte: »Ihr Auge ‒ das haben sie wundervoll hingekriegt, und auch Ihre Lippe.«

Richard schüttelt leicht den Kopf. »Von wundervoll weiß ich nichts, aber es ist etwas besser als zuvor.«

»Etwas besser! Es ist wunderbar! Hat es sehr weh getan?«

»Nein, diesmal nicht so sehr. Während der Transplantation sticht es ein wenig. Es ist merkwürdig, wissen Sie, am meisten schmerzt es nicht da, wo sie Haut hinpflanzen, sondern dort, wo sie sie wegnehmen.«

Lizzie blickte zu Boden und fragte: »Richard, ich habe Sie nie gefragt, ob Sie noch andere Verwundungen haben ‒ außer im Gesicht.«

Zögernd antwortete er: »Ja. Auf dieser Seite bis zur Hüfte. Seltsamerweise blieb mein Hals unverletzt.«

»Ihre Mutter wird sich gefreut haben.« Lizzie lächelte ihn jetzt breit an, und Richard nickte ihr zu. »Ja, sie sind beide ganz aus dem Häuschen. Allerdings« ‒ seine Stimme wurde wieder mutlos ‒ »mehr, außer dem Aufbau der Unterlippe, kann nicht getan werden. Die Haut wird immer so bleiben, höchstens ein wenig verwittern.«

»Aber das fällt doch kaum auf«, sagte Lizzie. Sie sahen sich schweigend an, dann seufzte Richard: »Sie lügen so wunderschön, Lizzie.«

»Ich lüge nicht«, beteuerte Lizzie mit hoher Stimme.

»Nun gut, Sie lügen nicht, Sie sind nur freundlich, wie immer. Aber sprechen wir nicht mehr von mir. Wie geht es Ihnen?«

Lizzie schnitt eine Grimasse. »Gut, aber ab und zu fühle ich mich erschöpft. Trotzdem vergeht die Zeit so schnell.«

»Meine Mutter hat mich beauftragt, Sie etwas zu fragen«, sagte Richard, »obwohl ich meinte, daß es eine dumme Frage ist: Sie wollte wissen, ob Sie nicht zu uns kommen und dort Ihr Baby bekommen wollen. Ich habe zu ihr gesagt: ›Das ist nicht, was Lizzie möchte, sondern was du möchtest, nicht wahr?‹«

»Aber es ist sehr nett von ihr. Sagen Sie ihr, daß ich ihr danke. Unter anderen Umständen wäre es eine hübsche Idee gewesen, aber … nun, Geoff scheint schon alles arrangiert zu haben. Er ist schlimmer als Meg.« Ja, so konnte sie es ihm beibringen, das war jetzt die beste Gelegenheit. Also fuhr sie fort: »Er hat schon alles geplant. Er hat das Gästezimmer in ein Kinderzimmer umgewandelt und sein Kinderbett vom Dachboden heruntergebracht, wo seine Mutter es all die Jahre aufbewahrt hatte. Er hat das Zimmer mit Megs Hilfe tapeziert und ausgemalt.«

»Ist sein Arm immer noch nicht besser geworden?«

»Doch, es geht bergauf, obwohl er sicher nie wieder wie früher wird.«

Richards nächste Worte enthoben sie der Mühe, ihm die Neuigkeit schonend beizubringen.

»Werden Sie Geoff heiraten, Lizzie?«

Die Direktheit seiner Frage machte Lizzie sprachlos; sie blinzelte mit den Augen und bewegte stumm die Lippen. Doch für den Moment blieb ihr die Antwort erspart, denn Meg schubste die Tür mit einem Schwung ihres Hinterteils auf und betrat das Wohnzimmer mit einem beladenen Tablett. »Soll ich den Weihnachtskuchen anschneiden, Lizzie?« fragte sie.

