Kapitel 2

Am Nachmittag des Silvestertages fuhr Geoff nach Durham. Beim Juwelier drängten sich viele Kunden. Es schien genügend Geld in Umlauf zu sein, und die Menschen gaben es für Dinge aus, deren Kauf sie sich vor einigen Jahren mehr als zweimal überlegt hätten.

Die Verkäuferin fragte Geoff: »Welche Ringgröße soll es sein, Sir?« Er streckte ihr seinen kleinen Finger hin. »Ihr Ringfinger hat ungefähr die gleiche Größe.«

»Das täuscht oft, Sir, aber das ist kein Problem, die Dame kann den Ring Umtauschen oder ändern lassen.«

Als er das Schmuckgeschäft verließ, trug er einen Ring in der Tasche, der ihn fünfundzwanzig Pfund gekostet hatte. Da der nächste Bus erst in eineinhalb Stunden fuhr, beschloß er, sich einen Drink zu genehmigen.

Geoff ließ sich nicht oft in den Bars und Kneipen der Stadt sehen und kannte daher auch keine, die er bevorzugt hätte. Also ging er in die nächstbeste Bar. Es war gerade sechs Uhr, und, wer weiß, vielleicht konnte er einen Whisky ergattern. Er hatte das Gefühl, etwas zum Aufwärmen vertragen zu können.

Der Raum kam ihm hell erleuchtet vor, als er von der trüb-grauen Straße hereinkam. Er blieb einen Moment in der Tür stehen und kniff geblendet die Augen zu. Am entfernten Ende der Bar drängte sich eine Menge Leute vor einer Theke, andere saßen an Tischen. Direkt vor ihm befand sich eine weitere Theke, die ebenso von Gästen umlagert war; doch seitlich davon ging ein kurzer Gang ab, der zu einer Gaststube führte. Diesen Gang wollte er eben betreten, als eine Frau in Begleitung zweier Korporale herauskam. Geoff bemerkte sofort, daß die Frau mit den beiden stritt, denn als der eine sie lachend am Arm faßte, entwand sie sich seinem Griff. Und als er ihre Stimme sagen hörte: »So war das nicht gemeint! Sie machen sich ganz falsche Vorstellungen!« war ihm zumute, als hätte er einen leichten elektrischen Schlag erhalten. Dann sah die Frau ihm direkt ins Gesicht; sie erkannte ihn aber erst, als sie höchstens sechs Fuß von ihm entfernt war. Sie hielt kurz inne, dann eilte sie auf ihn zu und rief laut: »Da bist du ja! Du bist spät dran!«

Die zwei Soldaten blieben stehen und starrten den Offizier an. Der eine machte ihm Platz und sagte grinsend: »Unser Fehler, Miß, unser Fehler!« Der andere jedoch schien nicht nachgeben zu wollen und blieb stehen, bis Geoff ihn anredete: »Brauchen Sie noch weitere Erklärungen, Korporal?«

Der Klang seiner Stimme und sein ganzes Benehmen blieben nicht ohne Eindruck auf den Soldaten. Er murmelte etwas, salutierte widerstrebend und gesellte sich dann zu seinem Kameraden an die Theke.

Geoff sah die Frau an und fragte ruhig, aber sarkastisch: »Wie soll es jetzt weitergehen, Mrs. Boneford?«

Mit gesenktem Kopf murmelte Janis: »Ich möchte weg von hier.« Geoff öffnete ihr die Tür und ließ sie an sich Vorbeigehen, hinaus in die Dunkelheit. Nach kurzem Überlegen folgte er ihr.

Als sie Seite an Seite in der Finsternis standen, bemerkte Geoff: »Mindestens einer von beiden schien zu glauben, du hättest ihm Versprechungen gemacht.«

»Ich habe ihm keine Versprechungen gemacht.« Janis’ Stimme klang gepreßt, als würde sie zwischen den Zähnen hindurch sprechen. Sie ging jetzt die Straße entlang, begleitet von Geoff, und fuhr fort: »Die zwei sind lästig. Die hängen schon eine ganze Weile hier rum.«

»Arbeitest du dort?« fragte Geoff. Die Überraschung war aus seiner Stimme herauszuhören.

»Was ist so seltsam daran?«

»Nichts! Nur daß ich mir nie vorstellen konnte, daß du in einer Bar bedienen würdest!«

»Ich bin nicht an der Bar. Dahinter liegt noch eine Kantine.«

Sie gingen einige Sekunden schweigend nebeneinander her, bis Geoff lachend sagte: »Jedenfalls, hallo! Lang nicht gesehn, gleich wiedererkannt!«

Janis ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Ich habe dich einige Male in der Stadt gesehen.«

Wieder waren sie still, bis Geoff fragte: »Gehst du zum Bus, oder hast du ein Auto oder sogar ein Pferd irgendwo stehen?«

»Weder das eine noch das andere. Ich wohne jetzt in der Stadt.«

Richard konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Ach! Hast du noch einen weiten Weg?«

»Nein, ich bin schon so gut wie da.« Der schwache Lichtkegel ihrer abgeblendeten Taschenlampe, der vor ihnen hergewandert war, spielte jetzt über eine Zeile von Reihenhäusern, deren Türen, jeweils zu zweien angeordnet, nur durch wenige Meter Mauer und ein Fenster voneinander entfernt waren.

Sollte das heißen, dachte Geoff, daß sie in einem dieser Häuschen wohnte, die in Erd- und Obergeschoß nur je zwei Zimmer hatten?

Janis blieb so plötzlich stehen, daß er einen Schritt zurückgehen mußte. Er knipste seine Taschenlampe an und leuchtete ihr ins Gesicht. »Wohnst du hier?« fragte er.

»Ja, ich wohne hier«, gab sie kampflustig zurück.

Geoff enthielt sich jedoch jeden Kommentars und fragte auch nicht, ob sie allein wohnte. »Na dann, frohe Weihnachten«, sagte er nur.

»Dir auch«, erwiderte Janis. Sie öffnete ihre Handtasche und fummelte nach ihrem Schlüssel. Als sie ihn gefunden hatte und in das Schloß steckte, leuchtete Geoff ihr. Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Möchtest du hereinkommen?« fragte sie.

Ihre Stimme klang nüchtern, sie enthielt keinerlei unterschwellige Einladung. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis Geoff antwortete. »Nun ja, gerne. Es dauert noch über eine Stunde, bis der Bus fährt.«

Sie waren beide sehr höflich.

Drinnen wurde ihm bewußt, wie nahe er ihr in der Dunkelheit sein mußte. »Beweg dich nicht, bis ich das Licht angemacht habe«, wies sie ihn an, »sonst fällst du über das Fahrrad.«

Das schwache elektrische Licht zeigte einen schmalen Gang, der von einem Fahrrad fast zur Gänze ausgefüllt wurde. Geoff folgte Janis und quetschte sich an dem Rad vorbei. Janis knipste eine weitere Lampe an und forderte ihn auf: »Komm herein.« Er folgte und befand sich in einem Raum, der offensichtlich eine Art Wohnzimmer mit Eßplatz darstellte. Sprachlos sah er sich um. »Setz dich!« sagte Janis. »Ich werde den Ofen anzünden.«

Geoff ging um den Tisch, an dem Janis offensichtlich immer ihre Mahlzeiten einnahm, denn eine weiße Spitzendecke war darüber gebreitet, auf der eine kleine Menage stand.

Als die Gasflamme sich entzündete, richtete Janis sich auf, legte Hut und Mantel ab und warf sie auf einen Stuhl. Dann sah sie Geoff an und sagte: »Nimm doch für eine Minute den Mantel ab. Du frierst dann nicht so, wenn du wieder draußen bist.«

Mühsam, da sein linker Arm ihn behinderte, schälte Geoffrey sich aus dem Mantel und reichte ihn ihr zusammen mit seinem Hut.

Als sie einander gegenüberstanden und sich ansahen, bemerkten beide die Förmlichkeit der Situation. »Möchtest du etwas trinken?« fragte Janis mit hoher Stimme, als wolle sie gleich zu lachen anfangen. Diese Stimme war für Geoff im Augenblick das Vertrauteste an ihr, denn im Lampenlicht, ohne den breitkrempigen Hut und den hochgeschlagenen Kragen, sah sie weitaus älter aus als das Mädchen, das er einst gekannt hatte; ja, sogar älter als die Frau, die ihm die Nachricht vom Tod ihres Bruders überbracht hatte. Sie war jetzt viel schmaler. Er überlegte, wie alt sie jetzt wohl wäre, und kam zu dem Schluß, daß sie ungefähr sechsundzwanzig sein müßte. Geoff stellte bei sich fest, daß er sechsunddreißigjährige Frauen gesehen hatte, die jünger wirkten als Janis.

»Möchtest du einen Drink?« wiederholte sie ihre Frage.

»Kommt darauf an, was du anzubieten hast«, antwortete er.

Janis ging zu einer hölzernen Anrichte neben dem Ofen und öffnete sie. Geoffrey bemerkte, daß drei Flaschen im obersten Fach standen: zwei mit Bier und eine mit Wein.