»Nein«, antwortete Richard schnell, »nicht für mich. Ich bin nicht so fürs Süße. Aber ich sehe, daß Sie auch meine Lieblings-Scones auf dem Tablett haben. Damit bin ich ganz zufrieden.«

Meg stellte das Tablett auf den Tisch. »John ist gerade hereingekommen«, sagte sie. »Er ißt in der Küche eine Kleinigkeit. Er ist halb erfroren, aber er will wieder hinausgehen, weil er fürchtet, daß diese Gauner alle Moorhühner fangen. Ich sagte: ›Laß sie doch.‹ Ich sagte: ›Ist nicht bis ersten Dezember Jagdsaison? Kann sich bis dahin nicht jeder nehmen, was er will?‹ Da hat er gelächelt, wirklich gelächelt. Das will was heißen. Trotzdem, es sind hinterhältige Gauner, diese Moorhuhn-Wilderer. Wahrscheinlich sind es Jungs aus dem Lager, und wer kann es ihnen verübeln, he? Und sie würden auch nicht damit aufhören, denn genau wie ich würde es kaum einer verstehen, wenn so ein Vogel zu ihm sagt: Ätsch, heute ist der zweite Dezember, und du darfst mir nichts tun!«

Richard schlug die Hände zusammen. »O Meg! Wie geht’s denn den Enten?«

»Ach, die streiken, Mr. Richard. Die idiotischen Farmer haben sie alle eingesperrt, aber ab und zu entkommt eine, und ich finde ein verirrtes Ei.« Sie beugte sich zu Richard hinüber. »Eines Nachts werde ich verrücktspielen und sämtliche Stacheldrähte kappen.«

»Tun Sie das, Meg. Und«, Richards Stimme sank zu einem Flüstern herab, »lassen Sie es mich wissen, wenn es soweit ist; dann komme ich und helfe mit.«

»Das mach’ ich. Ganz bestimmt; ich verspreche es«, wisperte Meg zurück. Dann ging sie lachend hinaus.

Lizzie goß den Tee in die Tasse und bot Richard den Teller mit Scones an. Er trank etwas Tee und biß von seinem Scone ab, ehe er sagte: »Sie hatten keine Gelegenheit, meine Frage zu beantworten, Lizzie.«

Lizzie brachte es nicht über sich, mit einem schlichten ›Ja‹ zu antworten. »Ich fragte, ob Sie Geoff heiraten werden?« wiederholte Richard.

Endlich antwortete sie. »Ich … ich weiß es nicht. Wahrscheinlich tue ich es.«

Richard biß wieder von seinem Scone ab und nippte an seinem Tee. »Das wäre vernünftig«, bemerkte er.

»Ja«, stimmte Lizzie bei und fügte sofort hinzu: »Ich muß auch an das Kind denken; Geoff könnte ihm seinen Namen geben.«

»O Lizzie, Lizzie!« Richard setzte klirrend die Tasse ab, die er eben zum Mund führen wollte. »Heiraten Sie nicht nur aus diesem Grund. Das… das mit den Namen ist nicht mehr so wichtig heutzutage. Bitte heiraten Sie nicht deswegen. Wenn… wenn Sie ihn gern haben, dann ja. Ich weiß, daß Sie immer noch an Andrew denken und daß Sie noch viel Zeit brauchen. Bitte, Lizzie, lassen Sie mich als ein Freund zu Ihnen sprechen, dem Sie sehr teuer sind: Heiraten Sie nicht, um dem Kind einen Namen zu geben. Sehen Sie mich an!«

Sie schaute ihn an und er sagte: »Versprechen Sie mir das?«

Nach kurzem Zögern murmelte sie: »Ja, in Ordnung, Richard. Ich verspreche es.«

Seine nächsten Worte jedoch überraschten sie, denn er sagte fast dasselbe wie Geoff. »Wir müssen davon ausgehen, Lizzie, daß einiges sich ändern wird, wenn Sie heiraten. Die meisten Männer, besonders solche mit einem Charakter wie Geoff, würden eine Freundschaft wie die unsere nicht gutheißen. Das verstehen Sie doch? Vielleicht haben Sie selbst schon darüber nachgedacht. Ich … ich bin sicher, Geoff hat es getan.«

»O Richard.« Lizzie schaute weg.