Janis drehte sich zu ihm um. »Du kannst Bier oder Sherry haben ‒ oder Tee.«

Er wußte, wie schwierig es war, Flaschenbier zu bekommen; man mußte lange dafür anstehen. Was Sherry betraf, so hatte er dafür nie eine besondere Vorliebe gehabt. Daher antwortete er mit einem Anflug seines früheren Humors: »Seit ich der Heilsarmee beigetreten bin, trinke ich nur noch Tee.«

Janis lächelte nicht, sondern warf ihm nur einen schnellen Blick zu und ging in die Küche.

Geoffrey blickte sich im Zimmer um. Da stand eine chintzbezogene Couch, an deren einem Ende sich schon die Sprungfedern durchdrückten, und zwei Sessel, die nicht zusammenpaßten. Ferner gab es drei einzelne Stühle und eine Porzellanvitrine, die statt eines vierten Beines einen Holzklotz untergeschoben hatte. Es war schwer zu glauben, daß Janis so lebte. Es war zwar alles ordentlich und sauber, doch er konnte sich vorstellen, daß in ihrem Elternhaus sogar die Dienerschaft ob solcher Möbel die Nase gerümpft hätte. Und dann das Haus selbst ‒ pure Arbeiterklasse! Wie mußte sich jemand hier fühlen, der mit einem silbernen Löffel im Mund geboren wurde?

»Nimmst du Zucker?« rief Janis aus der Küche. »Nein, danke«, antwortete Geoff. Einige Minuten später kam sie wieder ins Zimmer, in den Händen ein kleines Tablett mit Tassen und Untertassen. »Stehst du immer noch? Du mußt nichts extra zahlen, wenn du dich hinsetzt.«

Er wartete, bis sie das Tablett auf den Tisch gestellt und sich auf einen der Stühle gesetzt hatte. Dann setzte auch er sich nieder und nahm Tasse und Untertasse entgegen, die sie ihm reichte. »Danke«, sagte er.

Sie tranken schweigend, bis Geoffrey mit einem schiefen Lächeln bemerkte: »Ist es nicht merkwürdig, was so alles passiert?« Sie schauten sich eine Weile an, dann begann Janis mit dem Löffel in ihrer Tasse zu rühren. »Ich wundere mich über nichts mehr. Ich glaube, in diesem Krieg wundert sich niemand mehr über irgendwas. Wer zum Beispiel hätte je gedacht, daß Janis Bradford-Brown ‒ oder Mrs. Boneford ‒ nicht mit zwei dickköpfigen Soldaten fertig würde. Aber«, sie lächelte, »ich gebe zu, daß ich dabei war, die Nerven zu verlieren. Weißt du, das war schon das dritte Mal in dieser Woche. Mit einem wäre ich wohl fertig geworden, aber zwei waren zuviel.« Ihr Lächeln erlosch, als wäre es nie dagewesen, und ihre Gesichtsmuskeln spannten sich, als sie fortfuhr. »Alle haben jetzt so großzügige Ansichten, außer, wenn man geschieden ist. Nein, ich beklage mich nicht, zumindest nicht über Richard, der sich geweigert hat, den Gentleman zu spielen und die Schuld auf sich zu nehmen. Aber es ist unerträglich, wie manche Männer sich einer geschiedenen Frau gegenüber aufführen. Wenn man verheiratet ist, kann man ruhig einige Liebschaften nebenher haben. Solange man es diplomatisch anfängt, stehen einem trotzdem alle Türen offen; aber wenn man nachlässig ist und erwischt wird, dann Gnade dir Gott!«

Geoff sah sie nur schweigend an. Das ist es, dachte er, was sie so altern ließ: Es ist die Bitterkeit, die tief in ihr sitzt.

»Aber genug von mir gesprochen; wie geht es dir? Dich hat’s am Bein und am Arm erwischt, nicht wahr?«

»Ach, wie du siehst, geht es mir gut. Es ist beides nicht so schlimm. Ich habe immer Glück gehabt.«

»Ja«, gab sie mit ruhiger Stimme zurück. »Das hast du wohl. Du warst fest entschlossen, aufzusteigen, nicht wahr? Ich habe dich falsch eingeschätzt damals, die ganze Zeit. Ich konnte dich mir nie als Offizier vorstellen.«

Grimmig antwortete Geoff: »Das war ein Fehler in deiner Wahrnehmung.« Noch während er sprach, kam ihm ein anderes Wort in den Sinn: ordinär.