»Bitte, regen Sie sich nicht auf; ich benutze nur meinen gesunden Menschenverstand ‒ wenigstens dieses eine Mal. Wir alle haben unsere Träume und Fantasien, aber wenn das Leben sein Recht verlangt, müssen wir sie beiseite stellen und den Tatsachen ins Auge blicken. O Lizzie, Sie weinen doch nicht?« Er beugte sich zu ihr hinüber. »Ach, du liebe Güte.« Richard verließ seinen Platz, setzte sich neben Lizzie und nahm ihre Hand. »Ich wollte Sie auf keinen Fall betrüben, das wissen Sie, aber ich dachte, es wäre besser … nun, daß wir offen über alles sprechen. Bitte weinen Sie nicht.«

Lizzie legte impulsiv ihren Kopf an seine Schulter, und als er seine Arme um sie legte, schluchzte sie: »O Richard, es tut mir so leid.«

Richard strich sanft über ihr Haar und meinte: »Was ist es denn, was Ihnen leid tun könnte?«

Just in diesem Augenblick ging die Tür auf und Geoffrey marschierte herein. Lizzie hob ihren Kopf schnell von Richards Schulter. Beide sahen Geoff an, und als sie sich aus Richards Armen lösen wollte, hielt er sie noch einen Moment lang fest, bevor er sie losließ. Dann erhob er sich langsam und blickte in das finstere Gesicht des Mannes, der vor ihm stand. Ruhig sagte er: »Sie hat sich aufgeregt. Sie hat über Andrew gesprochen, und da hat sie natürlich zu weinen begonnen.«

Lizzie stand mit hängendem Kopf von der Couch auf, murmelte eine Entschuldigung und ging hastig aus dem Zimmer. Zurück blieben die beiden Männer, die einander anstarrten.

Geoff zwang sich zum Sprechen, wobei seine Stimme unverhohlen feindselig klang: »Ich werde sie heiraten.«

»O ja, ja, das ist mir klar.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich besitze eine gute Beobachtungsgabe.«

Geoff war aufgebracht über Richards überlegenen Ton. Er fühlte sich wieder als der kleine Korporal oder Sergeant, der vor seinem Offizier Rechenschaft ablegt; und diese Offiziere meinten doch immer, alles besser zu wissen. Immer vorneweg. Er wartete ab, während Richard ruhig seinen Tee austrank, die Tasse auf den Tisch zurückstellte und sich verabschiedete: »Nun, ich muß jetzt gehen. Die Omnibusse hier sind ziemlich unzuverlässig, wissen Sie. Auf Wiedersehen.« Damit ging er aus dem Zimmer ‒ der Rücken gerade, der Schritt fest, jeder Zoll ein Offizier.

Geoff knirschte mit den Zähnen. Er hatte den Kerl nie leiden können. Er hatte ihn schon nicht gemocht, als er ihn noch gar nicht kannte. Schon beim Klang dieses Namens sträubten sich ihm die Nackenhaare: Captain Richard Boneford. Wenn der Kerl nicht aussehen würde wie ein verdammtes Monster, wäre Lizzie möglicherweise sogar auf ihn hereingefallen! Wie dem auch sei, er mußte diese Angelegenheit baldigst regeln. Sobald Weihnachten vorüber war, wollte er ihr einen Antrag machen. Und sobald das Kind geboren war, oder sogar noch davor, sollte die Hochzeit sein, und das Kind würde seinen Namen bekommen. Aber warum mit dem Antrag überhaupt bis nach Weihnachten warten? Nun, wenn er Lizzie jetzt fragte, wäre die Antwort möglicherweise ungewiß, denn er konnte sehen, daß sie mächtig aufgeregt war. Nein, er würde sie am Silvesterabend fragen. Jawohl, und dann könnten sie am Neujahrstag ein neues Leben beginnen.

Viel später sollte er sich fragen, ob der Ablauf eines Menschenlebens wohl von Anfang an festgelegt sei, denn warum sonst hatte er seinen Antrag auf Neujahr verschoben?