»Ich hörte, daß du heiraten wirst.«

»Was!« Geoffs Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Wer hat das gesagt?«

»Na ja, es wird darüber geredet; vielleicht hat es die Evakuierte erzählt, die bei euch wohnt. Ich hab’s einfach irgendwo gehört, ich glaube, von Florrie Rice, die immer noch bei meinen Eltern in der Küche arbeitet.«

»Nun, ich glaube, da hast du das Falsche gehört; ich meine …« Er beendete den Satz nicht.

»Was heißt das? Wirst du nun heiraten oder nicht? Das solltest du doch wissen!«

»Ich habe nie so etwas gesagt, und Lizzie auch nicht.«

»Aber du wirst sie doch heiraten?« fragte Janis langsam. Geoff ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Das hatte ich eigentlich vor. Wie du weißt, bekommt sie ein Kind.«

»O ja, das weiß ich.«

»Und du wirst die Tante des Kindes sein, und deine Eltern die Großeltern. Was halten sie davon?«

»Nun«, sie schüttelte den Kopf und rührte in ihrem kaltgewordenen Tee, »das möchte ich dir lieber nicht erzählen.«

»Wahrscheinlich war es ihnen doch gleichgültig, was Andrew tat, nachdem sie ihn hinausgeworfen haben.«

»Ja, in gewisser Weise schon. Aber sie dachten, der Rauswurf würde ihn zur Vernunft bringen; als er jedoch umkam … nun, daran sind sie zerbrochen. Das mit mir war schon schlimm genug, aber Andrews Tod hat ihnen den Rest gegeben. Das ist der einzige Grund, warum ich sie an den Wochenenden noch besuche.«

»Du hast also auch das Weite gesucht?«

»O ja. Andrews Tod brachte ihnen das Mitgefühl vieler Leute ein, auch solcher, die über den Bruch Bescheid wußten; aber was ich getan habe … du lieber Gott!« Sie lächelte traurig und fuhr fort: »Ich brauche dir nicht zu sagen, Geoff, daß ich nicht zur Märtyrerin tauge. Wenn Richard etwas anderes zugestoßen wäre, ich … ich hätte es ausgehalten. Wenn er beide Beine oder Arme verloren hätte oder gelähmt wäre für den Rest seines Lebens, ich … ich hätte es ausgehalten, jawohl.« Ihr Kopf nickte in kleinen Bewegungen auf und ab. »Aber sein Gesicht ‒ ich habe es versucht, wirklich versucht, aber ich brachte es nicht über mich, ihn auch nur anzuschauen. Für ihn war es furchtbar, denn ich weiß, daß er unter seiner Haut derselbe geblieben ist … nun, es liegt mir nicht, allzusehr in die Tiefe zu gehen. Jedenfalls, ich bekam meinen Marschbefehl, aber jetzt sind meine Eltern froh, mich wieder unter ihren Fittichen zu haben. Sie wollten sogar, daß ich für immer nach Hause komme. Aber nicht mit mir! Wenn man dem Stall einmal entronnen ist, reicht es, die Stalltüre von der Feme zu betrachten. Trotzdem besuche ich sie an den Wochenenden.«

Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Dabei fällt mir ein, daß Vater mich um acht abholen wollte. Ich verbringe die Feiertage zu Hause, obwohl ich jetzt schon weiß, daß es kein fröhliches Weihnachten wird. Ich wäre lieber in der Kantine, obwohl es mir dort manchmal auch nicht gefällt.«

»Ich dachte, du wärst in der Bürgerwehr?«

»Das war ich auch. Aber anscheinend ist mit meinen Augen irgend etwas nicht in Ordnung.« Sie preßte die Hände gegen die Schläfen. »Ich sollte ständig eine Brille tragen, aber ich nehme sie nur zum Lesen … Möchtest du noch eine Tasse Tee?«

»Ja, gerne.« Geoff wollte ihr seine Tasse reichen, als es an der Tür klingelte. Janis blickte wieder auf ihre Uhr und murmelte entschuldigend: »Das könnte Vater sein.«

Geoff erhob sich. »Aber es ist noch nicht einmal halb acht. Könnte es ein Freund von dir sein?«

»Nein. Ich … ich habe nur wenige Freunde, und die würde ich nicht hierher einladen.«

»Oh.« Er hob die Augenbrauen, worauf sie hinzufügte: »Du … du weißt, was ich meine. Sag, Geoff«, sie sprach seinen Namen zum ersten Mal aus, »würde es dir etwas ausmachen, die Hintertür zu nehmen?«

»Warum?«

Janis wurde ungeduldig. »Das brauchst gerade du nicht zu fragen. Du weißt genau, daß die Hölle los wäre, wenn er dich hier fände … dein Name … alles, was mit eurem Haus zu tun hat, bringt ihn zur Weißglut. Er hätte auch deinen Vater schon lang hinausgeworfen, wenn er ihn nicht so dringend brauchte. Er hat kaum noch Arbeitskräfte auf dem Gut. Bitte! Bitte!«

Die Klingel wurde wieder mit Nachdruck betätigt. Janis nahm Geoff an der Hand und zog ihn in die Küche. »Die Hintertür führt auf die Gasse.«

»Laß mich wenigstens meine Sachen anziehen.«

Janis warf ihm Hut und Mantel zu und schob ihn zur Tür. »Ein andermal, Geoff, ein andermal. Bitte!«

Er stand schon draußen im Dunkeln und zog seinen Mantel an, als er Janis’ Stimme hörte: »Ich war im Badezimmer, darum hat es so lange gedauert.«

Er leuchtete mit der Taschenlampe vor sich her und fand den Weg über den Hinterhof. Das Tor zur Straße war verriegelt. Er öffnete es lautlos, wie bei einer Übung, und trat auf die Gasse.

Erst als er wieder auf der vorderen Straße war und in Richtung Stadtmitte ging, bemerkte er, daß das leise Lachen, das er von sich gab, in ein hysterisches Gelächter überzugehen drohte. Es hatte Männer im Lazarett gegeben, bei denen es mitten in der Nacht so anfing: erst ein leises Kichern, dann ein schrilles Gelächter. Meistens waren es die ohne Beine; die schrien dann immer, sie würden jetzt aufstehen und rausgehen.

O nein, ihm würde das nicht passieren, er war draußen und wollte nicht mehr zurück. Und er wollte auch die Zeit nicht wieder auferstehen lassen, in der er jede Minute seines Lebens für sie gelebt hatte. Nie wieder würde er ein solches Gefühl zulassen. Außerdem sah Janis dem Mädchen, das er gekannt hatte, kaum mehr ähnlich. Sie war jetzt eine Frau, und sie sah bei weitem nicht mehr so gut aus wie damals. Und sie hatte ihre Erfahrungen gesammelt. Das Mädchen, an das er sich erinnerte, hatte nur ihm gehört. Sie war jungfräulich, als sie sich ihm hingab, genau wie er. Sie waren beide jung, ungeschickt und unschuldig gewesen.

Auf der Brücke blieb Geoff stehen und schaute in das stahlgraue Wasser, auf dem sich hie und da ein Stern spiegelte. Warum, so fragte er sich, war nichts passiert, obwohl sie beide nicht aufgepaßt hatten? Aufgepaßt, du lieber Gott! Sie hatten nichts über Verhütung gewußt; hieß das, daß sie beide nicht in der Lage waren, ein Kind zu zeugen oder zu empfangen?

Sein Gedankengang führte ihn weiter zu Lizzie, und er faßte in seine von dem Schmuckschächtelchen ausgebeulte Manteltasche. Was sollte er jetzt damit anfangen? Was nur? Die Frage stand fordernd vor ihm. Nun, es hatte sich doch nichts geändert, oder?

Das klang ziemlich albern … nichts hat sich geändert, oder doch? Da war Janis, um Jahre gealtert, als hätte sie ein ziemlich leichtfertiges Leben gelebt. Dieser Meinung waren sicher auch andere. Und doch ‒ sie übte auf ihn immer noch die gleiche körperliche Anziehungskraft aus wie früher.

Er bahnte sich einen Weg durch taschenlampenbewaffnete Menschen. Erst später im Bus fragte er sich wiederum, was er mm anfangen sollte. Er beschloß, abzuwarten. Schließlich hatte er sich Lizzie gegenüber in keiner Weise kompromittiert.

Oder doch? Er hatte ihr zwar noch keinen Antrag gemacht, doch seine Taten sprachen für sich. Nun, eigentlich doch nicht: Ein Bruder hätte genauso gehandelt, und in ihrer mißlichen Lage brauchte sie jemanden, der sich um sie kümmerte wie ein Bruder. Er würde abwarten, aus welcher Richtung der Wind wehte. Genau das würde er tun: Zeit gewinnen. Denn in solchen Zeiten, wie jetzt im Krieg, konnte man seinen Gefühlen nicht so leicht trauen.

… Um Gottes willen! Was war über ihn gekommen? War er tatsächlich so verrückt zu glauben, er könne die letzten sechs Jahre ungeschehen machen und wieder anfangen, wo er aufgehört hatte? Und wenn auch ‒ da war immer noch Lizzie, und er hatte sie gern, mehr als gern. Und außer ihrem einen Fehltritt war sie rein, jawohl, rein, während Janis …